Die Starken stärken

Verschiebungen in der Weltwirtschaft seit 1990

von Christoph Scherrer
Schwerpunkt
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Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 war ein großer Erfolg für die reichen Industriestaaten und die transnationalen Konzerne aus mindestens drei Gründen. Erstens wurde der Grundsatz gleiche Regeln für alle („single undertaking“) im internationalen Handel verankert, sprich Ausnahmen von den vereinbarten Liberalisierungsstandards für nachholende Industrieländer sollte es im Prinzip nicht mehr geben.

Natürlich konnte dies nicht sofort umgesetzt werden, aber im Zuge der Beitrittsverhandlungen neuer Mitglieder (darunter Schwergewichte wie China und Russland) näherte sich die WTO diesem Prinzip Schritt für Schritt an. 2016 wurde Afghanistan als 164. Mitglied der WTO aufgenommen, so dass heute fast alle Länder WTO-Mitglieder sind. Zweitens kam unter das Dach der WTO das neue Allgemeine Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen (GATS). Dieses Abkommen verschaffte den großen Dienstleistungskonzernen vor allem in den Bereichen Versicherungen, Banken und Versorgungswirtschaft Zugang zu vielen Märkten. Drittens erfüllte das Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums (TRIPS) einen lang gehegten Wunsch der Pharma- und Softwareindustrie.

Die bilaterale Machtprojektion
Beflügelt von diesem Erfolg, hofften die reichen Nationen, weitere Forderungen der transnationalen Unternehmen durchsetzen zu können. Doch bereits in der WTO-Minister*innenrunde von 1996 in Singapur wurde deutlich, dass die großen industriellen Schwellenländer nicht bereit waren, zumindest nicht ohne substanzielle Gegenleistungen, den Investitionsschutz zu stärken, das öffentliche Beschaffungswesen für die internationale Konkurrenz zu öffnen und den Handlungsspielraum staatlicher Unternehmen sowie für Subventionen noch weiter einzugrenzen. Zu diesen Gegenleistungen, insbesondere zur Öffnung der Agrarmärkte Europas, Japans und der USA, bestand keine Bereitschaft. Deshalb entschieden sich zunächst die USA, ihre Interessen über Handelsabkommen mit einzelnen oder einer kleineren Gruppe von Ländern (bi- oder plurilaterale Abkommen) zu verfolgen. Die Europäische Union (EU) folgte 2006 dieser bilateralen Strategie. Gegenüber der multilateralen WTO können sich reiche Länder besser bilateral gegenüber einzelnen Ländern durchzusetzen. Weil es bei Handelsverhandlungen vor allem um Marktzugang geht, befinden sich die reichen Länder in einer starken Position, da deren Märkte wesentlich attraktiver für Exportinteressen sind als die von armen Ländern. Die Verhandlungsmacht hängt vom Anteil am Welthandel, der relativen Abhängigkeit vom Außenhandel und von der absoluten Kaufkraft ab. Kleinen armen Ländern fehlen die Ressourcen, um bei allen Verhandlungen mit teureren Handelsrechtexpert*innen präsent zu sein. Sie sind auch dem Einfluss der reichen Länder auf anderen Ebenen ausgesetzt, z.B. bei der Entwicklungshilfe. Dies erklärt das starke Gewicht der USA und der EU, aber auch die zunehmende Macht aufstrebender Marktökonomien wie die Volksrepublik China.

Gegenüber den aufstrebenden Ökonomien wollten sich die EU und die USA mittels parallel angestrebten Abkommen im transatlantischen (TTIP) und pazifischen (TPP) Raum durchsetzen. Wenn es in diesem atlantisch-pazifischen Wirtschaftsraum gelänge, die sogenannten Singapur-Themen auf hohem Niveau zu vereinbaren, so die Strategie, dann könnten sich China und die anderen großen Schwellenländer dem nicht entziehen. Vorerst scheiterte allerdings diese Strategie gegenüber China unter dem US-Präsidenten Obama aus innenpolitischen Gründen. Die aggressive direkte Konfrontationsstrategie unter seinem Nachfolger Trump versagte aufgrund der Überschätzung der US-Handelsmacht gegenüber China. Es bleibt nun abzuwarten, welche Taktik Präsident Biden einschlägt, um den Vorsprung der USA zu sichern.

Die Singapur-Themen stärken die Starken
Inwiefern läuft die Vereinbarung der Singapur-Themen auf den Schutz der Starken hinaus? Beginnen wir mit dem Investitionsschutz. Um ausländische Direktinvestitionen in für die eigene Entwicklung förderliche Bahnen zu lenken, erlassen viele nachholende Länder Auflagen, u.a. Bestimmungen über die Höhe ausländischer Beteiligungen, Quoten für die Einstellung einheimischer Arbeitskräfte oder die Verwendung inländischer Vorprodukte. Solche Auflagen sollen unterbunden werden. Darüber hinaus soll sich der Investitionsschutz auf Formen einer direkten und indirekten Enteignung, einschließlich des Rechts auf »angemessene« Entschädigung, und ungehinderte Kapitalflüsse erstrecken. Der für alle staatlichen Ebenen verbindliche Investitionsschutz soll durch ein unabhängiges, umfassendes Investor-Staat Streitschlichtungssystem sichergestellt werden. Insbesondere das Investor-Staat-Schlichtungssystem soll die Unternehmen vor „ungerechtfertigten“ Ansprüchen schützen. Ferner werden Stillhalteklauseln angestrebt, die zukünftige Regulierungen unterbinden sollen.

In den meisten Nationen stellt die staatliche Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen einen erheblichen Anteil dar, der für industriepolitische, ökologische und soziale Zwecke genutzt werden kann. Dieser genutzte Spielraum der Staaten soll durch die neuen Abkommen erheblich eingeengt werden. Der wechselseitige Marktzugang im öffentlichen Versorgungsbereich soll auf allen Ebenen ausgebaut werden. Ausländische Anbieter sollen den lokalen gleichgestellt und Zugangsbarrieren, wie z.B. lokale Wertschöpfungsanteile und Produktionsvorgaben abgebaut und die Schwellenwerte für öffentliche Ausschreibungen gesenkt werden. Regeln, die über die bestehenden WTO-Bestimmungen hinausgehen, sollen einen Demonstrationseffekt auf andere Länder ausüben und entsprechende globale Regelungen voranbringen.

Zur Förderung der heimischen Industrie und zur Sicherung des allgemeinen Zugangs zu Infrastrukturleistungen nutzen nicht nur arme Länder Steuermittel. Entsprechend werden in den neuen Handelsabkommen wettbewerbspolitische Regelungen bezüglich staatlicher Beihilfen, Monopole, Staatsbetrieben und anderen exklusiven Vergünstigungen angestrebt. Staatliche Unternehmen und solche mit gewährten Vergünstigungen sollen jenseits der diesbezüglichen Aufgaben auf kommerzielle Orientierungen verpflichtet und Querfinanzierungen in nicht-monopolisierten Märkten untersagt werden.

Klimawandel, Beschäftigungskrise und Pandemie erfordern ein Umdenken
Statt die geschilderte Konzernagenda zu verfolgen, sollte sich eine weltwirtschaftliche Neuausrichtung nach vier Prinzipien richten: Multilateralismus, wirtschaftspolitischer Spielraum für nachhaltige Entwicklung, Kompensation für Verlierer und vor allem Internalisierung externer Effekte. Für einen fairen Interessenausgleich sind multilaterale Verhandlungsrunden unerlässlich. Dabei sollte Spielraum für nachholende und nachhaltige wirtschaftspolitische Maßnahmen gelassen werden. Da Marktpreise nicht Umweltschäden und den Verzicht auf Einhaltung von Menschenrechten erfassen, die sogenannten externen Effekte bei der Herstellung von Gütern, sind Maßnahmen durch Lieferkettengesetze und auch Zöllen zur Einpreisung der Kosten nachhaltigen Wirtschaftens erforderlich. Im Zeichen der Corona-Pandemie ist insbesondere die Internalisierung der Kosten einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung vorrangig.

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Prof. Dr. Christoph Scherrer ist Volkswirt und Politologe, ist Professor für „Globalisierung & Politik“ an der Universität Kassel und Gründungsmitglied der Global Labor University.