Redebeitrag zur Diskussionsveranstaltung "Deutschland ohne Atomwaffen – jetzt erst recht?" mit den Bürgermeistern Dirk Gene Hagelstein (Neu-Isenburg) und Martin Burlon (Dreieich), beide Mayors for Peace, am Flaggentag (8. Juli) 2024, in Neu-Isenburg

 

Auf Messers Schneide

Wie gehen wir mit der wachsenden Gefahr durch Atomwaffen um?

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

UN-Generalsekretär António Guterres warnte im März vor dem UN-Sicherheitsrat: „Atomwaffen sind die Waffen mit der höchsten Zerstörungskraft, die je erfunden wurden; sie haben das Potential, alles Leben auf der Erde zu vernichten. […] Für einen versehentlichen Einsatz braucht es nur einen Fehler, eine Misskalkulation, eine unüberlegte Handlung. […] Die Weltuntergangsuhr tickt laut genug, dass wir alle sie hören.“1

Anfang Juni wiederholte er seine Warnung: „Die Menschheit steht auf Messers Schneide; das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes ist höher als je seit dem Kalten Krieg.“ Er zog daraus den klaren Schluss: „Wir brauchen Abrüstung, jetzt.“2

Steigende Gefahr

Die Warnung des UN-Generalsekretärs kommt nicht von ungefähr. Die Weltuntergangsuhr tickt in der Tat – sie steht aktuell auf 90 Sekunden vor 12, so nahe wie noch nie in der Geschichte der Atomwaffen.

Ich will nachfolgend einige besonders relevante Faktoren benennen, warum die Gefahr durch Atomwaffen heute so groß ist.

  • Zahlen: Vor Kurzem veröffentlichte das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI die neuesten Zahlen und Einschätzungen zum Stand der Atomrüstung.3 Alle neun Atomwaffenstaaten rüsten auf; sie erhöhen also entweder die Zahl ihrer Atomsprengköpfe und Trägersysteme oder sie führen Programme zur qualitativen Optimierung durch. SIPRI zählte mehr als 12.100 Atomsprengköpfe, von denen etwa 3.900 einsetzbar sind; ca. 2.100 werden in höchster Alarmbereitschaft gehalten.
    Fast alle dieser Waffen sind deutlich größer als die Bomben, die vor knapp 79 Jahren über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Die Bombe des Typs B61-3/4 z.B. – das ist die von den USA auf dem deutschen Fliegerhorst Büchel stationierte Wasserstoffbombe – hat bis zu 170 Kilotonnen Sprengkraft. Sie gilt landläufig als »eher kleine« taktische Atomwaffe. Doch was heißt das konkret?
  • Folgen: Würde eine dieser Bombe über Neu-Isenburg gezündet, wären knapp 40.000 Menschen sofort tot und etwa 230.000 würden verletzt. Die Druckwelle würde bis Dreieich größere Zerstörungen anrichten; die Hitze könnte selbst in Sachsenhausen noch zu Verbrennungen dritten Grades führen. Bei den hier vorherrschenden Winden aus Südwest würde die Strahlenwolke über Offenbach und Fulda bis nach Thüringen ziehen.4
  • Begrenzter Atomkrieg: Ein so genannter »begrenzter« Atomkrieg mit solchen Waffen hätten global fatale Folgen. Forscher simulierten einen Krieg zwischen Indien und Pakistan, in dem jede Seite 50 Atomwaffen einsetzt.5 20 Millionen Menschen wären direkt von den Folgen betroffen. Außerdem würde durch die Feuerstürme so viel Rauch, Ruß und Dreck hoch in die Atmosphäre und rund um den Erdball transportiert, dass es etwa zehn Jahre lang zu dramatischen Wetteränderungen käme, unter anderem zu einem raschen Temperaturabfall. Aufgrund der Ernteeinbußen würde etwa eine Milliarde Menschen verhungern.
    Wer also meint, ein »begrenzter Atomkrieg« mit Russland in der Ukraine oder Europa sei auch begrenzt in seinen Auswirkungen, der täuscht sich gewaltig. Ganz abgesehen davon, dass eine Begrenzung eines Atomkriegs kaum denkbar ist, wenn die so genannte »Abschreckung« erst einmal versagt. In einer Computersimulation zeigte eine Wissenschaftlergruppe der Princeton University die entsetzliche Konsequenz auf, mit der sich nach Abschuss einer einzigen Atomwaffe ein umfassender Atomkrieg entwickeln würde.6
  • Kosten: Die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete »International Campaign to Abolish Nuclear Weapons« (ICAN) veröffentliche Mitte Juni einen Bericht über die Kosten der Atomrüstung.7 Im Jahr 2023 gaben die neun Atomwaffenstaaten mehr als 90 Milliarden US$ für Atomwaffen und Trägersysteme aus. Umgerechnet sind das 250 Millionen US$ pro Tag! Denken Sie nur, 90 Milliarden US$ im Jahr. Was könnten wir mit diesem Geld z.B. tun, um den Klimawandel aufzuhalten. Für die Vereinten Nationen ist der Klimawandel neben Atomwaffen die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Stattdessen geht das Geld in die »doomsday machine«, in eine Waffe mit dem Potential zur Vernichtung des Lebens auf der Erde.
  • Rolle von Atomwaffen: Atomwaffen kommt in den Militärdoktrinen der Atomwaffenstaaten seit Jahren eine wachsende Rolle zu. Stichworte sind hier z.B. Ukrainekrieg und das nukleare Säbelrasseln Russlands, die Konkurrenz um die Vorherrschaft zwischen den USA und China, die Demonstration von Langstreckenfähigkeiten durch Nordkorea, große Spannungen zwischen Indien und Pakistan, Irans Atomaktivitäten mit dem Potential zum Atomwaffenbau und jüngst immer wieder lautes Nachdenken israelischer Regierungsmitglieder, das Hamas-Problem durch einen Atombombenabwurf auf Gaza zu erledigen.
  • Deutschland: Allerdings brauchen wir nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Deutschland beteiligt sich ebenso wie vier weitere NATO-Staaten aktiv an der nuklearen Teilhabe des Bündnisses. Auf dem Fliegerhorst Büchel sind etwa 15 Atombomben des oben beschriebenen Typs stationiert. Zur Zeit wird der Fliegerhorst umgebaut, um ihn für neue Trägerflugzeuge und neue Bomben tauglich zu machen. Als Trägerflugzeuge hat die Bundesregierung im Rahmen der »Zeitenwende« bei den USA Kampfjets des Typs F-35 bestellt. Die neuen Atombomben werden vom Typs B61-12 sein. Diese Bombe hat zwar eine kleinere Sprengkraft, ist aber steuerbar und somit zielgenauer. Dadurch steigt aber das Risiko, dass sie wirklich zum Einsatz kommt, weil die »Kollateralschäden« vermeintlich kleiner werden. Übrigens: Der Einsatz von Atommwaffen wird jedes Jahr im Oktober im NATO-weiten Großmanöver »Steadfast Noon« geübt, auch in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze.
  • NATO: Die NATO bezeichnet Atomwaffen gerne als »politische« Waffen. Das spiegelt sich aber nicht in ihrem Strategischen Konzept.8 Dort versichert sie „Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben“ und betont die Relevanz der nuklearen Abschreckung. Nukleare Abschreckung ist aber nur dann glaubwürdig, wenn sie mit der uneingeschränkten Bereitschaft einhergeht, die Atomwaffen tatsächlich einsetzen. Damit sind wir genau beim Thema des heutigen Flaggentags der deutschen »Bürgermeister für den Frieden«. Der Flaggentag erinnert daran, dass der Internationale Gerichtshof 1996 in einem Rechtsgutachten9 zum Schluss kam, die Einsatz von Atomwaffen und auch schon die Drohung mit einem Einsatz seien generell völkerrechtswidrig und es bestehe eine Verpflichtung aller Staaten, über vollständige nukleare Abrüstung zu verhandeln. Morgen beginnt in Washington D.C. der Jubiläumsgipfel zu 75 Jahre NATO. Im Vorfeld kündigte NATO-Generalsekretär Stoltenberg an, dort stünde auch zur Diskussion, die Anzahl der Atomwaffen in der nuklearen Teilhabe zu erhöhen.10 Die NATO sieht dies als eine Antwort auf die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus. Russland und viele weitere Länder sehen dies als aggressive Geste des Westens. Die Rüstungsspirale dreht sich weiter und weiter und weiter.
    Es gäbe noch viel weitere Punkte auszuführen: die jüngste Diskussion um eigene Atomwaffen in und für Deutschland oder Europa,11 die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen,12 die Einführung von künstlicher Intelligenz in die Kontroll- und Kommandosysteme der Atomwaffenstaaten, das Ende jeglicher Rüstungskontrolle, die doch seit den 1970er Jahren für eine drastische Verringerung der Atomwaffen und für gegenseitige Vertrauensbildung gesorgt hatte.

Was also tun?

Kommen wir wieder auf den heutigen Flaggentag der deutschen »Bürgermeister für den Frieden« zurück und damit auf die Frage, was können wir tun?

Als Minimum können wir dafür sorgen, dass das Thema Atomwaffen nicht ausschließlich von denen besetzt wird, die nukleare Abschreckung für eine Politik der Friedenssicherung halten. Die Dominanz der nuklearen Falken ist groß, in den Medien kommen meist sie zu Wort, nicht wir. ICAN zeigte in seinem Finanzbericht 2023 auf, dass Unternehmen im vergangenen Jahr 118 Millionen US$ aufwandten, um bei Regierungen Lobbyarbeit für nukleare Rüstung zu machen. Das ist, wie kürzlich jemand bemerkte, mehr Geld als der Rüstungskontroll-Community weltweit zur Verfügung steht. Von Friedensorganisationen und -gruppen erst gar nicht zu reden. Dazu kommen die riesigen Regierungsapparate. Für den USPräsidentschaftskandidaten Trump arbeiten schon heute 200 Experten und arbeiten Vorschläge zur Regierungsübernahme aus, darunter zur massiven Ausweitung des US-amerikanischen Nuklearwaffenarsenals.13

Daher sind Veranstaltungen wie diese hier so wichtig. Atomwaffen bedrohen uns Bürgerinnen und Bürger in unserem Recht auf ein unversehrtes Leben. Unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind für die Sicherheit in ihrer Stadt zuständig und für Katastrophenschutz. Hilfe wäre bei einem Atomwaffeneinsatz aber gar nicht möglich – die Helferinnen und Helfer wären genauso betroffen und die Infrastruktur für jegliche Hilfe wäre zerstört.

Gestern ist es sieben Jahre her, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« annahm.14 Den Vertrag haben bislang 70 Staaten ratifiziert – darunter auch einige Mitglieder der EU, z.B. Österreich. 23 weitere Staaten haben ihn bereits unterzeichnet. Deutschland allerdings lehnt diesen völkerrechtlichen Vorstoß ab, Atomwaffen gänzlich zu verbieten, wie das mit Chemie- und Biowaffen bereits geschehen ist. Zu sehr verhaftet zeigt sich die deutsche Politik der NATO-Doktrin der nuklearen Abschreckung. Der Ukrainekrieg hat unsere Forderung nach einer atomwaffenfreien Welt noch mehr ins Abseits gerückt.

Davon sollten wir uns aber nicht beeindrucken lassen. In der Schweiz z.B. haben sich zwei Dutzend Organisationen zur »Allianz für ein Atomwaffenverbot« zusammengeschlossen. Sie wollen den Schweizer Bundesrat mit einem Volksbegehren auffordern, dem Vertrag beizutreten.

Hier in Deutschland wird am 12. Oktober in Nörvenich protestiert.15 Auf dem dortigen Fliegerhorst sind während der Bauarbeiten am Atomwaffenstandort Büchel die deutschen Trägersysteme, die Tornados, stationiert. Wir freuen uns, wenn sie mit uns demonstrieren.

Und wenn Sie gerne selber aktiv werden wollen für eine atomwaffenfreie Welt: Engagieren Sie sich bei einer der mehr als 70 Gruppen, die sich im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen« zusammengeschlossen haben.

Zum Schluss will ich Ihnen meinen Leitspruch in meinem Engagement gegen Atomwaffen ans Herz legen. Er stammt aus dem Russell-Einstein-Manifest16 und wurde 1955 geschrieben: „Wir wenden uns als Menschen an unsere Mitmenschen: Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst alles andere!“ – „Remember your humanity, and forget the rest.“

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Regina Hagen ist aktiv beim Darmstädter Friedensforum.

 

Anmerkungen:

  • (1) UN News (2024): Guterres urges disarmament now as nuclear risk reaches ‘highest point in decades’.  18.3.2024; https://news.un.org/en/story/2024/03/1147666.
  • (2) Arms Control Association (2024): Remarks from UN Secretary-General António Guterres, Washington D.C.,  7.6.2024; https://www.armscontrol.org/2024AnnualMeeting/UNSG-Remarks.
  • (3) SIPRI (2024): SIPRI Yearbook 2024; dort Kapitel 7, World Nuclear Forces. Juni 2024, https://www.sipri.org/ sites/default/files/YB24%2007%20WNF.pdf.
  • (4) Simuliert mit NUKEMAP bei 170 Kilotonnen Sprengkraft und 1.700 Meter Explosionshöhe; https:// nuclearsecrecy.com/nukemap.
  • (5) Alan Robock and Owen B. Toon (2009): Local Nuclear War, Global Suffering. Scientific American, January 2010, S. 74-81; http://climate.envsci.rutgers.edu/pdf/RobockToonSciAmJan2010.pdf.
  • (6) Princeton University’s Program on Science and Global Security ((2019): Plan A. j6.9.209; https://youtu.be/ 2jy3JU-ORpo.
  • (7) ICAN (2024): Surge - 2023 Global nuclear weapons spending. Report. June 2023, https:// assets.nationbuilder.com/ican/pages/4079/attachments/original/1718371132/Spending_Report_2024_Sing les_Digital.pdf?1718371132.
  • (8) Auswärtiges Amt (2022): NATO Strategisches Konzept. 29.6.2022; hƩps://nato.diplo.de/nato-de/service/-/ 2539668.
  • (9) Internationaler Gerichtshof (1996): Rechtsgutachten »Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen« vom 8. Juli 1996. In: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. LIT-Verlag 1997.
  • (10) Siehe dazu z.B. The Telegraph (2024): Exclusive - Nato in talks to deploy more nuclear weapons. 16.6.2024; https://www.telegraph.co.uk/world-news/2024/06/16/nato-jens-stoltenberg-....
  • (11) Siehe dazu z.B.: WELT am Sonntag (2024): Eine Frage des Gleichgewichts. 6.7.2024, Nr. 27, S. 11.
  • (12) Siehe dazu z.B. atomkrieg-aus-versehen.de.
  • (13) Project 2025 – Presidential Transition Project (2023): Mandate for Leadership – The Conservative Promise. Heritage Foundation; https://www.project2025.org.
  • (14) UN-Dokument A/CONF.229/2017/8 vom 7.7.2017. Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen, New York, auf http://www.un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf.
  • (15) Martin Singe (2024): Atomkriegsmanöver „Steadfast Noon“ stoppen! Friedensforum, Ausgabe 1/2024. https:// www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/atomkriegsmanoever-stea...
  • (16) Eine Stellungnahme zur Atomkriegsführung. 9.7.1955; http://www.pugwash.de/rem.pdf.