EU-Militarisierung 2020

Ein Blick in die Kristallkugel

von Sabine Lösing

Als offizielle Geburtsstunde für die Militarisierung der Europäischen Union gilt der Ratsgipfel in Köln im Juni 1999. Auf ihm wurde die grundsätzliche Entscheidung getroffen, eine EU-Eingreiftruppe für globale Kriegseinsätze aufzustellen. Ein halbes Jahr später wurde auf dem Folgetreffen in Helsinki vom 10. bis 12. Dezember die Zielgröße der mittlerweile für einsatzbereit erklärten Truppe ausgegeben: 60.000 Soldaten (was aufgrund der erforderlichen Rotation und logistischen Unterstützung einem Gesamtumfang von zirka 180.000 Soldaten entspricht). Erste Einsätze folgten bereits im Jahr 2003, seither werden immer häufiger Militärs zur Durchsetzung europäischer Interessen eingesetzt. Bis 2009 waren es etwa 70.000 Soldaten in 22 sog. ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) –Einsätzen und Missionen.

Einerseits sind Umfang und Tempo der EU-Militarisierung beängstigend; andererseits ist man bei Weitem noch nicht so weit, wie man gern wäre. Denn die Zielsetzungen sind überaus ambitioniert: So beschloss der Europäische Rat im Dezember 2008, schnellstmöglich die Kapazitäten aufzubauen, um künftig bis zu 19 ESVP-Einsätze gleichzeitig durchführen zu können – darunter je zwei hochintensive Kampfoperationen und zwei "Stabilisierungsmissionen", also Besatzungseinsätze wie der in Afghanistan.

Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon liefert nun auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, um die EU-Militarisierung weiter zu forcieren. Bereits im Vorfeld begaben sich Europas Militaristen in die Startlöcher. In freudiger Erwartung wurden in den letzten Monaten zahlreiche "Wunschlisten" ausgearbeitet, welche Maßnahmen nun zu ergreifen seien. Der mit Abstand wichtigste Forderungskatalog wurde in diesem Zusammenhang vom "Institute for Security Studies" (ISS) der Europäischen Union veröffentlicht. "What Ambitions for European Defence in 2020?" (fortan: ISS 2020) erschien zuerst im Juli 2009 und ging nach dem "erfolgreichen" irischen Ja zum Vertrag von Lissabon in eine zweite, überarbeitete Auflage.

Fokus auf Großmachtkonflikte
Neben dem "Umgang" mit Konflikten in der so genannten Dritten Welt beschäftigen sich die Beiträge auch mit den wachsenden Rivalitäten zwischen den Großmächten. Tomas Ries, Direktor des "Swedish Institute for International Affairs", liefert die umfassendste Bedrohungsanalyse des Sammelbandes. Die Gefahr durch staatliche Akteure sei zwar im Vergleich zum Kalten Krieg zurückgegangen, jedoch keineswegs obsolet. Explizit benannt werden dabei Nordkorea, der Iran und Russland. Diese Staaten hätten sich aus dem Globalisierungsprozess ausgeklinkt und würden deshalb eine – zumindest potentielle – Bedrohung darstellen: "Die Aufgabe besteht darin, diese (Länder), sofern möglich, umzudrehen und, falls das scheitert, mit ihrer Kampfansage an die sich globalisierende Welt fertig zu werden. Das wird Kapazitäten für harte Machtausübung erfordern. (…) Wir können davon ausgehen, dass die ESVP im Jahr 2020 verschiedene Aufgaben bewältigen muss. (…) Gegenüber diesen (Staaten) sind Kapazitäten sowohl zur Unterstützung einer Einflussausübung im Clausewitzschen Sinne als auch für mögliche direkte militärische Konfrontationen erforderlich." (ISS 2020: S. 68 f.)

Bekämpfung der Armen statt Armutsbekämpfung
Besonders eifrig ist Ries um den Schutz des globalisierten Systems bemüht. Denn nicht nur in der Kriegsursachenforschung, auch im Militärestablishment ist man sich bewusst, dass die vom neoliberalen Globalisierungsprozess verursachte Armut zu zunehmenden Konflikten in der "Dritten Welt" führen wird. Weil sich dieses System aber als überaus profitabel für europäische Konzerninteressen erwiesen hat, steht ein Kurswechsel nicht zur Debatte. Im Gegenteil, trotz der fatalen Folgen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise gerade für die Länder des globalen Südens hat, beabsichtigt die Europäische Union, ihre neoliberale Außenwirtschaftspolitik beizubehalten, ja sogar noch zu intensivieren.

So besehen bleibt den EU-Militärstrategen wenig anderes übrig, als sich auf die "Stabilisierung" zunehmender Armutskonflikte vorzubereiten, um den Dampfkessel der Globalisierungskonflikte halbwegs unter Kontrolle zu halten. Tomas Ries räumt dies mit einer geradezu unverfrorenen Offenheit ein, indem er als künftige zentrale Aufgabe der EU-Militärpolitik folgendes benennt: "Abschottungsoperationen (Barrier operations) – die globalen Reichen gegen die Spannungen und Probleme der Armen absichern. Da der Anteil der Weltbevölkerung, die in Elend und Frustration lebt, erheblich bleiben wird, werden die Spannungen und Übertragungseffekte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiter zunehmen. Weil wir wahrscheinlich dieses Problem bis 2020 nicht an seiner Wurzel gelöst haben werden, (…) müssen wir unsere Barrieren verstärken." (ISS 2020: S. 73) Folgerichtig wurde auf der EU-Ratssitzung Ende Oktober 2009 ein weiterer Ausbau der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX beschlossen.

Es besteht aber auch direkter Interventionsbedarf "vor Ort", und zwar spätestens dann, wenn relevante ökonomische und/oder strategische Interessen betroffen oder die Stabilität des Gesamtsystems gefährdet sind. Mit den Worten des intellektuellen Schreibtischtäters Ries: "Die Absicherung der Finanz-, Handels- und Warenströme wird eine Kapazität für globale ordnungspolitische Polizeieinsätze (policing) erfordern." (ISS 2020: S. 69)

Zivil-militärische Besatzungstruppen
Zur Stabilisierung der turbulenter werdenden Peripherie sei endgültig Abstand von früheren Ansätzen zu nehmen, die bei Einsätzen angeblich auf Zurückhaltung, Neutralität und die Zustimmung der Konfliktparteien gesetzt hätten. So dies je der Fall war, ist diese Phase nun für Ries endgültig Geschichte: "Social engineering" mittels militärischem "Nation building" ist heute angesagt: "Operationen mit Bodentruppen" ("Boots on the Ground Operations") seien in zunehmendem Maße erforderlich, und zwar für "die Gewährleistung von Sicherheit zur Konfliktbewältigung oder zum Nation Building im Übergang von der konsensuellen Friedenswahrung zur Friedenserzwingung." (ISS 2020: S. 63) Bei solchen Einsätzen steht jedoch nicht mehr die Bekämpfung einer regulären Armee, sondern die Kontrolle einer Krisenregion mittels Besatzung und "Nation Building" im Vordergrund.

Für ein solches "Social engineering" sind Soldaten aus offensichtlichen Gründen nur bedingt geeignet, hierfür werden zivile Akteure (vom Brunnenbauer über den Juristen bis zum Agrotechniker) zur Unterstützung militärischer Interessensdurchsetzung benötigt.

Die Intensivierung dieser "zivil-militärischen Zusammenarbeit" (CIMIC) wird in einer aktuellen Studie des einflussreichen "European Council on Foreign Relations" näher ausgeführt.(1) Dort heißt es, die "dogmatische Unterscheidung" zwischen Sicherheits- und Entwicklungspolitik sei "obsolet". Die EU müsse "ihre komplette Herangehensweise an Auslandsinterventionen überdenken." Man müsse in der Lage sein, "Gewalt mit kürzerer Vorlaufzeit anzuwenden". Für die 20 ohnehin unter permanenter Beobachtung stehenden "instabilsten" Staaten müsse jeweils ein EU-Sonderbeauftragter ernannt werden, unter dessen Ägide detaillierte Vorausplanungen erfolgen müssten: "Jeder Plan sollte einen Anhang haben, in dem Notfallpläne für militärische Interventionen enthalten sind." Gleichzeitig sollen die zivilen Kapazitäten der EU massiv ausgebaut und engstens mit den militärischen Strukturen verzahnt werden. Als "Motivationshilfe" wird vorgeschlagen, dass Mitgliedsländer, die die vorgegebenen Planziele verfehlen, künftig von jeglichen Führungspositionen in der EU ausgeschlossen werden.

Auch soll künftig unter dem Dach des gerade im Aufbau befindlichen Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) die zivile und militärische Einsatzplanung ganz im Sinne einer "imperialen Machtpolitik aus einem Guss" untrennbar miteinander verzahnt werden.(2)

Der EAD dient zugleich als Vorbild gerade für Deutschland. Der neue Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) forderte bereits, sein Ministerium solle künftig stärker auf die Durchsetzung deutscher Interessen verpflichtet und perspektivisch ins Auswärtige Amt integriert werden. Offensichtlich drohen zivile und militärische Mittel bis zur Unkenntlichkeit zu verschmelzen. Die fatalen Folgen lassen sich derzeit in Afghanistan beobachten, wo CIMIC erstmals in großem Stil erprobt wird. Befragt nach den entwicklungspolitischen Aufgaben in Afghanistan antwortet Niebel: "Unsere Streitkräfte und zivilen Aufbauhelfer müssen am gleichen Ziel arbeiten", nämlich an der Durchsetzung deutscher Interessen.(3) Erfreulicherweise kritisiert der Verband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen (VENRO) diese Entwicklung aufs Schärfste: "[CIMIC] bedeutet in der Konsequenz, dass die staatliche Entwicklungszusammenarbeit und Aufbauhilfe den militärische Zielen im Sinne einer 'Aufstandsbekämpfung' untergeordnet ist. [...] Diese Vereinnahmung der Entwicklungshilfe durch das in­ternationale Militär [verursacht] eine unselige Vermischung von Interessen und Zielen, die der Sache der Armutsbekämpfung und Entwicklungsförderung abträglich ist."(4)

Militäreinsätze im In- und Ausland
Besonders bedenklich ist auch die Militarisierung der Innenpolitik, die mit dem Vertrag von Lissabon ebenfalls einen weiteren Schub erhalten dürfte. Hier ist es die "Solidaritätsklausel" (Artikel 222), die Militäreinsätzen im Inland Tür und Tor öffnet. In ihr ist nicht nur festgehalten, dass die EU-Länder einem Mitgliedsstaat mit allen zivilen und militärischen Mitteln zur Seite eilen, sollte sich ein Terroranschlag ereignen, sondern auch bei "einer vom Menschen verursachten Katastrophe". Da dies auch soziale Unruhen mit einschließt, betont EU-Militärstabschef Bentégeat, das "originelle" an der Solidaritätsklausel sei keineswegs die Möglichkeit für Inlandseinsätze zur Terrorabwehr: "Das zweite Element ist interessanter, da es den Einsatz militärischer Mittel auf dem Gebiet eines Mitgliedsstaates auf Anforderung seiner politischen Autoritäten vorsieht." (ISS 2020: S. 99)

Offensichtlich werden EU-Soldaten künftig immer häufiger an vorderster Front marschieren – sei es im In- oder Ausland. Umso notwendiger wird es sein, hiergegen Widerstand zu organisieren.

 

Anmerkungen
1) Korski, Daniel/Gowan, Richard: Can the EU Rebuild Failing States?, ECFR Policy Paper, October 2009

2) Vgl. Hantke, Martin: Der Europäische Auswärtige Dienst: Imperiale Machtpolitik aus einem Guss, in: AUSDRUCK (Dezember 2009).

3) Niebel will in Afghanistan Vernetzung von Entwicklungshilfe und Militär: http://www.epd.de/index_70633.html

4) Was will Deutschland am Hindukusch?, VENRO-Positionspapier, 7/2009.

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes der beiden AutorInnen im AUSDRUCK (hrsg. von der IMI) vom Februar 2010.

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Sabine Lösing ist außen- und sicherheitspolitische Sprecherin der LINKEN im Europaparlament und Vorsitzende DIE LINKE Niedersachsen.