Ein moderner Ansatz des konstruktiven Pazifismus

Frieden durch Gesundheit

von Angelika Claußen

Hunger, Krankheiten, Obdachlosigkeit, Vergewaltigungen – diese anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen werden in Wissenschaft und Medien nicht selten völlig unabhängig von der ihnen zugrunde liegenden Ursache – dem Krieg – untersucht. Das erschwert einen ganzheitlichen Blick. Dabei stellen schwere Menschenrechtsverletzungen oft nur die Kehrseite des Krieges dar. Bei der Transformation einer Kriegsgesellschaft in eine Friedensgesellschaft ebenso wie bei der Verhütung und der Ächtung von Kriegen spielt die Medizin eine tragende Rolle.

Dreimal wurde der Friedensnobelpreis nach dem Zweiten Weltkrieg an Ärzte bzw. Ärzteorganisationen verliehen: 1952 an den Arzt Albert Schweitzer für sein jahrelanges humanitäres Wirken als Mediziner in Lambaréné und seinen weltweiten Einsatz für Völkerverständigung und gegen koloniale Ausbeutung, 1985 an die „Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) für ihren blockübergreifenden Einsatz für die weltweite atomare Abrüstung und die medizinische Aufklärung über die Folgen eines Atomkriegs sowie 1999 an „Ärzte ohne Grenzen“ für ihre weltweite unabhängige humanitäre Pionierarbeit und ihre klaren Worte über Verstöße gegen das Völkerrecht und über Menschenrechtsverletzungen.

In welche friedenswissenschaftlichen, medizinischen und ethischen Konzepte lässt sich der Beitrag der Medizin zum Frieden einordnen? Hier ist aus friedenswissenschaftlicher Perspektive die Friedenstheorie des norwegischen Sozial- und Friedenswissenschaftlers Johan Galtung zu nennen sowie der »konstruktive Pazifismus« des deutschen Entwicklungs- und Friedensforschers Dieter Senghaas. Aus der Gesundheitsperspektive sind von besonderer Bedeutung das Denken des Sozialmediziners Rudolf Virchow und die Multidisziplin „Public Health“ sowie die Medizinethik.

Medizinethik
Medizinethik umfasst vier Grundprinzipien ärztlichen Handelns: Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, Prinzip der Schadensvermeidung, ärztliche Fürsorge im Sinne des Patientenwohls und soziale Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung.

Public Health und die „Epidemiologie des Krieges“
Public Health benutzt die Epidemiologie als wichtigste Forschungsmethode, mittels derer sie Gesundheits- bzw. Krankheits- und Sterbedaten bezogen auf eine bestimmte Population untersucht und Korrelationen zu spezifischen Risikofaktoren prüft. Als Datenquellen für eine Epidemiologie des Krieges können Mortalitäts- und Morbiditätsabschätzungen für die Friedens- und Konfliktforschung genutzt werden. Da zivile Opfer in Kriegen die hauptsächlichen Leidtragenden darstellen, zählt die neuere Forschung zu Kriegsfolgen nicht nur die unmittelbaren Toten der kämpfenden Truppen, sondern bezieht insbesondere auch die zivilen Opfer des Krieges infolge der Zerstörung von Infrastruktur mit ein.

Die „Epidemiologie des Krieges“, die gesundheitliche Kriegsfolgen in ihren Dimensionen relativ präzise beschreiben kann, hat schon häufig die Ebene der Weltpolitik erreicht und beeinflussen können. Als aktuelle Beispiele seien hier die epidemiologischen Untersuchungen zur kriegsbezogenen Mortalität in der Demokratischen Republik Kongo von Ben Coghlan und die Studie über die Abschätzung der Kriegstoten infolge des Irakkriegs genannt. George W. Bush bescheinigte der Studie postwendend „Unglaubwürdigkeit“, obwohl sie mit den gleichen epidemiologischen Methoden erhoben worden war, wie die Studien zur Abschätzung der kriegsbedingten Toten im Kongokrieg.

Gesundheitliche Folgen bestimmter Waffensysteme
Mittels wissenschaftlicher Studien zu den Auswirkungen bestimmter Waffensysteme (Atomwaffen, Uranmunition, Streumunition, Phosphorbomben) gelang es MedizinerInnen, in der Weltpolitik und in friedenswissenschaftlichen Diskursen Beachtung zu erlangen. Die Ergebnisse dieser medizinischen Forschungen fanden auch Eingang in den Menschenrechtsdiskurs, denn dadurch ließ sich die Verletzung des humanitären Völkerrechts beweisen.

Gesundheitsdaten als Konfliktbarometer
Gesundheitsdaten können als Konfliktbarometer benutzt werden. Das gilt für die Faktoren Anstieg der Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeitsrate, besonders bei Kindern unter fünf Jahren infolge von leicht behandelbaren Krankheiten, sowie für den Anstieg der Rate an Unterernährung, an psychischen Störungen wie insbesondere Depressionen und Ängsten und der Flucht des Gesundheitspersonals aus der Region bzw. aus dem Land. Gesundheitsdaten lassen sich somit im Rahmen eines Frühwarnsystems für den Umschlag von Konflikten in bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriegen nutzen.

Gesundheit und menschliche Grundbedürfnisse
Häufig wird die Medizin und ihr Beitrag zur Gesundheit im Kontext der Diskussion um die Grundbedürfnisse „übersehen“. So stellen die Faktoren ausreichende Nahrung, Zugang zu sauberem Wasser und Behausung zwar wesentliche Voraussetzungen für die Erhaltung von Gesundheit dar, gleichzeitig gehört der freie Zugang zu medizinischer Behandlung aber ebenfalls zu den menschlichen Grundbedürfnissen.

Werden die Grundbedürfnisse der Menschen dauerhaft frustriert, so erleiden Menschen schwere körperliche und/oder seelische Schäden bis hin zum Tod. Für die jeweiligen betroffenen Individuen bedeutet dies die Wahl, entweder dauerhaft zu leiden bis zum Tod oder sich zu wehren. Deshalb gilt die dauerhafte Frustration von Grundbedürfnissen als eine wesentliche Erklärungsfolie für gewaltsame Konflikte. Obwohl sich empirisch ein enger Zusammenhang zwischen Armut und Krieg herstellen lässt, wäre es falsch, von einem direkten Automatismus in dieser Frage auszugehen. Häufig kommt es zu einer Kombination von Armut, wirtschaftlicher Unterentwicklung, politischen Unterdrückungsmechanismen und weiteren destabilisierenden Faktoren, z.B. die Abhängigkeit vom Rohstoffexport sowie ansteigende Waffenexporte, die dann in einer Ursachen-Wirkungskette zum Ausbruch von bewaffneter Gewalt führen.

Eine Untersuchung der Weltbank ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 250 US$ in den nächsten fünf Jahren ein Bürgerkrieg ausbricht, bei 15% liegt. Bei einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 5.000 US$ beträgt die Wahrscheinlichkeit weniger als 1%.(1)

Konstruktive Konfliktbearbeitung
Wie kann nun das „Nein zum Krieg“ mit dem „Ja“ zu konstruktiver Konfliktbearbeitung und einer Arbeit für Friedenskonsolidierung verbunden werden?

Bei der Transformation einer Kriegsgesellschaft in eine Friedensgesellschaft hat sich aus medizinisch-psychologischer Sicht ein Ansatz bewährt, der die Arbeit am Wiederaufbau des öffentlichen Gesundheitswesens in Postkonflikt-Ländern mit den Methoden des Konfliktmanagements integriert, so geschehen im IPPNW-Projekt des „Medizinischen Netzwerks für die soziale Rekonstruktion in den Republiken des früheren Jugoslawien“.(2)

Zwei Handbücher zum Thema sind zu nennen: „War and Public Health“ und „Peace through Health“, sowie der Online-Fortbildungskurs „Medical Peacework“(3), um besonders MedizinstudentInnen, ÄrztInnen und Angehörige weiterer Gesundheitsberufe für medizinische Friedensarbeit zu gewinnen.

Anmerkungen
1) Paul Collier (2003): Breaking the conflict trap. World Bank Policy Research Report

2) Paula Gutlove (2000): Health as a Bridge to Peace: The Role of Health Professionals in Conflict Management and Community Reconciliation, S. 6; www.irss-usa.org/pages/documents/HBPViolencinHealth.pdf.

3) Barry S. Levy, Victor W. Sidel, V. (1997) War and public health. New York: Oxford University Press

Joanna Santa Barbara, Neil Arya (2008) Peace Through Health: How Health Professionals Can Work for a Less Violent World. Kumarian Press

www.medicalpeacework.org

Dieser Artikel beruht auf der Masterarbeit der langjährigen IPPNW-Vorsitzenden Dr. Angelika Claußen. Sie trägt den Titel „Peace through health als moderner Ansatz des konstruktiven Pazifismus“ und kann ab Mitte Februar in der IPPNW-Geschäftsstelle bestellt werden: IPPNW- Geschäftsstelle, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030/698 074 – 0, E-Mail: kontakt [at] ippnw [dot] de

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