Eine Annäherung an das Konzept und seiner Geschichte

Was ist Soziale Verteidigung?

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Ganz kurz ausgedrückt: Soziale Verteidigung ist ein Konzept des gewaltfreien Widerstands gegen militärische Angriffe oder Staatsstreiche. Seine Entwicklung lässt sich in vier Phasen unterteilen.
1. Die Anfänge gehen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, mindestens bis zu einer Schrift des britischen Pazifisten William James von 1910, „The Moral Equivalent to War“. In den 1930er Jahren wurde die Idee gleich mehrfach formuliert. Gandhi schlug mehreren Ländern angesichts der Bedrohung durch Deutschland eine gewaltfreie Verteidigung vor. In den Niederlanden formulierte der Antimilitarist Bart de Ligt das Konzept einer „gewaltfreien Volksverteidigung“.
2. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren wurde die Soziale Verteidigung dann zu einem bis ins Detail durchdachten Konzept weiterentwickelt. Den Anfang machte der hochdekorierte britische Offizier Stephen King-Hall mit seinem Werk „Den Krieg im Frieden gewinnen“. Er schlug angesichts der Unmöglichkeit, sich mit Atomwaffen zu verteidigen, vor, sich gegen eine mögliche sowjetische Invasion mit gewaltfreien Mitteln zu verteidigen. Ihm folgten schnell weitere Friedensforscher*innen nach, u.a.Gene Sharp, dessen Werke schon früh ins Deutsche übersetzt wurden.
3. Es war der deutsche Politologe und Friedensforscher Theodor Ebert, der in den 1980er Jahren hinzuzufügen begann, dass der erste Testfall für Soziale Verteidigung eintreten könnte, wenn eine deutsche Regierung eine radikale politische Wende hin zu vollständiger Abrüstung und einer ökologisch nachhaltigen Politik vollziehen würde, denn dann bestehe auch die Gefahr eines Putsches durch innenpolitische Kreise, die diese Wende nicht wollten. Namen aus dieser dritten Phase – alles Personen, die auch heute noch an dem Thema arbeiten - sind u.a. Jörgen Johansen, Barbara Müller und Brian Martin. Graswurzelaktivist*innen begannen zur gleichen Zeit infrage zu stellen, ob die Vorstellung einer „Einführung von Sozialer Verteidigung“ durch eine Regierung realistisch sei, oder ob eine solche Wende nicht von unten durch gewaltfreien Widerstand erkämpft werden müsse.
Nach 1989 wurde es erst einmal still um die Soziale Verteidigung. Der Hauptgrund dafür war, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Friedensbewegung einen Schwenk hin zu Konflikten andernorts vornahm – der Irakkrieg 1991, die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien, Ruanda 1994, später dann die westlichen Angriffskriege in Afghanistan und Irak usw.
4. Erst seit zwei oder drei Jahren tritt das Thema „Verteidigung“ wieder mehr in den Vordergrund sicherheitspolitischer Diskussionen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 wandten etliche Friedensaktivist*innen, besonders in Deutschland, sich diesem Konzept der Sozialen Verteidigung wieder zu. Das Interesse hat zwei Gesichter: Zum einen wurde 2022 die auch in diesem Heft vorgestellte Kampagne „Wirksam ohne Waffen“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Soziale Verteidigung in der deutschen Gesellschaft bekanntzumachen und in „Modellregionen“ konkret zu entwickeln. Zum anderen wurde auf den zivilen Widerstand in der Ukraine geblickt und die Frage gestellt, ob Soziale Verteidigung dort nicht eine Alternative zur militärischen Verteidigung hätte sein können. Deutlich ist, dass Elemente Sozialer Verteidigung parallel zur militärischen Verteidigung in dem Krieg praktiziert wurden und werden.

Grundelemente Sozialer Verteidigung?
Bei der Sozialen Verteidigung geht es um eine Verteidigung nicht der Grenzen und des Territoriums, sondern eine Verteidigung der Lebensweise und der Institutionen gegen die Absicht des Gegners, die Herrschaft im Lande zu übernehmen. Das kann ein internationaler Angreifer ebenso sein wie eine Bürgerkriegspartei oder ein Putschist.
Der Grundgedanke dabei: Ein militärischer Besatzer braucht die Mitarbeit der Bevölkerung, um seine Besatzung aufrechterhalten zu können. Wenn keine*r die Anweisungen der Besatzungssoldat*innen befolgt, keine*r die Rohstoffe abbaut oder die Infrastruktur saniert, keine*r zu Parteiversammlungen geht, kein*e Lehrer*in die neuen Curricula umsetzt, dann mag der Angreifer zwar überall seine Truppen oder andere Sicherheitskräfte stehen haben, aber seine Ziele erreicht er vermutlich nicht.
Zum Zweiten ist wichtig: Praktisch jede*r kann sich nach seinen oder ihren Möglichkeiten an dem Widerstand beteiligen. Anders als bei herkömmlicher militärischer Verteidigung braucht es weder besonders physische Fitness noch technischer Kompetenzen. (Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch zivile Widerständler*innen sich in gewaltfreien Trainings vorbereiten sollten.)
Entscheidend scheint, das ist auch eine Lehre aus Studien zu erfolgreichem Zivilem Widerstand, die Verpflichtung, sich auf gewaltlose Methoden zu beschränken. Sobald es parallel zu Gewalt in größerem Maßstab kommt, wird massive Gewaltanwendung durch den Angreifer kaum auf ihn selbst zurückfallen, wie es oftmals der Fall war, wenn ihm Unbewaffnete gegenüberstanden. (In der Literatur ist hier von dem „Backfire“-Effekt die Rede.)
Die Mittel der Sozialen Verteidigung sind die des Zivilen Widerstands. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen:
a.    Methoden, die der Schaffung und Stärkung des Zusammenhalts der Aktiven gelten. Dazu gehören Symbole (Fahnen/Anstecker, bestimmte Farben, symbolische Proteste). In Norwegen unter den Nazis war es eine Büroklammer, die sich Menschen an die Jacke hefteten. In den besetzten Gebieten der Ukraine sind es gelbe Bänder.
b.    Methoden, die das Konfliktverhalten ändern, besonders die den Gegner daran hindern sollen, Gewalt anzuwenden. Dabei wird gewöhnlich nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Einstellung des Gegners eingewirkt. Hierbei wird i. d. R. angenommen, dass es gewisse Hemmschwellen der Gewaltanwendung gegenüber einem unbewaffneten Gegner gibt, zumal wenn die internationale Reaktion (Reaktion externer Parteien) mit berücksichtigt wird.
c.    Methoden, die die gegnerische Partei von ihren Zielen abzubringen suchen (also gerichtet auf den Konfliktinhalt). Hierzu gehört vor allem Nicht-Zusammenarbeit (von Boykott über Streiks, Steuerverweigerung, Ungehorsam bis hin zu Theodor Eberts „Dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration". Mit diesem sperrigen Begriff ist gemeint, dass Menschen nicht in einen Streik treten – wie Beamte es z.B. im Ruhrkampf 1923 taten – sondern am Arbeitsplatz bleiben, aber nach Möglichkeit den Befehlen des Aggressors nicht folgen.
Von der Ankündigung, Widerstand leisten zu wollen, soll ein Gegner von seinem Angriff abgehalten werden. Und gleichzeitig würde die Vorbereitung von Sozialer Verteidigung anstelle von der Anhäufung von immer mehr Waffen auch ein internationales Signal setzen, eine neue, auf gemeinsamer Sicherheit beruhende Friedensordnung aufzubauen. Sie brauchen wir, um der wahren „Zeitenwende“, dem Klimawandel, begegnen zu können.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.