Als Freiwilliger in Russland

Ein Jahr in der Ferne

von Felix Jaitner

Über einen Monat lebe ich nun in Perm. Ein Ort, der für sich beansprucht, die erste Großstadt Europas zu sein. Interessanterweise jedoch sehen viele Permer ihre Stadt nicht als einen Teil dieses Kontinents. Der beginnt für sie erst außerhalb der Grenzen Russlands. Vier Stunden beträgt der Zeitunterschied zwischen Deutschland und Perm, und wie sehr sich diese räumliche Distanz in kulturellen Unterschieden ausdrückt, kann ich erst vage formulieren.

Ich habe diesen Zivildienst mit großer Euphorie und Aufregung begonnen. Vielleicht auch mit ein bisschen Stolz, endlich weit von der Heimat eigenständig zu leben. Jeder Schritt auf diesem mir unbekannten Boden ist aufregend. Jede Person, die ich kennen lerne, erscheint mir faszinierend. Ich habe das Bedürfnis, selbst das kleinste Detail zu erfahren und stets sind es die Biographien, die mir fremd sind, weil nicht vergleichbar mit denen aus Deutschland.

Jeden Abend schwirrt mir der Kopf. Ein weiterer Tag liegt hinter mir. Erwache ich am nächsten Morgen, fühle ich mich meistens eher erschöpft als erholt. Mir scheint, als laufen die Gedanken pausenlos weiter. Es fehlen mir jedoch Zeit und Gelassenheit, diese aufzuarbeiten. Zum Glück erlebe ich fast alle Russen als sehr geduldig und verständnisvoll. Ich bin überrascht, wieviel Respekt und Offenheit sie mir entgegenbringen. Regelmäßig fragen meine Arbeitskollegen nach, wie es mir geht, ob ich mich gut einlebe oder meine Familie vermisse.

Die Frage, warum ich nach Russland, speziell Perm, gekommen bin, wird mir ebenfalls immer wieder gestellt. Vor allem Russen meines Alters scheint der Wunsch befremdlich, freiwillig hierher zu kommen, sogar ein Jahr hier leben zu wollen. »Warum nicht wenigstens Moskau oder Petersburg?» Dort pulsiere das Leben; diese seien Megapolis von Weltformat. »Was machst du hier?«, fragen sie. »Zivildienst?!? Opfer des Stalinismus betreuen? Und das in einer Stadt, die bis 1990 für Ausländer geschlossen war?« Während sie ihre Blicke nach Westen richten, wende ich meine in die entgegengesetzte Richtung, interessiere mich für ihr Land und eine Kultur, die ihnen alltäglich erscheint. Diese Diskrepanz verwundert und erfreut viele gleichermaßen. Perm aber ist in ihren Augen nur Provinz. Wobei sie viele der mir in Deutschland begegneten Vorurteile selber aufgreifen: Hier gäbe es nur Kriminelle und keine Arbeit; der berühmte russische Wodka richte das Land zu Grunde. Im Westen dagegen sei alles anders. Dort seien die Menschen freundlich, man könne schnell und einfach reich werden, sogar die Straßen seien sauber. Die Tatsache, dass Deutschland, Amerika, England oder Frankreich sowie die damit verbundenen Kulturen und Lebensweisen eine solche Faszination ausüben, hätte ich nicht erwartet. Nicht in einem Land, das so stolz auf seine eigene, reichhaltige Kultur ist und diese immer wieder propagiert.

Ich erlebe viele Russen stets in Extremen. Einerseits zitieren sie Puschkin, Tolstoj oder Dostojewski. Sie gehen in die Oper oder besuchen das weltberühmte Ballett und werden nicht müde, die Macht Russlands in der Welt zu betonen. Andererseits verfluchen sie dieses Land, seine korrupten Politiker und die Oligarchen. Sie sehnen sich danach, einmal im Ausland zu leben, obwohl sie innerlich selbst in jungen Jahren bereits zu wissen scheinen, dass sie diesen Wunsch niemals umsetzen werden. Resignation ist mir, trotz der kurzen Zeit, bereits sehr oft begegnet. Selbst politisch-gesellschaftlich engagierte Menschen, zum Beispiel Mitarbeiter von MEMORIAL, schätzen die Möglichkeit, tatsächlich etwas zu bewegen, als sehr gering ein.

Ich möchte diesen Bericht mit einem Gedanken beenden, der mich seit meiner Ankunft in Perm beschäftigt. Regelmäßig kommt in mir die Frage auf, was dieses Jahr noch alles mit sich bringen und wie sehr es mich verändern, prägen wird. Meistens überwältigt mich diese Vorstellung. Schließlich gibt es unzählige Möglichkeiten, die ich nicht vorhersehen kann. Deshalb erlebe ich jeden Augenblick sehr intensiv, beinahe berauscht von dieser unbekannten Emotion, mit der ich ein großes Freiheitsgefühl assoziiere. Manchmal jedoch wage ich auch zu träumen und stelle mir vor, dass genau diese Intensität nicht nachlässt und mich bis zum Ende meines Dienstes begleitet. Ein schönes Gefühl.

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Felix Jaitner, 20 Jahre, Abiturient aus Köln, leistet seinen ASF-Freiwilligendienst bis zum August 2007 bei der Organisation MEMORIAL in Perm, Russland. Der Freiwilligenplatz von Felix Jaitner wird gefördert von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« und der Evangelischen Kirche im Rheinland.