IX. END-Konvention in Helsinki und Tallin

Europäische Zusammenarbeit von unten

von Gerd Greune

Seit 1980 rotiert sie durch Europa: Die jährliche Zusammenkunft von Friedensgruppen aller möglichen Couleur. Ein Appell unter dem Namen "Russell-Appell" für ein atomwaffenfreies Europa war der Ausgangspunkt verbunden mit dem Bekenntnis, daß wir zwar untereinander loyal sein müssen, aber nicht notwendigerweise unseren Regierungen gegenüber.

Damit war auch die Richtung klar. Jene Friedensräte, die in erster Linie die Außenpolitik ihrer Regierung vertreten haben und unabhängige d.h. regierungskritische Friedensarbeit jahrzehntelang bekämpften, sollten nicht dazu gehören. Bis vor wenigen Jahren hieß dies, daß auf den END-Konferenzen westeuropäische und US-amerikanische Friedensgruppen unter sich waren mit Vertretern aus Osteuropa, die hier im Exil lebten. 1987 wurde der ungarische Landesfriedensrat aufgenommen, 1988 konnten polnische Friedensgruppen sich offiziell beteiligen und im vergangenen Jahr stießen das sowjetische Friedenskomittee und die unabhängige "Stiftung für soziale Innovationen" - eine Sammlung von Initiativen, die sich außerhalb der KPdSU organisierten - dazu.

In der Bundesrepublik gab es Anfang der 80er Jahre Friedensinitiativen, die als "Russell-Friedens-Gruppen" sich die Philosophie der unabhängigen Friedensarbeit zu eigen machten und vor allem den GRÜNEN nahestanden. Die Unterstützung der regierungskritischen Friedensarbeit in Osteuropa, die Überwindung des Sta1inismus sowie scharfe Kritik an der Entspannungspolitik der SPD, die nach Auffassung dieser Gruppen die undemokratischen Verhältnisse stabilisierte, gehörten zu den Hauptstreitpunkten dieser ersten Phase von END.

Danach setzte sich die Erkenntnis durch, daß Entspannung "von oben" und "von unten" einander ergänzen können; zwischen den Friedensräten und den westeuropäischen Friedensorganisationen wurden eine Reihe von "Dia1og"-Veranstaltungen in Athen und Helsinki durchgeführt. Es gab erste gemeinsame Treffen zwischen "Unabhängigen" und "Offiziellen" in Budapest und Warschau, 1987 beteiligten sich Friedensrat und kirchliche Gruppen am Olof-Pa1me-Friedensmarsch in der DDR und der Bundesrepublik. Die Fragen nach einer innergesellschaftlichen Veränderung in den Ländern des Warschauer Vertrages wurden immer drängender. Ausweisungen und Krimina1isierungen wurden für die dort regierenden Staatsparteien zunehmend schwieriger, standen sie doch in direktem Gegensatz zu ihren eigenen Friedenserklärungen. Immerhin mußten FriedensfreundInnen in der DDR und in der CSSR bis vor wenigen Monaten noch - wie wir wissen - schwerste Repressionen ertragen. Auch die bundesdeutsche Friedensbewegung tat sich wiederholt äußerst schwer, uneingeschränkt Solidarität zu praktizieren.

Helsinki und/oder Tallin?

Auch 1990 stellt sich der END-Prozeß noch widersprüchlich dar: Die Entscheidung des vergangenen Jahres in Vitoria, die Konferenz erstmals blockübergreifend in zwei Orte zu vergeben, nämlich nach Helsinki und ins gegenüberliegende Tallin, der Hauptstadt von Estland, löst neue Konflikte aus. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten sind nach Auffassung der bundesdeutschen Vertreterinnen bei END zugleich eine Herausforderung für Gorbatschow und damit auch für seine Politik der Perestroika. Die Chancen für Entmilitarisierung und Abrüstung in Europa sind mit seiner Person verbunden. Völlig klar, daß pazifistische und radika1-demokratische Gruppen im Baltikum und in der Sowjetunion das anders sehen und wenig Lust haben, auf die innere Entwicklung der auch in ihren Augen obsolet gewordenen KPdSU Rücksicht zu nehmen.

Einigkeit sollte indes bei allen Gruppen, die für ein friedliches Europa eintreten, bestehen, daß mit Unabhängigkeit nicht Neo-Nationalismus und neue Ausgrenzung verbunden sein darf. Dies ist auch vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung unser Thema. Europa braucht unabhängige Völker, aber keinen neu aufblühenden Nationalstaats-Fetischismus. Der Optimismus für Abrüstung ist bei den ENDlern recht ausgeprägt. Dennoch steht die Verhinderung neuer Atomwaffen und Rüstungsprojekte ebenso auf der Tagesordnung wie Konzepte der Demilitarisierung auch im Verhältnis zu den Völkern der Südhalbkugel.

Wer sich an dieser Vernetzungsarbeit europäischer Friedensgruppen beteiligen will, wende sich an den Vorbereitungskreis END, c/o IFIAS, Stralsunder Weg 50, 5300 Bonn 1, Telefon: 0228-664442

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Gerd Greune ist Vorsitzender von ifias Brussels.