Ukraine

Aus der Geschichte lernen

von Otmar Steinbicker

Der zu Redaktionsschluss täglich eskalierende Konflikt in und um die Ukraine mit immer mehr Truppenkonzentrationen auf beiden Seiten ruft längst verdrängte Kriegsängste zurück. Die Erinnerung an Zeiten des Kalten Krieges wird lebendig, und das Jahrhundertjubiläum des Ersten Weltkrieges lädt zum historischen Rückblick ein.

Wer sich die Ereignisse im Sommer 1914 vergegenwärtigt, erkennt langfristige deutsche Interessen und seit Jahren getroffene Kriegsvorbereitungen auch in Richtung Ukraine, die in den hektischen Wochen nach dem Attentat in Sarajewo in einen Krieg mündeten, in den durch die gegeneinander gerichteten Bündnissysteme in kürzester Zeit nicht nur der größte Teil Europas, sondern auch andere Kontinente einbezogen werden. Der Erste Weltkrieg begann.

Als der Krieg endete, stellte sich die Frage, ob eine solche Katastrophe künftig vermieden werden könnte. US-Präsident Woodrow Wilson sah bereits 1917, dass Interessenunterschiede und Konflikte zwischen Staaten unvermeidlich sind, die Art der Konfliktaustragung aber zivilisiert werden kann.

Da eines der Probleme 1914 in den gegensätzlichen Bündniskonstellationen bestand, schlug Wilson vor, die Lösung im entgegengesetzten Konzept zu suchen: Auflösung der Bündnisse und Schaffung einer „kollektiven Sicherheit“! Der entscheidende Unterschied: im Bündnis heißt es „Wir gegen die anderen“. Beim Konzept der kollektiven Sicherheit sitzen alle (auch die potenziellen Gegner!) an einem Tisch und müssen sich auf eine für alle akzeptable Lösung eines Konflikts einigen.

Wilsons Vorschlag wurde nicht beherzigt. Im Zweiten Weltkrieg starben erneut Millionen Menschen. 1945 überlegte man wieder, wie eine solche Katastrophe zu verhindern sei und kam exakt zu Wilsons Ergebnis: durch kollektive Sicherheit anstelle gegeneinander stehender Bündnissysteme. Die damals gegründete UNO beruht auf diesem System.

Die Gründung der NATO 1949 und des Warschauer Paktes 1955 markieren den frühen Bruch mit Wilsons Konzept. Die Konsequenzen: Verschärfung der internationalen Spannungen hin zum Kalten Krieg und zunehmender realer Weltkriegsgefahr. Erst als die Welt 1962 in der Kubakrise nur knapp einem Atomkrieg entging, setzten Nachdenken und vorsichtige Entspannung ein. Mit der Einberufung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1973 landete man wieder bei Wilsons Konzept!

Als im Herbst 1989 der Warschauer Pakt in sich zusammenbrach, war die Möglichkeit eines Neubeginns gegeben. Woran erinnerte man sich? An Wilsons Konzept der „kollektiven Sicherheit“! „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit“, schrieben die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten, einschließlich der USA und der UdSSR 1990 in ihre  „Charta von Paris“. Die Konsequenz: Aus der „Konferenz“ KSZE wurde die „Organisation“ OSZE.

Zu Wilsons Konzept gehörte die Auflösung der Bündnisse. Der Warschauer Pakt löste sich auf, nicht aber die NATO! Sie dehnte sich in der Folgezeit aus und umfasst heute längst früheres UdSSR-Gebiet. Dass die Bündnis-Logik „Wir gegen die anderen“ auf der Gegenseite Nachdenken, womöglich auch gefährliche Reaktionen hervorruft, liegt auf der Hand.

Ebenda liegt ein Schlüssel bei der Erkenntnis des insgesamt komplexen Ukraine-Konflikts. Nicht ohne Grund sehen alle Seiten in der Vermittlung der OSZE einen entscheidenden, wenn nicht den einzigen Weg für eine friedliche Lösung des Konfliktes.

Woodrow Wilsons Konzept der Auflösung der einander gegenüberstehenden Bündnisse zugunsten einer kollektiven Sicherheit ist von 1917 bis heute ein Grundansatz für Konfliktlösungen.

Wo sind heute die PolitikerInnen, die erkennen, dass die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem, das Russland mit einschließt, der entscheidende Ansatz auch für die Lösung von Konflikten wie in der Ukraine ist? Mit der OSZE ist der notwendige Rahmen längst institutionalisiert. Man muss allerdings ihre Kompetenzen erweitern!

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de