Putins Krieg – eine „toxische Nostalgie“?

Putins Ideologie

von Renate Wanie
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Kurz vor Russlands Einmarsch in die Ukraine hielt Präsident Wladimir Putin eine Rede im russischen Fernsehen, in der er die in den 1990er Jahren entstandene europäische Sicherheitsarchitektur in Frage stellte. Im Jahr 1991 unterzeichneten die Präsidenten der Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Belarus das sogenannte Beloweschje-Abkommen, das die Existenz der UdSSR rechtskräftig und als geopolitische Realität beendete. Am 24. Februar 2022 marschierte Präsident Putin in der Ukraine ein, mit dem Ziel, die Ukraine „von einem westlichen Marionetten-Regime zu befreien und zu entnazifizieren“. Nachfolgend Überlegungen zu Präsident Putins historisierender Weltanschauung, von Naomi Klein als eine „toxische Nostalgie“ bezeichnet. (1)

Vorweg: Nicht hinreichend ernst genommen wurde in den vergangenen Jahren die russische Kritik an den westlichen Staaten, die mündlichen Zusagen an Moskau, keine Osterweiterung der NATO vorzunehmen, nicht eingehalten zu haben. Auch zahlreiche Stimmen westlicher Politik sowie aus der Friedensbewegung mahnten wiederholt, die legitimen Interessen Moskaus zu berücksichtigen. Dieser Hinweis rechtfertigt oder gar entschuldigt den völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine in keiner Weise.

Um zu verstehen, was Präsident Putin antreibt, ist ein Blick auf seine Ideologie hilfreich. Woraus besteht das Denken des russischen Präsidenten Putin, mit dem er den russischen Einmarsch in den „Bruderstaat Ukraine“ legitimierte: Ist es das irritierende Konglomerat einer Identitätspolitik, in deren Kern das Selbstverständnis als imperiale Macht steht, vermischt mit Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert von einem geeinten allrussischen Volk sowie einem wiederbelebten Sowjetpatriotismus?

Welches Erbe hat die Sowjetunion hinterlassen?
„Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz“, heißt es 1991 im Beloweschje-Abkommen. Doch wie sieht die heutige politische Realität in Russland aus? Der in Moskau geborene Journalist Sergej Lebedew wirft einen kritischen Blick auf ehemalige Sowjetrepubliken – mit Ausnahme der baltischen Staaten – wo autoritäre Muster aus der Zeit der UdSSR fortbestünden und als „fatales Herkunftsgen“ bewahrt werde. Nach Lebedew brauche die russische Regierung heute eine bestimmte Sicht auf die sowjetische Vergangenheit: „Sie soll idealisiert werden und dem Regime Wladimir Putin als Legitimation dienen. (…) Das symbolische Erbe der Vergangenheit wird instrumentalisiert, um die Nation zu konsolidieren, um eine Mehrheit zu schaffen.“ Eine Mehrheit, die eine ideologisch indoktrinierte sei. Eine identitätsstiftende Rolle spielt auch der Sieg gegen den Faschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“ im Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Kult des „Vaterländischen Krieges“ wird zur wesentlichen Rechtfertigung für die heutige aggressive und militaristische Außenpolitik vermehrt verherrlicht.

Mit Blick auf das Beloweschje-Abkommen nennt Lebedew neben der juristischen und geopolitischen Ebene die „symbolische Ebene der sowjetischen Realität mit ihren ideologisch sakrilisierten Kultgegenständen“. Er weist auf die „unglaubliche Intensität bei der Produktion von Symbolen“ hin, wie z.B. Denkmäler, architektonische Bauten, Lieder oder feierliche Zeremonien. (2)

Kiewer Rus und völkische Ansichten
Jan Emendörfer, Korrespondent des Redaktionsnetzwerk Deutschland für Russland und Osteuropa, weist auf die Erzählung der Kiewer Rus hin, jenes mittelalterliche altostslawische Großreich, in dem die heutigen Länder Russland, Ukraine und Belarus als Vorläuferstaat angesehen werden. Kiew sei damals als Großfürstensitz das politische und kulturelle Zentrum der Rurikiden-Dynastie, ein russisches Fürstengeschlecht, gewesen.

Im Dezember 2014 habe Putin in einer Rede die Annexion der Krim auch mit ihrer sakralen und zivilisatorischen Bedeutung für Russland gerechtfertigt. Er bezog sich dabei auf die berühmte „Nestor Chronik“ (zwischen 1113 und 1118) und sprach von der antiken griechischen Siedlung Chersones auf der Krim, wo im Jahr 988 die Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir stattgefunden habe, die die Grundlage für die Christianisierung der Kiewer Rus war. (3)

Auf die eingangs erwähnte Rede Putins, in der er seine völkischen Ansichten formulierte, verweist der Historiker Immo Rebitschek von der Uni Jena. Putin wolle die Ukraine von einem westlichen Marionetten-Regime befreien, sie sei als Staat seit 1991 eine schlechte westliche Imitation, die nicht mehr dem Wesen der kulturellen, spirituellen und „blutsverwandten“ Nähe zur russländischen Völkerschaft entspreche. Nach Putins Politikverständis sei der gesamte historische Raum letztlich nicht für die liberale Demokratie geschaffen. Die Andienung an den Westen habe die „russisch-ukrainische Bruderschaft“ zerstört. Nach Putins Geschichtsverständnis habe die Ukraine immer zu Russland gehört und sei nur durch Lenins falsche Nationalitätenpolitik überhaupt eine eigenständige Sowjetrepublik geworden. Unterschlagen werde dabei die Tatsache, so Rebitschek, dass schon 1917 während der Februarrevolution eine erste ukrainische Republik hervorgegangen sei, die Ende 1918 wieder verschwand. (4)

Wenig bekannt in der hiesigen Öffentlichkeit dürfte der russische Philosoph und Politiker Alexander Dugin sein, ein Vordenker der extremen Rechten in Russland seit den 1990er Jahren, Mitglied der Partei „Einiges Russland“ und ehemaliger Berater Putins. Mit Dugin verbindet sich offensichtlich auch Putins Weltsicht. Dugin setzt sich ein für ein antiliberales, autoritäres sowie neoimperiales Großraumdenken, ein Ideologe einer neuen imperialen Weltordnung, die nach Dugins Überzeugung die Menschheit retten könne. (5)

Operation zur „Entnazifizierung“
Für Irritationen sorgte die Rhetorik Putins, „nach der der Großangriff auf die Ukraine als eine Operation zur ‚Entnazifizierung‘“ des Nachbarlandes zu verstehen sei. Der Historiker Mischa Gabowitsch verweist auf den Sprachgebrauch in der ehemaligen Sowjetunion, wo der Begriff „Faschismus“ dazu diente, den im jeweiligen Kontext schlimmsten Feind der Sowjetunion zu brandmarken, wie in der Vergangenheit der Überfall der deutschen Faschisten auf die Sowjetunion: „Das Wesen der Faschisten war und ist, dass sie die Sowjetunion überfallen hatten – das machte sie zum Inbegriff des Bösen.“ Doch auch in der jüngeren Vergangenheit sei beispielsweise der Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft in Ostmitteleuropa als faschistisch dargestellt worden. Nach Gabowitsch stehe „Faschismus“ für Russland „als Kürzel für echte oder vermeintliche Feindschaft, Nazismus für die Weigerung, sich unterzuordnen.“ (6)

Wie sieht die konkrete Gegenwart aus?
Der Journalist Sergej Lebedew zieht einen Vergleich mit dem „Eisernen Vorhang“, der als Symbol des Konfliktes zwischen Ost und West zurückkehre, nur verlaufe er jetzt weiter östlich: „Die Grenze zwischen Russland und der Ukraine ist ein Schlachtfeld, dort gibt es Schützengräben, Stacheldraht, Frontmeldungen.“ (7) Die europäische Welt befindet sich erneut in einer Ost-West-Konfrontation.

Wer begreifen will, was einen Autokraten wie Putin zu diesem imperialen Krieg antreibt, sollte auch versuchen, seine toxische Nostalgie zu verstehen. Dabei geht es um verstehen, jedoch nicht um Akzeptanz.

Anmerkungen
1 Klein, Naomi: Toxische Nostalgie. Putin, Trump und der brennende Planet. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/22 - nur der Titel wurde auszugsweise übernommen.   
2 Lebedew, Sergej: Nostalgie und Autoritarismus. Das toxische Erbe der Sowjetunion. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/22
3 Emendörfer, Jan: Das völkische Weltbild des Wladimir Putin. In: Frankfurter Rundschau 26./27.2.2022, S. 4/5
4 Rebitschek, Immo, in: Emendörfer, Jan, ebd.
5 Brumlik, Micha: Der russische Faschist Alexander Dugin: Der Philosoph hinter Putin. In: Taz, 5./6.3.2022
6 Gabowitsch, Micha: Von Faschisten und Nazis, Russlands Geschichtspolitik und der Angriff auf die Ukraine. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/22
7 Lebedew, ebd.

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