Redebeitrag für den Ostermarsch Hannover am 8. April 2023

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

dank für Euer Kommen trotz mancher vorausgegangenen Diffamierungen unseres Anliegens. Dank vor allem, dass ich heute hier zu Euch sprechen darf.

Ich freue mich sehr über die Transparente hier auf dem Platz, deren Anliegen ich überwiegend dankbar zustimme: „Aufstehen für den Frieden“, „Verhandeln statt schießen“ und „Abrüstung statt Aufrüstung“ – soweit sie Widersprüche beinhalten, entsprechen sie den Widersprüchen unter uns, deren Überwindung sich uns als Aufgabe stellt.

Einschränkungen solidarischer Diskussion und Kritik sind allerdings angebracht, wenn beispielsweise bei uns in Hamburg vor der St. Georgs Kirche in riesigen Holzbuchstaben das Wort „LIEBE“ im Blau-Gelb der ukrainischen Nationalfarben offenbar Gläubigen wie Ungläubigen Orientierung vermitteln soll – statt im Sinne der Bibel im Sinne der täglichen Propaganda von Regierung und Medien, oder wo das Deutsche Schauspielhaus, geschmückt mit einer großen blaugelben Fahne und nachts zusätzlich blau-gelb angestrahlt, in Leuchtschrift fordert „Solidarität mit der Ukraine“.

Widerspruch nicht nur meinerseits, denke ich: unsere Unterstützung gilt der leidenden Bevölkerung in der Ukraine, nicht dem Staat und seiner Selensky-Regierung. Entsprechend auch: Keine Unterstützung für den von der Putin-Regierung Russlands am 24. Februar vergangenen Jahres begonnenen Krieg, dessen Ursachen wir versuchen zu nachzugehen und, soweit uns möglich, zu erklären, nicht zu rechtfertigen: wir bleiben Internationalisten auf Seiten der arbeitenden und leidenden Bevölkerungen – wo auch immer, auch hierzulande.

Der bisherige Kriegsverlauf zeigt, dass sich die Mehrzahl der Medien in der Bundesrepublik wie am ersten Kriegstag fast einhellig an den politischen Vorgaben der Regierung orientieren – und die wiederum an Vorgaben aus Washington, wo CIA-Direktor Bill Burns am 10. März 2022 vor dem US-Senat erklärte: “Russland verliert den Informationskrieg um die Ukraine.”

Die Zahl der Zweifelnden an den angeblich unstrittigen Informationen und Kommentaren von Sendeanstalten und Presse nimmt zu – ein gutes Zeichen, verbunden mit der Herausforderung, soweit irgend möglich jeder Verfälschung von Sachverhalten und jeglicher Propaganda entgegenzutreten.

Im kulturellen Bereich ist das mit Schwierigkeiten verbunden, die kaum zu überwinden sind, weil etliche Einschränkungen nur als absurd zu bezeichnen sind. Die Beispiele dafür sind leider zahlreich: Absagen von Opernaufführungen und Konzerten russischer Komponisten, Musizierenden und Dirigenten, von Lesungen und Theaterprojekten russischer Autorinnen und Autoren – keineswegs nur heute lebender, sondern historisch
bedeutsamer wie Puschkin, Gogol, Majakowski, Anna Achmatowa und Olga Bergholz.

So blödsinnig uns solche Vorbehalte und Beschränkungen erscheinen mögen, so schwierig sind sie in der Praxis zu überwinden, weil sie zurückgreifen auf noch immer nicht überwundene Ideologien des faschistischen Deutschlands wie die vom bolschewistischen Untermenschen.

Seit mir bewusst wurde, was ich als Kind während des 2. Weltkriegs erlebt und erfahren habe, war mein Anliegen und bleibt es, dazu beizutragen, dass sich Vergleichbares nicht noch einmal ereignen kann (ich war 10 Jahre alt, als mit der Kriegsniederlage 1945 die faschistische Herrschaft in Deutschland endete).

Ich bin wie viele meiner Generation mit diesem Anliegen gescheitert: wir haben die Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht verhindern können, aber jedenfalls Ende der 1950er Jahre Dank der Ostermarsch-Bewegung die atomare Aufrüstung Westdeutschlands.

Nicht aber die Notstandsgesetze, nicht das Niederschlagen der Schüler- und Studentenbewegung nach 1968, nicht die gegen die Sowjetunion gerichtete Nachrüstung 1983 durch das Aufstellen der mit Atomsprengköpfen bestückten Pershing-2- Raketen, nicht die Kriegsbeteiligung des 1990 wiedervereinigten Deutschlands beim NATO-Überfall auf Jugoslawien am 24. März 1999, dem ersten Angriffskrieg Deutschlands seit 1938. Auch die damalige Zustimmung unserer Gewerkschaftsführung zum völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Krieg konnten wir nicht verhindern – das „Ja“ zum Bombardement der Nato im Namen der nicht befragten Mitglieder durch den damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte ist bis heute nicht aufgearbeitet.

"Auf Macht wird es wieder hinauslaufen, und mir graut vor deutscher Macht“ warnte bereits 1947 Thomas Mann, und Bertolt Brecht, 1951, angesichts der beginnenden Remilitarisierung der BRD: „Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben.“ Beide scheinen recht zu behalten.

Wir sollten die Mahnung von Christa Wolf beherzigen: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Gegen dieses „uns fremd stellen“ hat wieder und wieder auch Esther Bejarano, Überlebende der KZs Auschwitz und Ravensbrück, die uns im vorletzten Jahr für immer verlassen hat, hingewiesen und, vor allem an Jugendliche gerichtet, geäußert: „Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung durch die Rote Armee? Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.

Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt, erlebt wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg.

Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze

Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sieverantwortlich für Hunger, Not und Tod?

Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus: es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem, über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern, hin zur Fernsehserie ‚Holocaust‘ ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts.

Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich. Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen deshalb nicht. Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gestritten werden für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!“

"Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen“ – diese von Esther vielfach wiederholte Mahnung sollte für uns besonders gelten, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.

"Sagen, was ist“ – wie von Rosa Luxemburg gefordert: als wahr Erkanntes, aussprechen, uns um das Erkennen der Tatsachen bemühen, um uns der Wahrheit anzunähern, und sei es im Widerspruch zu Medien und Regierungen – zumindest solange uns noch keine Konsequenzen drohen wie vormals mit den Berufsverboten.

Sogar in den wenigen kritischen Kommentaren bürgerlicher Medien wird an Machiavellis Hinweis aus der Zeit um 1500 erinnert: „Nicht wer zuerst nach den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer die Ursache dafür geschaffen hat.“

Vor einigen Monaten, am 3. September 20022, war ich in Stukenbrock zum Gedenken an die Tausende sowjetischer Kriegsgefangener, die dort gelitten haben, bevor sie starben – an Hunger, Kälte, Krankheiten, durch Misshandlung, Folter, Totschlag, Erschießen. 65 000 liegen da – ein Teil der „geschätzt“ 3,3 Millionen Ermordeten von den 5,7 Millionen sowjetischen Gefangenen insgesamt, nur jeder Dritte von ihnen überlebte die
Gefangenschaft.

Frage – die sich heute auch beim Hinweis auf die mehr als 25 Millionen Toten in der Sowjetunion stellt: wie viele von ihnen waren Russen, wie viele Ukrainer, wie viele aus weiteren Völkern, die zur Sowjetunion gehörten? Soll unser Gedenken sich auf ein Unterscheiden einlassen zwischen denen, die nach gemeinsamen Kampf gemeinsam gelitten und ihr Leben gelassen haben? Unterscheiden sollten wir allerdings zwischen der seit 1991 nicht mehr existierenden Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Aus der Rede des damals 95jährigen Daniil Granin, einem Überlebenden der Belagerung Leningrads, am 27.Januar 2014 vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages: „An den Wänden des Reichstags waren noch die Inschriften unserer Soldaten zu lesen. Eine davon ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: ‚Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst‘“.

Als wir, Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Gewerkschaften, 1999 nach unserer Reise ins von der NATO bombardierte Jugoslawien darauf hinwiesen, dass dieser Angriff eine entscheidende Etappe der militärischen Einkreisung Russlands sei, erfuhren wir überwiegend Ablehnung, auch innerhalb des DGB.

Vergeblich erinnerten wir daran, mit welchen Folgen Vertreter der Gewerkschaften und der SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur „Verteidigung des Vaterlandes“ aufriefen und Arbeitskämpfe und gewerkschaftlichen Widerstand einstellten. Vergeblich auch auf die bis heute dunkelsten Stunden der deutschen Arbeiterbewegung: die kampflose Niederlage Ende Januar 1933 bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Hitler. Nicht die Niederlage machte diese „dunkelsten Stunden“ aus, sondern dass sie kampflos erfolgte.

Und vergeblich erinnerten wir auch daran, dass dem Aufruf der Gewerkschaftsführung, den 1. Mai gemeinsam mit der NSDAP zu begehen, am Folgetag der Sturm der SA auf die Gewerkschaftshäuser folgte. Auch wenn die damaligen Ereignisse nicht mit heutigen vergleichbar sind, sollte als Einsicht bleiben, dass weder Gewerkschaften noch Gruppen und Parteien der Linken durch Anpassung an die Interessen der herrschenden Klasse und der Regierenden etwas gewinnen, sondern nur ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten einschränken.

Die vor einem Viertel-Jahrhundert begonnene Einkreisung Russlands ging und geht weiter: mit der NATO-Ausdehnung seit 1991, dem Maidan-Putsch 2014 und der folgenden Auseinandersetzung um die Donbass-Region, dem Versuch die abgespaltene Krim wieder in die Ukraine zurück zu holen, die geplante Verstärkung wie es heißt „militärischer Verteidigungskräfte“ der NATO an den Grenzen Russlands.

Auch die Erweiterung der Nato um Schweden und Finnland verdeutlicht, dass es sich nicht um einen lokalen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, sondern um einen geopolitischen Großmachtkonflikt – in dem die Regierung der USA die treibende Kraft ist.

Ein Kapitulationsfrieden kommt für Kiew ebenso wenig in Frage wie für Moskau ein völliger Rückzug aus dem Donbass und der Krim, die es als russisches Staatsgebiet betrachtet. Friedenslösungen, die auf Kompromissen und nicht auf Kapitulation beruhen, sind nur unterhalb der Maximalforderungen beider Seiten erreichbar.

Sollte sich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ausweiten über den bislang durch Sanktionen und Waffenlieferungen indirekt geführten Krieg der NATO-Staaten gegen Russland hinaus, würde Europa zum Kriegsschauplatz werden.

Der nach China ökonomisch größte Konkurrent der USA würde damit ausgeschaltet und Russland militärisch geschwächt: eine Möglichkeit, die in Washington geplant und inzwischen auch in Kreisen der deutschen Wirtschaftsführung mitgedacht werden dürfte. Wir sollten sie unbedingt in unsere Überlegungen einbeziehen.

Lassen wir uns nicht täuschen. Dies ist kein Krieg nur zwischen Russland und der Ukraine. Seit Jahrzenten verfolgen die USA ihr Ziel, Russland zu isolieren und als Machtfaktor in den internationalen Beziehungen auszuschalten, wie Zbigniew Brzezinski, bereits 1997 formulierte: „schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben“.

Ende Oktober 2014 warnten Roman Herzog, Gerhard Schröder und mehr als 60 weitere Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien vor einem Krieg und riefen zum Dialog mit Russland auf:

"Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten Partnern. (...) Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen.“ Ein Jahr später schien sich ihr Anliegen zu bestätigen, als am 12. Februar 2015 das Minsker Friedensabkommen unterzeichnet wurde, auch von Angela Merkel, die zu Anfang dies Jahres erklärte, das sei geschehen, um der Ukraine Zeit zu verschaffen – Zeit für Vorbereitungen zu einem Krieg, der sich inzwischen zum Weltkrieg auszuweiten droht.

Christa Wolf, in ihrem Buch „Kassandra“: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gibt, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“

Sagt NEIN!

NEIN zu den bereits vollzogenen und noch geplanten Einschnitten in unsere Lebensverhältnisse, NEIN zu Rüstung und weiterem Abbau sozialer Standards, von Löhnen, Gehältern, Renten, NEIN vor allem auch im Namen unserer Kinder, die um Bildung, Ausbildung, Arbeit und Perspektiven fürs Leben betrogen werden.

Konsequenz kann nur sein uns enger zusammenzuschließen, auch in der täglichen Kleinarbeit. Gegen Sozialabbau, für Frieden und Völkerverständigung. Im Sinne des Aufrufs des Arbeitskreises „Blumen für Stukenbrock e.V.“ vom 25. Februar 2022:

  • Schluss mit Rüstung, Sanktionen, Konfrontationspolitik und Kriegsrhetorik.
  • Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Russland.
  • Frieden in Europa gibt es nur mit Russland: eine Lehre aus der Geschichte und ein Gebot der Gegenwart.

Und wieder und wieder mit Bertolt Brecht: "Kampf um Frieden ist Kampf gegen den Kapitalismus.“

Vielen Dank.

 

Rolf Becker ist Schauspieler.