Kritische Anmerkungen

Wer oder was bedroht uns?

von Otmar Steinbicker
Schwerpunkt
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Der Ansatz der Autoren von „Sicherheit neu denken“ ist anspruchsvoll: Sie wollen nicht bei einer Kritik des Militärs stehen bleiben, sondern konkrete Wege für einen Ausstieg aus der militärischen Sicherheitspolitik aufzeigen und einen Zeitplan aufstellen für ein militärfreies Deutschland bis zum Jahr 2040. Dass es hier vor allem um einen Diskussionsansatz geht, der den Blick für zivile Alternativen gegenüber traditionell militärisch verstandener Sicherheitspolitik öffnen soll, ist sinnvoll. Kritik am raschen vorgeschlagenen Zeitplan sollte dahinter zurückstehen.

Problematisch erscheint mir eher die Kopfgeburt des Herangehens, an dessen Ende ein militärfreies Deutschland stehen soll. Sicherlich ist seit dem ersten Entwurf eines solchen Szenarios manche Kritik berücksichtigt und verarbeitet worden, so dass einige arg phantastische Vorstellungen korrigiert und durch realitätsnahere Betrachtungen ersetzt wurden. Dennoch gibt es solche weiterhin. Die mir als eklatanteste aufgefallene, lautet; „Mit dem IS und seinen Unterstützern werden Gespräche aufgenommen, um humanitäre Erleichterungen durchzusetzen und um auszutesten, was politisch möglich ist. Entsprechend der Erfahrungen mit den Taliban führt dies mit der Zeit zur Überwindung der Gewalt.“ (S. 126). Da ich in den Jahren 2009 in den diskreten Gesprächsprozess zwischen den Taliban und dem ISAF-Hauptquartier eingebunden war, weiß ich, um was es in diesen Gesprächen ging. Als die Problematik des IS brisant war, habe ich in Vorträgen die Frage aufgeworfen, ob vielleicht Gespräche mit dem IS analog denen mit den Taliban möglich seien. Ich habe dabei aber deutlich das dicke Fragezeichen betont und mich strikt geweigert, diese Frage mit Ja oder Nein zu beantworten, sondern die Fragestellung genutzt, um einen differenzierten Blick auf Entstehungsgeschichte und Widersprüche innerhalb des IS herauszuarbeiten. Eine schematische Übertragung der konkreten Gesprächserfahrungen mit den Taliban erschien mir völlig undenkbar.

Historische Einordnung fehlt
Neben derlei Phantastereien fällt mir die fehlende historische Einordnung der deutschen Militär- und Sicherheitspolitik auf. Die Kritik im Szenario bezieht sich vor allem auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die die Jahre zwischen 2001 und 2013 geprägt hatten. Hier ist viel Richtiges nachzulesen. Nicht berücksichtigt wird dabei jedoch, dass die Auslandseinsätze in den 1990er Jahren konzipiert wurden, zu einer Zeit, als angesichts fehlender „Feinde“ die Existenz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit nur noch schwer zu begründen war. Die Taliban als Ersatz-Feind mussten zur Rechtfertigung herhalten, und ich erinnere mich an die Warnungen von Militärs und Politiker*innen vor einer Beendigung des Afghanistan-Einsatzes mit dem Hinweis: „dann zerbricht die NATO“.

Wer deutsche Militär- und Sicherheitspolitik betrachten will, muss die Entstehung der Bundeswehr im Kalten Krieg und das Ende des Kalten Krieges 1990 mitbedenken, um die folgenden Etappen zu verstehen: die Konzentration auf die Auslandseinsätze ab Mitte der 1990er Jahre und die Rückkehr des Feindbildes Russland nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen aus Afghanistan zum Ende des Jahres 2013. Die völkerrechtswidrige russische Annexion der Krim 2014 steht dann nicht ganz so zusammenhanglos im Raum, wie das Szenario glauben machen will, das die Problematik der NATO-Osterweiterung völlig ausblendet.

Überhaupt ist die Behandlung der NATO im Szenario ausgesprochen problematisch. Zwar wird zu Recht die OSZE als die in Zukunft entscheidende sicherheitspolitische Organisation für Konfliktlösungen definiert. Die Unverträglichkeit dieser Rolle der OSZE mit der Weiterexistenz der NATO wird aber ausgeblendet. Die Möglichkeit einer Auflösung der NATO zugunsten der OSZE wird nicht in Erwägung gezogen. Ein Szenario, indem ein militärfreies Deutschland Mitglied der NATO bleiben kann und soll, mutet wenig durchdacht an.

Nimmt man die Thematik der Auslandseinsätze in Dimensionen des Afghanistankrieges aus dem Szenario heraus, weil diese auch von Bundesregierung und Bundeswehr so nicht mehr verfolgt werden, so bleibt nicht viel übrig, außer mitunter interessante Detailaspekte und -vorschläge wie etwa zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik mit Russland und seinen Verbündeten.

Problematisch zeigt sich auch der Ansatz des Szenarios, sicherheitspolitische Lösungsansätze fast ausschließlich auf Deutschland zu beschränken. Da bleibt die Problematik der Militarisierung der EU außen vor und auch die hochbrisante Gefahr eines Atomkrieges reduziert sich auf die Abschaffung der militärisch unbedeutenden 20 Büchelbomben. Die sicherheitspolitisch relevante Bedrohung durch den Klimawandel findet sich lediglich in Nebenbemerkungen.

Eine Struktur für eine zivile Sicherheitspolitik fehlt in dem Szenario vollständig. Allerdings ist hier den Autoren zugutezuhalten, dass Gleiches auch für die im Weißbuch 2016 der Bundeswehr definierte militärische Sicherheitspolitik gilt. Die Zeiten, in denen 1992 ein Konzept wie die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ des Verteidigungsministeriums die Friedensbewegung geradezu einlud, ein Gegenkonzept als „Friedenspolitische Richtlinien“ auszuarbeiten, sind wohl vorbei.

Zu kurz gedacht
Letztlich befindet sich die militärische Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren in einer Krise, aus der sie keinen Ausweg findet. In Diskussionen mit Bundeswehroffizier*innen wird das nicht bestritten. Aufschlussreich war für mich zuletzt noch eine Fachtagung der Evangelischen Landeskirche Lippe im März 2019, an der ich als Referent gemeinsam mit fünf Bundeswehroffizieren teilnahm und mit meinen Thesen auf keinen Widerspruch stieß.

Bereits seit den 1980er Jahren ist die Atomkriegsgefahr unbestritten. Dass ein großer Atomkrieg nicht zu überleben ist, ist in Deutschland sicherheitspolitischer Konsens. Gestritten wird lediglich um den sinnvollsten Umgang mit der Gefahr. Hier bietet der Ansatz, Atomwaffen generell zu verbieten, zumindest die größte Logik, auch wenn die Umsetzung angesichts der Weigerung der Atommächte schwierig ist.

Gegen Ende der 1980er Jahre kamen Militärs in Ost und West zu der Erkenntnis, dass auch ein großer, weiträumig (etwa in Dimensionen des Zweiten Weltkrieges) geführter rein konventioneller Krieg die europäische Zivilisation vernichten würde, allein schon wegen der seit 1945 gestiegenen Abhängigkeit von Elektroenergie. Dieser Erkenntnis wird auch heute von Bundeswehroffizier*innen nicht widersprochen. Wenn aber der große Krieg als auch nur gedachte Lösungsoption für zwischenstaatliche Konflikte (etwa mit Russland) ausscheidet, dann müssen andere, zwangsläufig zivile Formen für den Konfliktaustrag gesucht und gefunden werden.

Dass Auslandseinsätze in Dimensionen des Afghanistankrieges scheitern, war führenden Militärs schon um 2009 bekannt. Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch im Mai 2009 mit General Friedrich Riechmann, dem damals schon pensionierten früheren Oberbefehlshaber der deutschen Auslandseinsätze, der das Scheitern des Afghanistaneinsatzes bereits auf den Dezember 2001 terminierte und eine zu dieser Zeit noch diskutierte Ausweitung von Einsätzen durch Aufstellung schneller Eingreiftruppen für schlicht unmöglich hielt. „Wir wissen, wie wir da reinkommen, wir wissen aber nicht, wie wir da wieder rauskommen“, gab er damals zu bedenken.

Es waren die regierenden Politiker*innen, die noch über Jahre auf ein „Weiter so“ setzten, weil sie nicht oder zu wenig über Möglichkeiten einer zivilen Sicherheitspolitik nachgedacht hatten. Aktuell bevorzugen Befürworter*innen von Auslandseinsätzen eher kleine Einsätze einer begrenzten Zahl von Militärberater*innen und –ausbilder*innen, die möglichst nicht in Kampfhandlungen verwickelt werden sollen. Möglichkeiten von Konfliktlösungen werden in diesem Zusammenhang nicht diskutiert, das heißt, es werden auch keine militärischen Lösungen für die mitunter komplexen Konflikte gesehen. Das muss die Suche nach zivilen Lösungen verstärken. In ersten Ansätzen sind solche Überlegungen auch in Arbeiten des Auswärtigen Amtes zu finden. Diese sind noch ausbaufähig.

Klimawandel bekommt stärkeres Gewicht
Obendrein haben in den letzten Jahren die Gefahren des Klimawandels stärkeres Gewicht in den sicherheitspolitischen Debatten gewonnen. Die jüngste Studie vom 24. Februar 2020 des National Security, Military and Intelligence Panel (NSMIP) aus den USA geht in ihren Konsequenzen weit über die Vorschläge der „Fridays for Future“-Bewegung hinaus. Dass es hier keinerlei militärische Lösungsansätze geben kann, ist allen bewusst. Ebenso klar ist, dass die notwendigen Maßnahmen gegen die Folgen des Klimawandels einen enormen finanziellen Aufwand erfordern.
Unter diesen veränderten Bedingungen macht es aus friedenspolitischer Sicht Sinn, sehr ernsthaft die Frage in den Vordergrund zu rücken: „Wer oder was bedroht uns?“ Die Antworten dürften das komplette Scheitern militärischer Ansätze und die Notwendigkeit einer ausgefeilten zivilen Sicherheitspolitik deutlich machen.

Wenn das Szenario „Sicherheit neu denken“ mitunter den Eindruck einer „Kopfgeburt“ macht, so könnte die Fragestellung „Wer oder was bedroht uns?“ die Überlegungen über einen Ausstieg aus der militärischen und einen Einstieg in die zivile Sicherheitspolitik vom Kopf auf die Füße stellen.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de