England

Die Sprach-Gewalt der BREXIT-Briten

von Heike Huschauer

Wir in England leben noch gar nicht im Nach-Brexitland, der Austritt kommt erst noch. Das Lebensgefühl hier ist aber „als ob“.

50% oder mehr der täglichen Nachrichten bestehen aus BREXIT. Nicht nur konservative PolitikerInnen, im immerwährenden Trauma des Empireverlustes, sehen sich in einer neuen „Globalen Rolle“ – ohne EU natürlich. Für die meisten BritInnen war die EU ohnehin nur ökonomisch interessant. „What’s in it for me?“ (Was bringt mir das?). Eine Europäische Idee ist ihnen fremd.

Für EU-Anhänger („remainers“) ist BREXIT der Weltuntergang, die brexiteers sind im Dauerjubel. Viele zu viele andere hatten ihr Land schon vorher aufgegeben. Begründete Sorgen um Arbeitsplätze, Gesundheitsversorgung, enorme Studiengebühren u.v.m. Dank gewisser Medien und Rechtsparteien ist ein Sündenbock schnell gefunden: die Andersartigen. Plötzlich bin ich in erster Linie Migrantin. Ein seltsames Leben ist es geworden hier. Sind wir noch willkommen?

Der dramatische mitmenschliche Klimawandel drückt sich für mich in der unerwarteten Verrohung der Sprache aus. Warum macht mir das Angst? Weil Gewalt bis hin zum Völkermord immer Hass-Sprache vorausging.

Tag 1 nach dem Referendum: Ein seit 20 Jahren hier arbeitender Franzose wurde von einem Nachbarn gefragt, ob er schon gepackt hätte. Ein Witz? Nein. „Wir wollten noch nie neben Franzosen wohnen.“

Zwei britische, in Frankreich aufgewachsene Teenager flüstern im Bus nur noch miteinander.

Ich wurde gefragt, ob ich heute mein Hakenkreuz dabei hätte. Auch wurde mir erklärt, „Diesen Krieg gewinnen wir auch.“ Und die EU würde „in the well-known totalitarian Germanic fashion“ regiert (nach bekannter totalitärer deutscher Art). Man gilt als „remainiac“ oder „remoaner“ (Bleibe-Irrer bzw. Bleibe-Miesepeter). Oder man habe das Bleibe-Syndrom. Sogar die Drohung, alle MigrantInnen würden bald Abzeichen tragen müssen, wird laut. „Shut up! You lost! It’s democracy!“ (Halt’s Maul! Ihr habt verloren! Das ist Demokratie!) ist ein beliebtes Argument. Was für ein Demokratie-Verständnis! Einer Bekannten wurde das Konzentrationslager angedroht. Ein Plakat sagt: „We will make life hell for you“ (wir werden euer Leben zur Hölle machen). Mir wurde ernsthaft geraten, auf youtube Reden von Björn Höcke, AfD, anzuhören, wenn ich die Wahrheit wissen wolle. Mit dieser beleidigenden Zumutung umzugehen, fiel mir am schwersten.

Wer wie abgestimmt hat, wird am Arbeitsplatz, im Pub, selbst in Familien zum Tabu. „Don’t ask, keep schtum“ (Frag nicht, halt den Mund). Ich könnte fortfahren.

Damit kein falsches Bild entsteht: Wir wohnen nicht in einer problembeladenen Großstadt, sondern in einem beschaulichen, wohlhabenden, „weißen“ Städtchen in einem Nationalpark. Und trotzdem!

Die Rechtspresse stempelt Richter zu „Landesverrätern“, nachdem sie dem Recht zur Abstimmung zu Brexit im Parlament stattgegeben hatten.

Nur wenige Tage vor dem Referendum wurde die pro-europäische Abgeordnete Jo Cox von einem Rechtsradikalen ermordet, der sich u.a. durch die Presse zur Tat aufgerufen fühlte.

Leider packt auch die pro-europäische Seite ihr Hass-Sprachen-Potenzial aus:

Shitface Farage (Scheißgesicht F.), lager-louts (Sauf-Flegel), brick-shitter (Backsteinscheißer als Wortspiel zu brexiteer), Brex Pistols (nach der Band SexPistols), environment-terrorist, shitty patriots, scum (Dreck), f*ck off. Alles aus Leserbriefen, Zeitungsartikeln und Kommentaren.

Gewalt als gesellschaftsfähige Umgangsform ist keine Trump-Erfindung, ebenso wie die gezielten Lügenhappen fürs Wahlvolk. Aber wer oder was hat bisher „rechtschaffenen“ Menschen, sprichwörtlich höflichen EngländerInnen, die Erlaubnis gegeben, Ärger, Misstrauen, Zukunftsangst in Verachtung und rechtsradikalen Hass umzumünzen? Wie kommt es zu diesen Wut-Bewegungen? Auf die anonyme digitale Welt und ihre Möglichkeiten zu verweisen, ist mir zu einfach. Hier verändert sich etwas in unserer Wirklichkeit.

Was tun, außer auf Demos gehen, Briefe schreiben, Appelle unterzeichnen usw.?

Sind kluge Theorien genug? Wir wollten wissen, was die Menschen um uns erleben und fühlen.

Mit anderen QuäkerInnen haben wir zweimal Orte geschaffen, an dem Menschen miteinander reden konnten. Wir luden ein, auf Karten zu schreiben „I love Europe because …“, die dann auf eine Art Klagewand geheftet wurden. Beim ersten Mal hatten wir nach 2 Stunden 100 Karten und 400 BesucherInnen, und zwar nicht nur Pro-EuropäerInnen.

Erstaunlicherweise gab es keine Anfeindungen, nur riesigen Gesprächsbedarf, viele Scham- und Schuldbekenntnisse, persönliche Erlebnisse, einige Tränen, viele Ängste.

Noch heute hören wir, dass diese Aktionen eine heilende Wirkung gehabt hätten.

Es entstanden viele andere örtliche Aktionsgruppen, viele Demos auch in kleinen Städten.

Und so bleibt meine Hoffnung stark. Demokratie,  Respekt, Versöhnung, Nächstenliebe im Kleinen wie im Großen haben tiefe Wurzeln.

Wir müssen weiter daran glauben und weiter starke Worte und mutige Taten gegen Hass, gegen Angstpropaganda und vor allem gegen ultra-rechtes Gedankengut finden.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Heike Huschauer, Jahrgang 1944, sieht sich als Friedensbewegungsveteranin. Stationen: Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, Blockaden in Mutlangen und im Hunsrück, Pflugscharaktion, Gefängnis, GA-Trainerin, SPD-Politikerin, Frauenbeauftragte. Als Rentnerin sind sie und ihr Mann, Detlef Beck, in einen englischen Nationalpark gezogen, wo sie als Quäkerin immer noch friedensbewegt unterwegs ist.