Führbarkeit von Kriegen

Ein großer Krieg kennt nur Verlierer

von Otmar Steinbicker
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Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, veröffentlichte die US-amerikanische außenpolitische Fachzeitschrift „Foreign Policy“ einen ausführlichen Beitrag unter dem Titel „Invasions Don’t Pay Off Anymore“ (Invasionen zahlen sich nicht mehr aus) (1). Die damalige Präsenz einer massiven russischen Streitmacht an den Grenzen der Ukraine wertete die Zeitschrift vor allem als einen „einschüchternden Schachzug“. Zwar wurde eine reale Invasion nicht völlig ausgeschlossen, doch als realistischer sah man, dass Putin den von ihm gewünschten Einfluss und entsprechende Zugeständnisse mit anderen Mitteln bekommen könnte. Als einen zentralen Aspekt führte die Zeitschrift die enormen gestiegenen Kosten moderner Rüstung an. Für das Geld, das alle 640 Spitfire-Flugzeuge, die Großbritannien in der Schlacht um England einsetzte, kostete, könnte man umgerechnet nicht einmal ganze sechs modernste F-35-Kampfflugzeuge kaufen. Auch die Ausrüstung eines einzelnen US-Soldaten sei von 1941 bis heute von 160 auf 18.000 Dollar gestiegen. Die hohe Zahl an Toten während kurzer Zeit habe in jüngster Zeit darüber hinaus dazu geführt, dass Kriege zwischen Staaten schneller beendet würden als früher.

Schon gegen Ende des Kalten Krieges in den späten 1980er Jahren waren Militärs in Ost und West auch unter weiteren und weitgehenderen Gesichtspunkten zu der Schlussfolgerung gelangt, dass nicht nur ein Atomkrieg, sondern auch ein großer, weiträumig geführter konventioneller Krieg nicht mehr führbar sei, weil die Verluste zu hoch und damit inakzeptabel seien und keine Seite einen solchen Krieg gewinnen könnte.

In völligem Gegensatz zu all diesen Erkenntnissen wird heute in der Ukraine mit großer Truppenzahl und hoher Intensität Krieg geführt. Wie hoch die Verluste sind, lässt sich derzeit kaum ermessen, da die Kriegsparteien eher geneigt sind, die jeweils feindlichen Verluste höher zu taxieren und die eigenen klein zu reden. Eine unabhängige Überprüfung ist derzeit nicht möglich. Dass die Zahlen in die Kategorie von Zehntausenden auf jeder Seite gehen, dürfte unbestritten sein. Im Afghanistankrieg von 1980 bis 1989 verzeichnete die UdSSR 14.453 tote und 53.753 verwundete Soldaten. Die russischen Verluste in der Ukraine könnten bereits nach vier Kriegsmonaten höher liegen, womöglich auch die ukrainischen.

Die Annahme, es würde angesichts der absehbar hohen Verluste schnell zu einer einer für beide Kriegsparteien einigermaßen akzeptablen Verhandlungslösung kommen, war noch im März nach einem Treffen beider Seiten in Istanbul hoch. Doch herrscht inzwischen auf beiden Seiten eine verbissene Position, den Krieg notfalls bis zum letzten Soldaten auszufechten. Am 17. Juni schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in der zweiten US-amerikanischen außenpolitischen Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ in einem langen Beitrag seine Vorstellungen nieder, wie die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen und dabei eine Rückgabe aller besetzten Gebiete, nicht nur im Donbass, sondern auch der Krim erzwingen wolle.

Ob Kulebas oder Putins Kalkulationen, den Krieg gewinnen zu können, aufgehen, wird sich zeigen. Der bisherige Kriegsverlauf lässt daran eher Zweifel zu. Putins Strategie, zum Zeitpunkt des Überfalls handstreichartig die ukrainische Hauptstadt Kiew einzunehmen und schnell an drei Fronten Geländegewinne zu erzielen, war schon nach wenigen Tagen kläglich gescheitert. Seine Panzertruppen, die bei der Zufahrt auf Kiew zum Teil mit kleinen Drohnen gestoppt wurden, mussten geschlagen umkehren. Zugleich gelang es den russischen Truppen mühsam und unter hohen Verlusten, bis Ende Juni weite Teile des Donbass zu besetzen, wobei ukrainische Truppen sich zurückziehen und Gelände aufgeben mussten, um einer Einkesselung zu entgehen.

Die Kriegführung in der Ukraine 2022 ähnelt nicht den großen weiträumig geführten Kriegsszenarien des Zweiten Weltkrieges und schon gar nicht der handstreichartigen Einnahme der Krim 2014, sondern womöglich eher dem Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges, einem entsetzlichen Gemetzel.

Was in den täglichen Medienberichten über die jeweilige Frontlage untergeht, ist eine andere Problematik der Frage, ob heute größere Kriege noch führbar sind. Da geht es nicht nur um die Ukraine und Russland, sondern letztlich womöglich um die Existenz der gesamten Menschheit. Um dem Klimawandel zu begegnen, dessen Folgen bereits überall auf der Welt deutlich spürbar sind, dürften Kriege nicht mehr als führbar betrachtet werden. Zum einen heizen die Kampfhandlungen unmittelbar den Klimawandel an, zum anderen werden Ressourcen und Gelder, die hier und jetzt dringend für den Klimaschutz auf den verschiedenen Gebieten – von der CO2-Einsparung bis hin zum verstärkten Deichbau – eingesetzt werden müssten, dieser Aufgabe entzogen und entweder direkt in den Krieg gepumpt oder wie in Deutschland für die Hochrüstung verwendet werden.

Wie unter den gegenwärtigen und absehbaren Konfrontationsszenarien gemeinsame Schritte mit Russland unternommen werden könnten, um der Gefahr eines Auftauen des riesigen sibirischen Permafrostbodens entgegen zu wirken, erscheint kaum denkbar.

Die Logik in der Endphase des Kalten Krieges, dass ein großer Krieg keine Gewinner, sondern nur noch Verlierer kennt, bekommt unter dem Aspekt des Klimawandels eine Bedrohungsdimension, die in den 1980er Jahren noch so gut wie gar nicht in Erwägung gezogen wurde.

Anmerkungen
1 https://foreignpolicy.com/2022/02/22/invasion-russia-ukraine-pay-off
2 https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-06-17/how-ukraine-w...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de