Friedensbewegung in den 50er Jahren

von Hans Karl Rupp
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Hans Werner Richter, Schriftsteller, Organisator der Gruppe 47 und de­ren Doyen, drückte es so aus: "Es protestieren Professoren, Schrift­steller, Regisseure, Schauspieler, Journalisten, es protestiert fast das ganze geistige Deutschland, geschlossener und einiger als je zuvor...". Gemeint war die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die am 25. März 1958 vom Bundestag beschlossen worden ist. Die sich damit ankündi­gende Einbeziehung der westdeutschen Streitkräfte in das Atomkriegs­konzept der NATO provozierte die wohl eindrucksvollste außerparla­mentarische Aktivität in den stillen fünfziger Jahren. In der Tat beteiligte sich in jenen Tagen an Kundgebungen, Mahnwachen und Demonstrati­onszügen durch die Innenstädte die Literatur-, die Film-, die Wissen­schaftsprominenz der jungen Bundesrepublik - von Gertrut von Le Fort bis Hans Magnus Enzensberger, von Dieter Borsche bis Victor de Kowa, von Max Born bis Max von der Laue. Bezeichnenderweise jährte sich gerade die Annahme des Ermächtigungsgesetzes durch den deutschen Reichstag zum 25. Male.

Überall entstanden Komitees "gegen den Atomtod", eine Volksbefragung wurde gefordert, von einzelnen Politi­kern wie dem jungen Helmut Schmidt gar ein "Demonstrationsstreik" der Ge­werkschaften gegen die Bundestagsent­scheidung gefordert. Hans Werner Richter allerdings formulierte auf dem Höhepunkt der Aktionen bereits Skep­sis: "Wo bleibt der Marsch des Volkes nach Bonn?... Und jeder, der so fragt, sieht dabei nach oben, erwartet Be­schlüsse, Aufforderungen, Anforderun­gen, Befehle. Er erwartet sie mit dem uns eigenen Untertanengeist von den Führern der Gewerkschaft, von den Parteivorsitzenden, von irgendwelchen Organisationszentralen und nicht zuletzt sogar von jenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich in dieser Auseinandersetzung nach vorn gestellt haben."

Doch nicht einmal die Aufforderungen  kamen. Allein die Initiative zu einer Volksbefragung kam in Gang; ihre Durchführung in den Bundesländern Hamburg und Bremen sowie in den Städten Frankfurt und Darmstadt, von den zuständigen Parlamenten beschlos­sen, wurde allerdings vom Bundesver­fassungsgericht per Einstweiliger An­ordnung noch rechtzeitig vereitelt. Da­mit spätestens - Ende Mai 1958 - kam die Bewegung "Kampf dem Atomtod" zum Stehen.

Dieser späten Klimax einer Friedensbe­wegung der fünfziger Jahre waren zahl­reiche punktuelle Aktionen vorausgegangen. Bereits zu Beginn des Korea-Kriegs führte der Protest gegen eine "Wiederbewaffnung" zu einem ersten spektakulären Ergebnis: Angesichts ei­ner breiten "Ohne-mich"- Stimmung in der Bevölkerung trat der Innenminister Adenauers, Gustav Heinemann, von sei­nem Amt zurück und gründete eine ei­gene Partei, die bald allerdings erfolg­reich als DDR-finanziert diffamiert werden konnte, obwohl sie von so unta­deligen Persönlichkeiten wie evangeli­schen Kirchenpräsidenten und promi­nenten katholischen Schriftstellern wie Reinhold Schneider unterstützt wurde. Während die führende Oppositionspartei der Adenauer-Ära, die SPD, zum "Ver­teidigungsbeitrag" eine "Ja, aber"- Posi­tion einnahm, wurden die Aktionen der bis 1956 noch legalen KPD, u.a., die Initiierung einer bundesweiten Unter­schriftensammlung "gegen Remilitari­sierung", von den Innenministern der Bundesländer bald verboten. Die KPD hatte immerhin im Laufe weniger Mo­nate 5,9 Millionen Unterschriften "ge­gen Remilitarisierung und für Ab­schluß eines Friedensvertrages" gesam­melt.

Während sich SPD und DGB-Gewerk­schaften vor 1958 nur ein einziges Mal an außerparlamentarischen Aktionen gegen die "Wiederbewaffnung" betei­ligten - angesichts des ihres Erachtens zu raschen NATO-Beitritts der jungen Bundesrepublik im Frühling 1955 -, ent­stand sukzessive im Laufe der fünfzi­ger Jahre in vielen Städten der Bundes­republik ein lockerer, informeller Kommunikationszusammenhang zwi­schen antimilitaristischen Spektren. Er betraf kritisches konfessionelles Publi­kum um die Zeitschriften "Werkhefte katholischer Laien", "Frankfurter Hefte", "Stimme der Gemeinde", "Junge Kirche", junge, zumeist kriegserfahrene Kriegsgegner um die wieder- bzw. neu­entstehenden Kriegsdienstverweigerer-Verbände, die Deutsche Friedensgesell­schaft (DFG), die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) und den Ver­band der Kriegsdienstgegner (VK) mit ihren Zeitschriften "Friedensrundschau" und "Zivil". In die Kommunikation ein­bezogen wurden von Fall zu Fall auch die Angehörigen KPD-orientierter Frie­densgruppen wie der "Weltfriedens­e­wegung" und der noch legalen "Freien Deutschen Jugend" (FDJ), wobei die gleichzeitige Militari­sierung der Gesell­schaft der DDR bei diesem Personen­kreis eine nicht zu schließende Glaub­würdigkeitslücke immer erneut reprodu­zierte. Zum Kommunikationsspektrum einer west­deutschen Friedensbewegung in nuce zählte z.T. auch nationalgesinn­tes Bil­dungsbürgertum, das zwischen "Rückzug ins Private" und Wiederverei­nigungs-Phantasie hin und her schwankte, und das sich in Zeitschriften wie dem "Bulletin des Fränkischen Kreises" oder der "Zeitschrift für Geo­politik" angesprochen fühlte. Unver­zichtbar für die Kommunikation der Friedensgruppen waren - und blieben auch später - die Einrichtungen der Ar­beiterjugendorganisationen, die Häuser der Gewerkschaftsjugend, der Natur­freundejugend und der Falken, ohne die ein solches Kommunikationsnetz schwerlich Bestand gehabt hätte.

Die Frontlage der Bundesrepublik im Kalten Krieg machte indessen ein Er­eignis in der Geschichte der Friedens­bewegung der fünfziger Jahre krass bewusst: Auf Initiative des Darmstädter Studentenpfarrers Herbert Mochalski, eines Überlebenden des kirchlichen Wi­derstandes gegen die NS-Diktatur, fand im März 1952 ein "Westdeutsches Tref­fen der jungen Generation" statt, an dem sich ca. 1200 Aktive konfessioneller Ju­gendverbände, pazifistischer Organisa­tionen, der Pfadfinder und der FDJ be­teiligten. In der Schlussresolution wurde "angesichts der drohenden Wiederaufrü­stung Westdeutschlands der Notstand für das gesamte deutsche Volk" ausge­rufen und die "deutsche Jugend" auf­gefordert, der Wiederbewaffnung "ge­meinsam zu widerstehen". Hierdurch sich legitimiert fühlend rief die FDJ für den 11. Mai 1952 in Essen zu einer Großkundgebung auf, die vom Innen­minister des Landes NRW, einem Christdemokraten, keine 24 Stunden vor Kundgebungsbeginn verboten wurde. Die Weigerung der FDJ, Folge zu lei­sten, beantwortete die Polizei mit äußer­ster Brutalität; sie erschoss einen De­monstranten und verletzte weitere an­ge­reiste Kundgebungsteilnehmer schwer. Augenzeugen fühlten sich durch die Übergriffe der Polizei - die im Übrigen ungeahndet blieben - unmittelbar an den Straßenterror der Nazis ein paar Jahre zuvor erinnert.

Die Friedensaktivisten der fünfziger Jahre befanden sich also in einer z.T. äußerst gefährlichen, konfrontativen Situation, die einschüchternd, ja entmu­tigend wirkte. Antikommunismus als Staatsdoktrin und Obrigkeits-Orientie­rung auch der mit der Regierungspolitik Unzufriedenen verhinderte eine wirkli­che Friedens"bewegung" - trotz Ruinen in den Städten, trotz Kriegsopfer in je­der Familie. Erst die - ganz kurzzeitige - Unterstützung durch DGB und SPD konnte zur - vorübergehenden - Aufhe­bung der Diskriminierungs-Blockaden des Kalten Krieges führen. Bezeichnen­derweise führte der Aufruf "Kampf dem Atomtod!" vom März 1958, in schwarz-rot-gold-gerahmten Plakaten mit den Unterschriften der erwähnten Intelli­genz, aber auch der führenden Politiker von SPD und DGB versehen, an allen Litfaßsäulen plakatiert zu den mit Ab­stand größten Friedenskundgebungen der Bundesrepublik der Fünfziger Jahre. Man kann - für die Zeit zwischen März und Juni 1958 - von mindestens 325.000 Kundgebungsteilnehmern sprechen. Theo Pirker vertritt gar die Ansicht, noch nie sei es SPD und Gewerkschaf­ten gelungen, "für eine Losung so viele Hunderttausende zu mobilisieren."

Nach dem Scheitern auch dieser Aktio­nen - bald passte sich die SPD an den si­cherheitspolitischen Kurs der CDU fast vollständig an - mußte die Friedensakti­vität wieder ganz von vorne beginnen. In den frühen sechziger Jahren entstand aus den beschriebenen Kommunikati­onsnetzen der fünfziger Jahre - die Ostermarsch-Bewegung. Ihr britisches Vorbild wurde fast kopiert; die Abgren­zung zur inzwischen illegalen KPD wurde genauso durchgehalten wie jene 1958 durch die "Kampf-dem-Atomtod"-Organisation - hier gab es zwischen Pa­zifisten, Christen und Sozialisten Kon­sens; freilich hinderte das in den ersten Jahren des Ostermarsches SPD und DGB nicht, sich in gröbster Form von den Ostermärschen zu distanzieren.

Indessen wurde aus den Ostermarsch-Aktionen eine kontinuierliche Bewe­gung, die aus Kriegsdienstverweigerer-Gruppen, Arbeiterjugend-Organisatio­nen, kirchlichen Kreisen und aus Stu­dentenorganisationen, SDS und bald auch SHB, einen Konnex entwickelte, der als "Bewegung von unten" einen er­heblichen Teil der Infrastruktur der 68er-Bewegung produzierte.

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Hans Karl Rupp ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mar-burg und Autor des Buches "Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer"