Umgang mit Aggression und Gewalt in der Jugendhilfe

Ist eine Gesellschaft ohne Gewalt möglich?

von Andreas Kraniotakes Florian Siegmund

Die Begriffe Aggression und Gewalt werden in unserer Gesellschaft oft synonym verwendet. Die damit verbundenen Empfindungen sind allerdings sehr unterschiedlich. Unsere Definition orientiert sich an der wissenschaftlichen Psychologie, gemäß Hans-Peter Nolting (2015) und der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg.

Es gibt verschiedene Formen der Aggression, z. B. die geplante oder bedürfnisbefriedigende Aggression und die konternde Reaktion, die auf aversive Reize, Frustrationen, Bedrohungen reagiert. Das kann sich in körperlichen oder verbalen Formen ausdrücken.   

Gewalt kann Teil des Aggressionsverhaltens sein und schwerwiegende Formen wie körperliche Angriffe, Einsatz von Waffen, psychische und physische Misshandlungen annehmen. Alle Gewalthandlungen werden als aggressiv gewertet, jedoch nicht alle aggressiven Verhaltensweisen sind als Gewalt zu betrachten.

Was als aggressives Verhalten empfunden wird, kann individuell sehr stark variieren. In unserer Gesellschaft liegt der Fokus meiste auf körperlicher Gewalt. Gleichzeitig belegen verschiedene Studien, dass psychische Gewalt vom Gehirn ebenso stark wahrgenommen wird wie körperliche. Konkret bedeutet das, dass die menschliche Wahrnehmung keinen Unterschied macht zwischen physischer und psychischer Gewalt.

Wenn wir uns auf schützende Gewalt beziehen, geht es um Situationen, in denen Menschen Gewalt ausüben, um Leid abzuwenden. Beispielsweise, wenn ein Elternteil sein Kind von der Straße wegzieht, damit es nicht von einem Auto erfasst wird. Der Einsatz von Gewalt kann also auch eine positive Auswirkung auf ein Individuum oder das Miteinander haben, wenn es sich um „schützende Gewalt“ handelt.

Gewalt als Alltag
In der Jugendhilfe und der pädagogischen Arbeit gehört Gewalt an vielen Stellen zum Alltag – von Raufereien in Kitas über Mobbing in der Schule bis hin zu organisierter Kriminalität bei Jugendbanden. Gleichzeitig wird dies in der Ausbildung von Fachkräften nur selten berücksichtigt. Insbesondere die Vermittlung konkreter Bewältigungsstrategien für den Umgang mit Gewalthandlungen und Gewaltlatenz findet unzureichend statt. Leider fehlt es auch im Bereich der Fort- und Weiterbildung vielerorts an geeigneten Angeboten. Wenn eine Person aufgrund ihrer Biografie nicht die Fähigkeiten entwickelt hat, mit Gewalt kompetent umzugehen, ist eine Überforderung im Arbeitsalltag vorprogrammiert. Wenn wir die Entwicklung der Jugendhilfe betrachten, von einer Pädagogik kommend, in der der Zweck die Mittel heiligt, sind wir nun an einem Punkt, an dem sich die Pädagogik verbietet sich Gewalt als pädagogisches Mittel, auch schützende Gewalt, als (pädagogisches) Mittel verbietet. Diese Grundhaltung hat den Preis, dass das Helfersystem schnell überfordert ist.

Eine zusätzliche Problematik ergibt sich oft auch aus den unterschiedlichen Lebensrealitäten, aus denen Jugendliche und die sie betreuenden Fachkräfte kommen. Während viele der Fachkräfte im Arbeitsalltag das erste Mal mit latenter Gewaltbereitschaft oder Gewalthandlungen konfrontiert werden, ist dies für die betroffenen Jugendlichen fester Bestandteil ihrer Biografie. Sie haben Überlebensstrategien entwickelt, die Gewaltanwendung beinhalten. Ohne diese wären sie in ihrem Familien oder Herkunftsgesellschaften teilweise nicht (über-)lebensfähig gewesen. Diese jungen Menschen in ein anderes, gewaltbefreites Setting zu setzen und von ihnen zu erwarten, dass sie die über Jahre erlernten Lösungsstrategien ablegen, einfach nur, weil es ihnen von  pädagogischen Fachkräften vermittelt  wird, ist eine unrealistische Annahme. , Leider stellt dies häufig die Grundlage der Hilfeplanung bzw. der Konzeption der jeweiligen Träger in der Jugendhilfe dar.

Menschen dort abholen, wo sie stehen?
Der ur-pädagogische Gedanke, „die jungen Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“, scheitert in diesen Fällen also schlichtweg daran, dass die Helfenden nicht dieselbe Sprache sprechen und zudem aus ganz anderen Welten kommen.

Um für die jungen Menschen ein Lebensumfeld zu schaffen, das deren Aggression und Gewaltbereitschaft auszuhalten in der Lage ist, kommt unserer Einschätzung und Erfahrung nach auch die Pädagogik nicht um die Anwendung von schützender Gewalt herum. Hier muss jedoch gelten, so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Zudem muss eine solche Handlung immer aus einer Haltung des Wohlwollens und der Empathie kommen, um größeres Leid abzuwenden, wie z.B. einen jungen Menschen (zur Not auch mit körperlichen Mitteln) daran zu hindern, sich selbst oder andere zu verletzen.

Verständnis für die individuelle Geschichte eines Jugendlichen und ein Bewusstsein darüber, dass hinter jedem aggressiven Verhalten immer ein Schmerz steckt, der gesehen werden will, sind eine Grundvoraussetzung für professionellen Umgang. Eine Veränderung des Verhaltens wird sich nicht durch Verurteilungen, Wegsehen, Kontaktabbruch oder Wegsperren einstellen.

Momentan ist es leider viel zu oft der Fall, dass auf gewaltbereite Jugendliche seitens des bestehenden Systems, in dem die Fachkräfte ausgebildet werden, mit Resignation reagiert wird. Hieraus resultieren Aussagen (und Haltungen) wie „dieser junge Mensch ist hier nicht tragbar“. Als Resultat werden häufig die Hilfemaßnahmen beendet. Die jungen Menschen lernen so, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Diese Erfahrung ist für die psychosoziale Entwicklung jedes Jugendlichen eine enorme Herausforderung. Da sie weder daran schuld sind, dass sie hilfebedürftig geworden sind, noch liegt es daran, dass die Helfenden mit ihnen überfordert sind, wohnt dieser Dynamik doch eine besondere Tragik inne. Das Helfersystem kommt seinem Hauptauftrag, dem Helfen, in diesem Moment nicht nur nicht nach, es negiert ihn sogar.

In vielen Fällen führt der Weg eines gewalttätigen jungen Menschen über ruhigstellende Medikamente weiter in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), wo er sediert werden darf.

Um der Überforderung Herr zu werden, wird vielerorts versucht, mit einer Aufstockung der Personalstärke einer erhöhten Gewaltbereitschaft zu begegnen. Da jedoch Aus- und Fortbildungsangebote unverändert bleiben, kommt es immer weiter zu Überforderungen. Diese betreffen dann lediglich einzelne Mitarbeitende weniger häufig, jedoch in derselben Heftigkeit. In manchen Situationen werden, mittlerweile trotz großer Vorbehalte, Sicherheitsdienste eingesetzt. Dies ist mit vielen Risiken behaftet, da nur sehr wenige Anbieter eine entsprechende Ausbildung und fachliche Betreuung ihrer Mitarbeitenden sicherstellen können. Der Einsatz von Menschen, die zwar kompetent im Umgang mit Gewalt sind, gleichzeitig aber kein Verständnis für pädagogische und psychologische Prozesse haben, kann somit im schlimmsten Fall mehr Probleme heraufbeschwören, als er löst.

An Stellen, an denen der Einsatz von Sicherheitsdiensten unvermeidlich ist, müssen verpflichtende Weiterbildungen für Sicherheitspersonal in sensiblen Settings eingeführt werden. Diese sollten neben den Schwerpunkten Kommunikation und Deeskalation auch Grundlagen der Pädagogik und Entwicklungspsychologie beinhalten.

Wir brauchen Ausbildung im Umgang mit Gewalt
Auf lange Sicht sollten alle Fachkräfte den Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen und konkreten Gewalthandlungen schon in der Ausbildung erlernen. Zusätzlich muss das Angebot an Weiterbildungen erhöht werden. Dazu gehören Deeskalationstrainings und umfassende Konzepte, wie die Gewaltfreie Kommunikation von Marshall. Rosenberg, das sowohl Kommunikations- als auch Empathie-Fähigkeit erweitert. 

Erfahrungen, die wir durch den Einsatz der Gewaltfreien Kommunikation in vielen Settings gemacht haben, sind auffallend positiv. Ein emphatischer Umgang und ein bedingungsloses (? gewisses) Verständnis für das Verhalten der jungen Menschen führte in einigen Fällen zu einem fast vollständigen Ablegen von aggressiven Verhaltensweisen. Der Versuch, auf Augenhöhe zu agieren, die Klient*innen in Entscheidungen mit einzubeziehen und die Gleichstellung der Bedürfnisse aller am Setting beteiligen Personen, hat zu einem enormen Vertrauensaufbau und einer starken Abnahme von Auseinandersetzungen geführt. In der Sichtweise der Gewaltfreien Kommunikation ist Gewalt eine Verhaltensstrategie, um fundamentale Bedürfnisse zu erfüllen. Somit ist es möglich, den jungen Menschen eine alternative Strategie anzubieten, um diesen Bedürfnissen nachzukommen. Dafür bedarf es ein großes Maß an Offenheit und Empathie. All das ist erlernbar.

Im Hinblick auf unsere Eingangsfrage ist unsere Meinung, dass es sehr wohl möglich und erstrebenswert ist, gemeinsam eine gewaltlose Gesellschaft zu erschaffen. Es wird allerdings noch eine lange Zeit dauern, bis es so weit ist. Fakt ist, dass Gewaltsituationen in der Jugendhilfe und in allen anderen helfenden Berufen zum harten Alltag der Fachkräfte gehört. Fakt ist auch, dass die Mitarbeitenden nicht genug auf diesen Arbeitsalltag vorbereitet werden und an dieser Stelle dringend etwas getan werden muss.

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