G20-Proteste in Seoul

Zwischen Zuversicht und Furcht

von Benjamin Hiller

Ab Mitte Dezember 2010 bestimmte nur noch ein Bild die Medien bezüglich Koreas – der Angriff Nordkoreas auf die Insel Yeonpyeong und der drohende Krieg mit Südkorea. Die genauen Umstände der Eskalation sind noch immer nicht geklärt und die Kriegsgefahr hängt weiterhin über der Halbinsel. Kurz zuvor hatte sich Südkorea als neue Wirtschaftsmacht auf dem in Seoul veranstalteten G20-Gipfel präsentiert, und die westlichen Medien nahmen dieses Angebot dankend auf. Die vielfältigen Proteste gegen den Gipfel wie auch die Spannungen innerhalb der Gesellschaft wurden dabei geschickt ausgeblendet. Um diese Wissenslücke zu füllen, hier ein Eindruck zu den Geschehnissen rund um den G20-Gipfel in Seoul.

Am 7. November, vier Tage vor dem offiziellen G20-Event, fand die erste (und größte) Protestveranstaltung gegen den Gipfel am Seoul Plaza statt. Mehr als 40.000 ArbeiterInnen konnte die National Workers Alliance zu der Demonstration organisieren, wobei die überwiegende Mehrheit aus den Industriezentren wie Busan oder Incheon mit Bussen oder der U-Bahn anreisten. Ein Flaggenmeer begrüßte Einen schon von weitem, die rhythmischen Sprechchöre und flammenden Reden hallten durch die Einkaufspassagen im umliegenden Stadtgebiet.

Das Hauptthema der Versammlung war ganz klar das erweiterte Freihandelsabkommen (FTA) zwischen Obama und Lee Myung-bak. So wurden in Geheimverhandlungen hinter geschlossenen Türen kurz vor dem Gipfeltreffen die Möglichkeiten der USA, Waren nach Südkorea zu importieren, massiv erweitert – was entsprechende Ängste bei Bauern und Fabrikangestellten auslöste. Neben dem Thema FTA standen auch der Neoliberalismus an sich wie die aktuellen repressiven Entwicklungen innerhalb Südkoreas auf der Protestagenda.

Neben den ArbeiterInnen war eine zweite Gruppe prägend – die Polizei. Mit 15.000 Polizisten, Riotcops und schwerem Gerät wurde die Seoul Plaza nach und nach hermetisch abgeriegelt. Diese Machtkulisse sollte kommende Proteste abschrecken und jeden Durchbruchsversuch gen Innenstadt vereiteln. Und der Plan der Polizei ging auf; ein zaghafter Versuch, nach Sonnenuntergang eine Demonstration in Richtung Innenstadt durchzuführen, scheiterte an der ersten Polizeikette.

Doch warum blieben viele Studierende und progressive linke Kräfte dem Protest fern? Jeffry von der selbstverwalteten Medienplattform Indymedia Korea beschreibt es wie folgt: „Die Arbeitergruppen sind zu dogmatisch und orientieren sich an einem überholten Marxismusverständnis. Sicherlich haben sie noch immer ein großes Mobilisierungspotential, und auch die Arbeiterkämpfe werden militant ausgetragen. Doch hat es mehr als 10 Jahre aktive Intervention gebraucht, um die Situation der migrantischen Arbeiter in das Bewusstsein der großen Arbeiterorganisationen zu bringen. Von anderen Themen ganz zu schweigen.“

So konzentrierten sich Friedensgruppen, die Democratic Labor Party wie auch kirchliche Gruppen darauf, in den Tagen vor dem G20-Gipfel eigene Kundgebungen zu veranstalten. Diese Proteste waren aber mit zehn bis dreißig Person zumeist gering besucht und gingen in der anwesenden Polizeipräsenz wie auch an den ungünstig gelegenen Orten unter.

Angst und Überwachung
Die Regierung Lee hatte nach den letzten großen Protesten Anfang Januar 2010 eine umfassende Überwachung der Diskussionsforen im Internet angekündigt, was die spontane Mobilisierung erheblich schwächte. Auch durch die nun erforderliche Voranmeldung einer Protestkundgebung (im Vorfeld des Gipfels wurden mehrere hundert Veranstaltungen verboten!) wurde der Unmut auf wenige und kleinere Veranstaltungen kanalisiert. Nur ein viertägiger Sitzstreik von Aktivisten und Abgeordneten der DLP führte zu größerer medialer Aufmerksamkeit, insbesondere da an die Kerzenlicht-Demonstrationen von 2008 angeknüpft wurde. Doch auch hier konnten zu einer kulturellen Protestveranstaltung einen Tag vor dem Gipfel nur 500 Personen mobilisiert werden.

Die Angst sitzt tief bei den Menschen, die früher Protestveranstaltungen sporadisch besuchten, aber nicht selber in der Organisation sitzen. Justin, der wegen seiner Arbeitszeit von weit über 60 Stunden pro Woche kaum an Protesten teilnehmen kann, berichtet: „Nachdem bei den letzten großen Protesten die Polizei mit den Wasserwerfern direkt in die Gesichter der Protestierenden geschossen hat und gut 1.600 Aktivisten verhaftet wurden, trauen sich die Menschen kaum noch auf die Straßen. Auch die tägliche Bombardierung mit nationaler Propaganda, der Aufforderung zur Ruhe und Pflichtgehorsam und die Internetzensur tun ihr übriges dazu, die Leute abzuschrecken.“

Der Widerstand gegen das Vier-Flüsse-Projekt
Da erscheint es beinahe wie ein Lichtblick, dass der Protest gegen das umstrittene Vier-Flüsse-Projekt – ein umweltzerstörendes Prestigeprojekt vom Präsidenten Lee - immer mehr Zulauf bekommt. Insbesondere jene Bauern südlich von Seoul, welche ihre Ackerfelder gegen einen Zwangsverkauf verteidigt hatten und die Flächen weiterhin illegal bestellen, bekommen regen Zuspruch. An jedem Wochenende fahren mehrere hundert AktivistInnen und Interessierte von Seoul mit Bussen zu den Feldern, um sich zu informieren und den Bauern bei der Arbeit zu helfen. Auch die örtlichen Kirchen sind stark involviert und stärken die Durchhaltekraft der Bauern.

Moya ist einer der Aktivisten aus Seoul, die den Bauern bei der Ernte helfen – dafür bekommen Moya und seine Mitbewohner große Säcke von dem koreanischen Grundnahrungsmittel Kimchi für ihre WG. Er sieht in diesen Kämpfen einen wichtigen Anknüpfungspunkt für viele Organisationen: „Beim Protest gegen das Vier- Flüss- Projekt finden sich Studenten, undogmatische Linke, die Kirchen und Umweltschutzorganisationen mit den Bauern in einem Boot. Das könnte die Bewegung in der Zukunft stärken und weiter wachsen lassen.“

Ob sich das Vier-Flüsse-Projekt am Ende zum Fallstrick für die aktuelle Regierung entwickeln wird, muss sich noch zeigen. Doch die Bündelung vieler verschiedener Interessensgruppen in dem Widerstand könnte die zwischen Kaderorganisationen und dem harten Kern der unabhängigen Aktivisten changierenden Proteste positiv erweitern.

Der G20-Gipfel
Am 11. November kamen etwas 10.000 Personen zu den Protesten gegen die Gipfeleröffnung zusammen. Das Durchschnittsalter war diesmal erstaunlich niedrig, und es fanden sich viele Schüler und Studenten ein, um ihren Unmut kund zu tun. Auch ausländische Aktivisten und Gewerkschaftsführer, u.a. aus Südafrika und den USA, waren diesmal erschienen. Der Charakter des Protestes war entschlossen und herzlich, wurde aber in den Abendstunden durch einen massiven Regenschauer und Sturmböen getrübt. Dieser Wetterumschwung führte am Ende auch dazu, dass ein erneuter Durchbruchsversuch in Richtung Innenstadt scheiterte. Auch die Polizei agierte erstaunlich besonnen. Sie hatte die Order, auf keinen Fall zur Eskalation beizutragen, damit das Sonnenbild des erfolgreichen G20 Gipfels nicht getrübt würde.

Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich einerseits die Arbeiter- und Studentenbewegung aus ihrer Lethargie befreien können, um den immer restriktiveren Gesetzgebungen der Regierung Lee geschlossen gegenüberzutreten, und ob andererseits der Protest gegen das Vier-Flüsse-Projekt zu der notwendigen Modernisierung und Erweiterung der Protestbewegung führen wird. Und damit zu einer erneuten Belebung des zivilgesellschaftlichen Engagements über die Kirchen und Friedensgruppen hinaus.

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Hintergrund
Benjamin Hiller ist ein junger, freiberuflicher Fotograf und Journalist aus Berlin, der sich primär mit sozialen und politischen Themen im (internationalen) Rahmen auseinandersetzt.