Pazifismus heute

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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Angesichts beinahe unzähliger "Bindestrich-Pazifismen" - "Nuklearpazifisten", "Politische", "relative Pazifisten", "radikale Pazifisten", "absolute Pazifisten" usw. - und einigen, auch prominenten, PolitikerInnen, die sich als Pazifisten bezeichnen, während sie als deutsche Vertreter in der Nato deren Angriffe auf Jugoslawien mit verantworteten, ist es erforderlich, eine Begriffsklarstellung vorzunehmen. Wenn ich von Pazifismus spreche, dann im Sinne einer totalen, ausnahmslosen Ablehnung von Krieg, wie sie in meinen Augen am besten in der Grundsatzerklärung der War Resisters` International zum Ausdruck gekommen ist: "Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Form von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung der Ursachen von Krieg einzutreten".

Der Begriff "Pazifismus" wird nächstes Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiern. Er wurde das erste Mal 1901 von dem französischen Friedensaktivisten E. Arnaud benutzt und setzte sich schnell in der politischen Diskussion durch. Radikale Ablehnung von Krieg ist hingegen schon wesentlich älter und findet sich als Gebot zur Nichtgewalt in vielen Religionen und Philosophien. Als Quellen des modernen Pazifismus, wie er sich in Europa und Nordamerika im letzten, 20. Jahrhundert entwickelte, werden i.d.R. genannt:
 

  • die verschiedenen Friedenskirchen, die sich seit der Reformation herausbildeten (Wiedertäufer, Mennoniten, Quäker, ZeugenJehovas), mit ihren Lehren der Gewaltlosigkeit und dem Gebot der Nichtteilnahme an Krieg
  • die unter dem Eindruck moderner Kriegsführung (amerikanischer Bürgerkrieg, deutsch-französischer Krieg) gebildeten bürgerlichen Friedensgesellschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert, die einen völkerrechtlich-institutionellen Ansatz verfolgten
  • der sozialistische und anarchistische Antimilitarismus in den fünfzig Jahren vor 1914
     

Als zentrale Gedanken des Pazifismus in seinen verschiedenen Spielarten würde ich bezeichnen:
 

1.die Überzeugung, dass die Kosten von Krieg immer höher sind als sein Nutzen, wenn man die totalen Kosten, also auch die langfristiger und sozialer Art, mit einbezieht

 

2.die Überzeugung, dass das Recht auf Leben eines der grundlegendsten Menschenrechte und deshalb die Verteidigung von Menschenrechten durch Töten absurd ist
 

3.die `Heiligkeit`, Unberührbarkeit (menschlichen) Lebens
 

4.die Überzeugung, dass es gewaltfreie Alternativen der Konfliktbearbeitung gibt, die einen dritten Weg zwischen Nichtstun und Gewaltanwendung eröffnen.
 

 

Die Krise des Pazifismus
Die Krise des Pazifismus hat zwei Elemente. Das erste ist der unbestreitbare zahlenmäßige Niedergang der in den achtziger Jahren entstandenen Friedensbewegung. Das zweite ist die Erschütterung der ethischen Basis des Pazifismus unter dem Eindruck der als "humanitäre Interventionen" bezeichneten Kriege der jüngeren Zeit.

Der erste Weltkrieg, der spanische Bürgerkrieg (1936-1939), der zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, die Befreiungskriege im Süden (besonders Nicaragua und El Salvador), der zweite Golfkrieg (besonders als Israel angegriffen wurde) und jüngst die Kriege in Kroatien, Bosnien und Kosovo/Jugoslawien waren Ereignisse, die viele PazifistInnen verunsicherten, manche zur bewussten Abkehr von ihren bisherigen Überzeugungen veranlassten, andere zum Bemühen, ihre pazifistische Grundüberzeugung mit einer Befürwortungoder zumindest Nicht-Ablehnung des betreffenden Krieges in Einklang zu bringen.

Die, die PazifistInnen blieben, wählten unterschiedliche Strategien, die auch davon abhängig waren, welche Einstellung gegenüber dem betreffenden Krieg bestand.

1) Eine erste Alternative ist die Weigerung, für das Geschehen - das man in der Regel versucht hatte zu verhindern - Verantwortung zu übernehmen und sich auf die Nicht-Teilnahme zu beschränken. Die politischen Fragen wie die Frage nach der ethischen Rechtfertigung von Nicht-Handeln wird nicht gestellt, was den so Handelnden den Vorwurf der "Gewissensethik" eingetragen hat. Ein Vorwurf, der in manchen Fällen seiner Berechtigung nicht entbehrt, in anderen, wo die individuelle Verweigerung gekoppelt wurde mit der Unterstützung direkten Widerstandes gegen den Krieg (Desertion, Verweigerung, Propaganda, bis hin zur Sabotage) nicht haltbar ist.

2) Eine sehr gewöhnliche Reaktion ist die Organisation von humanitärer Hilfe, um die Opfer zu unterstützen. Schon im spanischen Bürgerkrieg dachten viele PazifistInnen, dass "Propaganda gegen den Krieg nicht mehr möglich war", und dass konstruktive Arbeit dieser Art, im Namen des Pazifismus, das Wertvollste sei, was man tun kann.

3) Eine dritte Herangehensweise sind Protest und öffentliche Aufklärung gegen den Krieg. Immer wieder - von Bosnien bis Kosovo - genannte Argumente sind:
 

  • Schutz von Menschenrechten oder "Verhinderung von Genozid" sind sowieso nur Vorwand, tatsächlich geht es um die Eigeninteressen der Intervenierenden
  • Warnung vor den Folgen und Gefahren der militärischen Intervention, sowohl vor Ort wie "für uns" (Beispiel: Warnung vor serbischen Terroranschlägen)
  • Effektivität des Eingreifens nicht gegeben ("Das Eingreifen kann seine Ziele gar nicht erreichen")
  • es wurden noch nicht alle anderen Mittel ausgeschöpft
  • es hätte zuvor viele Alternativen gegeben, den Konflikt gewaltlos zu bearbeiten, was aber nicht getan wurde. Jetzt braucht es keiner Legitimation durch die Friedensbewegung mehr. ("Was fragt Ihr jetzt uns?")
  • Krieg ist ein Verbrechen und kommt niemals in Frage
  • es gibt gewaltfreie Alternativen des Eingreifens und diese müssen ausgebaut werden
  • der Krieg ist völkerrechtlich unzulässig (weil der UN-Sicherheitsrat nicht zugestimmt hat, weil der Sicherheitsrat von den USA dominiert wird, die ihre eigenen Interessen verfolgen, weil humanitäre Interventionen auch Krieg sind, der verboten ist, oder weil die Souveränität von Nationalstaaten verletzt wird)
     

4) Ein vierter Ansatz, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist, den Aufbau von Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern zu unterstützen, um zumindest die Zeit nach der Schließung eines Waffenstillstands vorzubereiten. Die Antikriegs-Bewegungen in Kroatien und Serbien haben hier ein bedeutendes Beispiel gesetzt.

5) Die letzte Möglichkeit, die natürlich nicht alternativ zu den oben genannten steht, ist die Konzentration auf eine Suche nach einer friedlichen längerfristigen Lösung des Konfliktes und Entwicklung ziviler Konfliktinterventionen.

Pazifismus heute
Aus der Debatte um Pazifismus und seine Krise möchte ich ableiten, dass ein moderner Pazifismus folgende vier Elemente umfassen sollte:

Verantwortungspazifismus
Den PazifistInnen ist immer wieder vorgeworfen worden, "gesinnungsethisch" zu handeln und nicht die Verantwortung für das "Ganze" zu übernehmen. Ich möchte dem einen "verantwortungsethischen" Pazifismus gegenüberstellen. Dieser ist selbstverständlich nicht neu, sondern wurde von unzähligen Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern schon immer praktiziert. Sein Merkmal ist, dass er nicht den Fragen ausweicht, wie ein politischer Konflikt gelöst, ein Krieg verhindert oder gestoppt oder gravierende Menschenrechtsverletzungen beendet werden könnten. Er beschränkt sich nicht aufdas "Ohne Uns" oder das "Hättet Ihr mal früher", sondern greift aktiv in das politische Geschehen ein und sucht Antworten auf die Frage, "Was jetzt tun?". Im Sinne Gandhis und Martin Luther Kings betrachtet er Gewaltfreiheit als den Dritten Weg zwischen dem desinteressierten Wegschauen oder der Hinnahme von Unrecht als unveränderlich einerseits und der Anwendung von Gewalt andererseits. Dies gilt sowohl für jene Konfliktszenarien, bei denen die gewaltfrei agierenden Akteure soziale Kämpfe zur Durchsetzung von Anliegen und zur Bekämpfung von Unrecht führen (von sozialen Bewegungen bis zu gewaltlosen Revolutionen) wie für jene Konfliktszenarien, bei denen es den gewaltlos Agierenden primär um die Verhinderung von Gewalteskalation (Prävention, Konfliktintervention) geht.

Verantwortungspazifistisches Handeln beginnt beim Einzelnen
Gewaltfreie Alternativen müssen nicht nur "von unten" entwickelt werden, sondern sie wirken letztendlich nur, wenn die/der Einzelne für sie einstehen. Deshalb ist eine umfassende Verweigerung, sich an Vorbereitung von Krieg und Dienst im Krieg zu beteiligen, eine der Grundvoraussetzungen für verantwortungsethischen Pazifismus.

Stärkung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten statt Setzen auf Parteien
Verantwortungsethischer Pazifismus sucht das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern für den Frieden. Eine starke, funktionierende Zivilgesellschaft, in der die friedensfördernden Kräfte stärker sind als die kriegsfördernden, ist die beste Garantie für Prävention oder Beendigung gewaltsamer Konflikte.

Hier haben wir in Deutschland, so scheint es mir, ein besonderes Defizit. Viele aus der Friedensbewegung tendieren dazu, eher ihre Hoffnungen von einer politischen Partei auf die andere zu verlagern als aus den Veränderungen, die die eine Partei mitgemacht hat, grundsätzliche Folgerungen über die Beschränktheit von politischen Parteien per se zu schließen.

Entwicklung gewaltfreier Alternativen
Bei der Diskussion um alternative Konfliktbearbeitung geht es natürlich nicht darum, quasi blind Alternativen zu all dem zu benennen, was die Nato und unsere Regierungen als Funktionen und Aufgaben des Militärs darstellen. Die Diskussion um Alternativen muss stets vor dem Hintergrund der weltpolitischen Situation geführt werden. Dabei muss man sich bewusst sein, aus welchen Motiven in Konflikte eingegriffen bzw. nicht eingegriffen wird und was die zitierten `außenpolitischen Interessen` sind.

Der meist pauschal vorgetragenen Auffassung, dass Gewaltfreiheit nur in niedrigen Eskalationsstufen eines Konfliktes Aussicht auf Erfolg habe, bevor offene Gewaltanwendung den Konflikt dominiert, widersprechen viele KonfliktforscherInnen, die sich mit Gewaltfreiheit befasst haben, und auch etliche historische Beispiele dieses Jahrhunderts (Prag 1968, Philippinen 1986, Kosovo 1989-1998). Das Konzept der Sozialen Verteidigung wurde fürdie größte annehmbare Gewaltanwendung, den Krieg, entwickelt und beruht auf Erfahrungsschätzen aus zahlreichen Konflikten, in denen von einer Seite keine Gewalt angewendet wurde. In vielen historischen Fällen von gewaltfreien Aufständen und zivilen Widerstands, von denen gerade das letzte, 20. Jahrhundert voll war, scheint es, als ob in vielen Fällen Gewaltfreiheit und nicht Gewalt das "letzte Mittel" gewesen ist. Sie war das Instrument der Konfliktaustragung, das auch dann zur Verfügung stand, wenn Gewalt nicht möglich schien, z.B. weil keine Waffen zur Verfügung standen, das Militär auf der anderen Seite stand oder ihm nicht zu trauen war (Kapp-Putsch, Prag 1968, Philippinen 1986) oder weil man wusste, dass Gewalt zur Vernichtung führen würde (was man im Kosovo bis 1997 wusste).

Natürlich kann auch gewaltfreie Konfliktaustragung misslingen oder zu viel Zeit beanspruchen, bevor sie "greift". Die Anti-Vietnambewegung benötigte etliche Jahre, bevor sie die USA zum Rückzug aus Südostasien zwingen konnte, während Gewalt u.U. sehr schnell bis zu Massenmord und Genozid eskalieren kann. (Man denke an Ruanda.)

Aber in solchen Fällen versagten auch militärische Gegenmaßnahmen in der Vergangenheit und Gegenwart. Die Alliierten im Zweiten Weltkrieg unternahmen nichts gegen die deutschen Konzentrationslager, obwohl sie wussten, was vorging. In Ruanda zogen die zahlenmäßig kleinen UN-Truppen zunächst ab, im Kosovo wurden hilflos Einrichtungen und Truppen der angreifenden Armee bombardiert, während Paramilitärs ungehindert die Bevölkerung vertrieben.

Es gilt, gewaltfreie Intervention in Konflikte jeder Eskalationsstufe zur Alternative zu militärischen Interventionen weiterzuentwickeln. Wenn dies gelingt, dann könnten ihre durch dieselben Staaten, die in der Nato weltweite Kriege denkbar und führbar gemacht haben, die bekannten Widersprüche im System darstellen, die genutzt werden können, doch nocheiner `Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit` ein Stückchen näher zu kommen.

Der Artikel ist eine stark gekürzte Fassung eines Vortrages, den die Autorin am 17.3.2000 beim Münchner Friedensbündnis gehalten hat.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.