Militärische Aneignung des Mittelmeers

Vorwand „Seenotrettung“

von Christoph Marischka

Nach einer weiteren Tragödie Mitte April 2015 im Mittelmeer, bei der bis zu 1.000 Menschen an einem einzigen Tag ertrunken sein sollen, wurde von den politischen und militärischen Strukturen der EU im Rekordtempo unter der Bezeichnung EUNAVFOR MED eine Marineoperation zwischen Italien und Libyen ins Leben gerufen. Bereits am 30. Juni 2015 wurden die Fregatte „Schleswig Holstein“ und der Tender „Werra“ dem europäischen Verband unterstellt. Das operative Hauptquartier befindet sich in Rom, das taktische Hauptquartier auf dem Flaggschiff der Mission, dem italienischen Flugzeugträger „Cavour“. Mit zwei Schiffen und meist knapp 500 Soldaten (bei einer Mandatsobergrenze von mittlerweile 950) auf den Schiffen und in den Hautquartieren war die deutsche Beteiligung hierbei von Anfang an relativ groß. Neben Deutschland und Italien hatte sich zunächst nur Großbritannien mit einem eigenen Boot beteiligt.

Das Bundesverteidigungsministerium hatte bereits zuvor, beginnend mit dem 7. Mai, zwei Schiffe der Marine vor die libysche Küste entsandt, die bis Ende Juni nach eigenen Angaben – und oft sehr öffentlichkeitswirksam – insgesamt über 5.000 Menschen aus Seenot gerettet haben sollen. Bis Ende Oktober (Stand 28.10.2015) seien deutsche Marinesoldaten an der Rettung von 8.918 Menschen beteiligt gewesen. Während in der Berichterstattung der Bundeswehr und in deutschen Medien fast jeder Beitrag über den Marineeinsatz die Zahl der vermeintlich Geretteten in den Mittelpunkt stellt, sind der Europäische Auswärtige Dienst und die anderen beteiligten Mitgliedsstaaten hier deutlich zurückhaltender und betonen stattdessen stärker den im entsprechenden Ratsbeschluss zur Einsetzung der Mission definierten Zweck, „das Geschäftsmodell der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetze im südlichen zentralen Mittelmeer zu unterbinden“. (1) Die gegenüber der (deutschen) Öffentlichkeit gerne betonte Aufgabe der Seenotrettung findet sich in den Mandaten auf EU-Ebene (soweit öffentlich einsehbar) nur in Formulierungen wie „in Übereinstimmung mit internationalem Recht“, das eben beinhaltet, dass man niemanden ertrinken lassen darf, wenn man ihn retten kann. Auch im Mandat des Bundestages für die Anfang Oktober begonnene Phase 2i der Mission, die auch den Einsatz von Waffengewalt in internationalen Gewässern vorsieht, wird diesbezüglich unter „Auftrag“ lediglich festgehalten, dass für alle „eingesetzten Schiffe die völkerrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung für in Seenot geratene Personen fort[gilt]“. (2)

Zerstörung von Booten
Immerhin macht eine Pressemitteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes vom 6. November 2015 Angaben zu den seit Beginn der EU-Mission insgesamt geretteten Personen. Demnach hätten die an der EU-Mission beteiligten Kräfte bis dahin insgesamt „dazu beigetragen, das Leben von mehr als 5.300 Migranten zu retten“. Das sind in etwa so viele Rettungen seit Ende Juni wie allein zwei Boote der Bundeswehr in den knapp zwei Monaten davor bewerkstelligten. Außerdem seien laut derselben Pressemitteilung bislang „41 Boote entsorgt worden, um jede mögliche illegale Wiederverwendung zu verhindern und die Sicherheit der Navigation zu garantieren“. Zudem wurden demnach im Verlauf der Mission bereits 42 Menschen „den italienischen Behörden aufgrund ihres verdächtigen Verhaltens als potentielle Schmuggler gemeldet“. Auch hier unterscheiden sich die Formulierungen im Detail: Die Zerstörung von Booten wird in der deutschen Berichterstattung selten aufsummiert und von der Bundeswehr stets damit begründet, dass diese (nach der Rettung) „als Schifffahrtshindernis eingestuft“ würden. In einem anderen Beitrag der Bundeswehr jedoch werden die in Phase 2i enthaltenen Befugnisse, „Boote von Schleppern in internationalen Gewässern anzuhalten, zu durchsuchen, zu beschlagnahmen und umzuleiten“ sowie mutmaßliche Schleuser festzusetzen und Strafverfolgungsbehörden zu übergeben u.a. damit begründet, dass „Schleppern ... damit die Bewegungsfreiheit genommen [wird], sich beispielsweise auf hohe See zu begeben, um solche Boote wieder an Land zu bringen ... um mithilfe dieser verlassenen Boote erneut ihr menschenverachtendes Geschäft zu betreiben.“ (3) Das kommt dem eigentlichen Mandat der Mission schon nahe, nachdem „Schiffe und an Bord befindliche Gegenstände, die von Schleusern oder Menschenhändlern benutzt oder mutmaßlich benutzt werden ... zu beschlagnahmen und zu zerstören“ sind.

Nach Berichten und Videos zu urteilen, die seit Beginn der Mission veröffentlicht wurden, handelt es sich dabei meist um Schlauchboote und seltener um sehr einfache Holzboote ohne Unterdeck. Das verweist darauf, dass die Schlepper ihre Strategie bereits an die erhöhte Militärpräsenz nahe den libyschen Küstengewässern angepasst haben. Bei dem Boot, das Mitte April kenterte und damit den (vermeintlichen) Anlass für die Militärmission lieferte, handelte es sich um ein Fischerboot, in dessen Unterdeck alleine mehrere hundert Menschen eingeschlossen gewesen sein sollen; ein mutmaßlicher Kapitän und ein mutmaßliches Besatzungsmitglied wurden festgenommen. Mittlerweile scheint die Strategie der Schlepper hingegen nahezu ausschließlich darin zu bestehen, die MigrantInnen in noch einfachere Booten mit wenig Benzin und schwachen Motoren zu laden und ihnen eine Richtung zu weisen, in die sie fahren sollen, bis der Sprit ausgeht oder der Motor schlapp macht. Es gibt auch einige Hinweise darauf, dass die Schlepper diese Boote zunächst einige Kilometer an den Rand der libyschen Hoheitsgewässern hinausziehen und dann sich selbst überlassen, während sie in ihren deutlich robusteren Schiffen Richtung afrikanische Küste zurückkehren. Tatsächlich ist auffällig, dass die meisten Fälle von Seenotrettung zwischen 50 u. 100 Kilometer vor der libyschen Küste stattfinden, wo oft ein Schiff der EUNAVFOR MED – zumeist ein deutsches – patrouilliert. Neben den Militärschiffen aus dem EU-Verband sind hier auch weitere Boote ziviler Organisationen wie der Ärzte ohne Grenzen und etwa die „Sea Watch“ aktiv.

Bei Sea Watch handelt es sich um einen Verein, der extra zum Zweck der Seenotrettung einen Kutter von 21 Meter Länge erworben und umgerüstet hat. Neben dem Kapitän der Sea Watch (u.a. in der NDR-Sendung Streitkräfte und Strategien vom 31.10.2015), Ingo Werth, betonen auch die Initiatoren, in diesem Fall Harald Höppner in der ZDF-Sendung Frontal21 vom 6.10.2015, die Vorteile ziviler Seenotrettung: „Wir haben in den letzten vier Monaten mit acht Mann Besatzung auf unserem kleinen Schiff 2000 Menschen gerettet. Die Bundeswehr hat in der Zeit nach eigenen Angaben circa 6000 gerettet. Und ich denke, wenn die Bundeswehr wollte, müsste dort keiner mehr ertrinken.

Das eigentliche Mandat
Aber wie gesagt ist das eigentliche Mandat von EU und Bundeswehr nicht die Seenotrettung. In der genannten Frontal21-Sendung sieht man stattdessen, wie Soldaten der Bundeswehr die „Entsorgung“ von Booten üben, indem sie auf dem Wasser treibende Luftballons mit Maschinengewehren beschießen. Der Kanal des Europäischen Auswärtigen Dienstes auf dem Online-Videoportal Youtube dokumentiert u.a. eine Übung „Fast Rope“ im Rahmen von EUNAVFOR MED, bei der Soldaten das Entern („Boarding“) eines Schiffes vom Hubschrauber aus trainieren. Besonders absurd wird die Übung im Rahmen des beschriebenen Mandats durch die Tatsache, dass sie ausgerechnet an Bord des Flugzeugträgers „Cavour“ stattfand - als ob es realistisch wäre, dass Flüchtlinge zukünftig von Schleppern mit Flugzeugträgern nach Europa gebracht werden. Trotzdem geht von dem Video ein Signal aus: Sollten es MigrantInnen wagen, in seetüchtigen Booten mit erfahrener Besatzung übers Meer zu reisen, werden sie nicht gerettet, sondern mit Waffengewalt angehalten werden.

Der Aufwand, der hierfür betrieben wird, steht jedoch in keinem Verhältnis. Mittlerweile besteht der Einsatz aus acht Schiffen, sechs Bordhubschraubern, drei Seefernaufklärern, einem U-Boot und mehreren Aufklärungsdrohnen. Sowohl der britische Geheimdienst GCHQ wie auch der deutsche BND sind einbezogen. Die meisten dieser Einsatzmittel – auch die beteiligten Hubschrauber - sind kaum für die Seenotrettung ausgestattet, sondern v.a. mit Aufklärungstechnologie vollgepackt. Sie agieren auch überwiegend nicht in jenem Streifen, in dem ein Großteil der Rettungen stattfindet, sondern weiter nördlich, oft auch von italienischen Häfen aus. Der Auftrag aus Phase 1 stellt auch noch in Phase 2i den eigentlichen Schwerpunkt der Mission dar und besteht in der Lagebildverdichtung, „zum Beispiel [durch] die Auswertung elektro-magnetischer Ausstrahlungen, elektro-optische Beobachtungen oder auch Gespräche mit Menschen, die aus Seenot gerettet wurden“ (4), so die Bundeswehr, wobei unter „Gesprächen“ durchaus auch Befragungen durch GeheimdiensmitarbeiterInnen zu verstehen sein können.

In Verbindung mit der zivilen Überwachungsinfrastruktur, die teilweise noch nationalen Behörden untersteht, überwiegend jedoch mittlerweile von der Grenzschutzbehörde Frontex koordiniert wird, dürfte damit das Mittelmeer zu einem der am intensivsten überwachten Räume weltweit geworden sein und damit den militärischen Phantasien der Kriegführung im Informationszeitalter (network centric warfare) recht nahe kommen. Die Vorstellung, einen Raum von der Größe der Bundesrepublik kontinuierlich in Echtzeit abzubilden und mit Daten quasi zu jedem Fahrzeug und jeder Person anzureichern, steht hier recht nahe vor der Realisierung – die eben im Mittelmeer und gegenüber illegalisierten und entrechteten MigrantInnen auch leichter durchzusetzen ist. Zu ihrer Rettung jedenfalls ist solch aufwändige Aufklärungstechnologie nicht erforderlich. Die Sea Watch etwa arbeitet mit der Initiative „Watch the Med“ zusammen, die in Nordafrika Telefonnummern verteilt, über die in Seenot Geratene bei der Initiative anrufen können, die sich dann um Rettung bemüht.

Mare Nostrum
Zugleich basiert insbesondere Phase 2i auf einer recht eigenwilligen Interpretation einer recht neuen Rechtsquelle, nämlich des Zusatzprotokolls vom 15. November 2000 gegen die Schleusung von MigrantInnen auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, aus dem EU und Bundesregierung für ihre Marine quasi polizeiliche Funktionen auch auf Hoher See ableiten, falls diese im Verdacht stehen, von Schleppern genutzt zu werden. Der UN-Sicherheitsrat hat mit seiner Resolution 2240 vom 9. Oktober diese Befugnisse weitgehend bestätigt – allerdings (in bedenklicher Ausdehnung der „Gefährdung des Weltfriedens“) unter Kapitel VII der UN-Charta, auf ein Jahr und die Hohe See vor der libyschen Küste beschränkt, womit der Sicherheitsrat auch einen Dissens zur Rechtsauffassung der EU zum Ausdruck brachte.

Phase 2ii beinhaltet im Wesentlichen die Ausweitung dieser Befugnisse auf die libyschen Küstengewässer und Phase 3 auch den Einsatz auf libyschem Festland zur Zerstörung von durch Schlepper genutzter Infrastruktur. Für beides wäre eine entsprechende UN-Resolution oder eine Zustimmung der libyschen Regierung notwendig. Über den Übergang in eine neue Phase und die jeweiligen Operationspläne entscheiden die militärischen Strukturen der EU (insbesondere das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, PSK), nur dem Übergang in Phase 2i musste davor noch grundsätzlich der EU-Rat zustimmen. Beides geschah vor der Mandatierung der Phase 2 durch den Bundestag, die erst am 1. Oktober erfolgte. Gerade dieser Einsatz, dessen Mandat von der Seenotrettung und Informationsgewinnung auf Hoher See bis hin zum Einsatz von Bodentruppen in Libyen reicht, zeichnet sich damit durch besonders große Spielräume der militärischen Strukturen der EU gegenüber den politischen Strukturen und den Mitgliedsstaaten aus. Das ist gerade deshalb gefährlich, weil sein eigentlicher Zweck nicht offen kommuniziert wird, über diesen zwischen den Staaten und Institutionen offensichtlich kaum Einigkeit besteht und auch BeobachterInnen sehr unterschiedliche Interpretationen haben: Geht es (zumindest einigen Beteiligten) doch primär um die Seenotrettung, die Demonstration europäischer Handlungsfähigkeit, die Herstellung einer dauerhaften Marinepräsenz (inkl. Lagebild) im Mittelmeer, die allgemeine Absicherung gegenüber Bedrohungen aus dem Bürgerkriegsland Libyen oder gar um die Vorbereitung einer Intervention dort? Der Effekt jedenfalls ist klar: Das Mittelmeer wird unter Kontrolle zunehmend autonomer EU-Militärstrukturen gestellt, die dort quasi polizeiliche Funktionen ausüben. Und damit wird das Bürgerkriegsland Libyen zum direkten Nachbarn des neuen de facto EU-Herrschaftsbereichs.

Anmerkungen
1 Beschluss des Rates 2015/778
2 BT-Drucksache 18/ 6013
3 Bundeswehr.de: Der Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer (EUNAVFOR - Operation Sophia), Stand 28.10.2015
4 ebenda

Der Beitrag wird etwas ausgebaut und mit mehr Quellenverweisen auf der website der Imi (www.imi-online) nachzulesen sein.
Christoph Marischka ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.

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Krisen und Kriege
Christoph Marischka ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.