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Wirtschaft am Scheideweg
Auch der Westen braucht seinen Aufbruch
vonDie politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in der Bundesrepublik befinden sich zu Beginn der neunziger Jahre in einem wahren Rauschzustand. Sie sonnen sich in einem fast achtjährigen Wirtschaftsaufschwung und jährlich neuen Wachstumsrekorden. Zu dieser Wachstumsdroge gesellt sich noch der Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften, der den Wettkampf der Systeme entschied: zugunsten des Kapitalismus.
Aus dieser "Friede, Freude, Eierkuchen-Stimmung" vieler Politiker und Unternehmer darf man jedoch keinesfalls auf einen entsprechenden Gemütszustand der Bürgerinnen und Bürger in unserer Republik schließen. Wer, wie ich als Journalist, dem „Volk ständig aufs Maul schaut", erlebt Ende der achtziger Jahre vor allem Menschen, die über wachsenden Konkurrenzdruck und Streß am Arbeitsplatz klagen und sich mehr und mehr als Rädchen in einem großen, anonymen Getriebe fühlen. "Viele Menschen gewinnen den Eindruck, daß allerorten eine zunehmende Dynamisierung stattfindet, von der sich immer weniger sagen läßt, wozu sie führt", analysieren die Sozialwissenschaftler Udo Glittenberg und Helge Peukert diesen Gemütszustand.
Tiefe Endzeitstimmung herrscht bei Themen wie Umwelt oder Dritte Welt. Viele Gesprächspartner wissen nicht, "wie wir die Umweltzerstörung je wieder in den Griff bekommen wollen". Den Zustand der Dritten Welt beschreiben viele als "hoffnungslos" und dies mit Angst vor "dem, was uns politisch aus diesem Teil der Welt noch bevorsteht".
Pikanterweise erinnert diese Diskrepanz zwischen dem Höhenrausch der bundesdeutschen Elite und den Empfindungen der Bürger an die Entwicklungen in Osteuropa. Auch dort berauschten sich die Verantwortlichen lange Zeit an zahlenmäßigen Erfolgsmeldungen, während die Bürger jedoch eine ganz andere Realität erlebten. So weit ist es in der Bundesrepublik nicht. Eine Gemeinsamkeit zwischen West und Ost läßt sich jedoch nicht leugnen: Die wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen sagen wenig darüber aus, wie die Bürger die Qualität ihres Lebens und ihre Zukunftsaussichten empfinden. Im Gegenteil. Die Jubelmeldungen gehen mit wachsenden sozialen und ökologischen Problemen einher.
So konnten die hohen Zuwachsraten Ende der achtziger Jahre die sozialen Gegensätze nicht entschärfen. Die Kluft zwischen arm und reich wurde immer größer. Einem wachsenden Luxuskonsum auf der einen Seite stehen sechs Millionen Bundesbürger, die nach Angaben der Wohlfahrtsverbände unter dem Existenzminimum leben; darunter befinden sich besonders viele Rentnerinnen, Alleinerziehende, Kinderreiche und Langzeitarbeitslose. Damit hat sich das Armutspotential seit den krisenhaften siebziger Jahre verdoppelt. Zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung zählen auch die zwei Millionen Arbeitslosen. Obwohl der Wirtschaftsaufschwung knapp eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen hat, lief er an vielen Arbeitslosen einfach vorbei. Außerdem: jedes Jahr nimmt die Zeit der geleisteten Arbeitsstunden ab, weil bei dem steigenden technologischen Produktionsstandard immer weniger Menschen immer mehr Waren und Dienstleistungen produzieren können. Daraus ergibt sich für die neunziger Jahre eine weithin unterschätzte Gefahr: Wenn die Wachstumsraten sinken, während sich die Produktionsverfahren weiter revolutionär entwickeln, wird die Arbeitslosigkeit wieder zunehmen und dies von einem ohnehin schon hohen Niveau von zwei Millionen Arbeitslosen Ende der achtziger Jahre.
Dieser extrem ungleichen Verteilung des Reichtums entspricht eine immer stärkere Machtkonzentration in der bundesdeutschen Wirtschaft. ( ... )
Mindestens ebenso schwerwiegend wie die sozialen Fehlentwicklungen des ablaufenden Jahrzehnts sind die ökologischen. ( ... )
All diese sozialen und ökologischen Probleme charakterisieren auch die Entwicklung in der sogenannten Dritten Welt - allerdings in viel dramatischerem Ausmaß. Die hohen Zuwachsraten der westlichen Industrieländer in den achtziger Jahren haben den meisten Entwicklungsländern nicht viel gebracht. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen "beiden Welten" war noch nie so groß wie Ende der achtziger Jahre. ( ... )
Anders als die sozialistischen Planwirtschaften ist der westliche Kapitalismus nicht durch Mißerfolg, sondern durch seinen wirtschaftlichen Erfolg bedroht, der immer höhere soziale und ökologische Kosten fordert. Statt sich immer weiter an einem rastlosen Selbstlauf der Wirtschaft zu berauschen und dabei die wachsenden Probleme zu verdrängen, muß auch der Westen aus der Lethargie der wirtschaftlichen Normalität ausbrechen. Erforderlich ist eine Abkehr von rein quantitativen Zielvorstellungen der Wirtschaftspolitik zugunsten qualitativer Zielvorstellungen, die zu einem integrierten Bestandteil des wirtschaftlichen Ablaufs werden müssen.
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Bei alledem könnten sich die Menschen in den westlichen Industrieländern wie der Bundesrepublik ein Beispiel an den Völkern der sozialistischen Länder nehmen. Nachdem ihre Regierungen den Zug der notwendigen Neuorientierung verpaßten, bliesen sie selbst zum Ausbruch aus der Lethargie der schlechten Normalität.
In den demokratischen Gesellschaften des Westens sind die Chancen der Menschen ungleich größer, den wirtschaftlichen Zug langfristig in eine andere Richtung zu lenken, statt ihn immer nur zu beschleunigen.
Wird diese Chance verpaßt, dann könnte der Rausch am Ende der achtziger Jahre leicht in einen langen Kater der neunziger Jahre umschlagen - und dabei in der Bundesrepublik und anderswo jene Radikalisierung der Verlierer und der Verängstigten verstärken, die das politische Klima schon Ende der achtziger Jahre nachhaltig und nicht gerade positiv prägte.
Dr. Wolfgang Kessler, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Publizist, hat die Gedanken dieses Beitrages umfassend in einem Buch veröffentlicht, das jetzt vorliegt: "Aufbruch zu neuen Ufern. - Ein Manifest für eine sozialökologische Wirtschaftsdemokratie." Publik-Forum-Verlag. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung, Bonn. 180 Seiten. DM 22,-.
Diesen Artikel drucken wir (gekürzt) mit freundlicher Genehmigung des Publikforums ab.