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"Dieses Ding ist ein Monstrum"

86 tschechische Bürgermeister im Kampf gegen einen Raketenschild

Christian Heinrici

Die Notwendigkeit einer Raketenabwehr in Europa sei real, hatte George W. Bush verlauten lassen, man müsse schließlich auf einen Angriff mit Atomraketen aus dem Iran gefasst sein. Um das bis jetzt nicht sehr fruchtbare Feld für den Bau eines neuen Raketenschildes in Mittel- und Osteuropa vorzubereiten, schickte der US-Präsident Ende Oktober seinen Verteidigungsminister, Robert Gates, durch Europa, um für das ausgedehnte "Verteidigungssystem" der mächtigsten Militärmacht der Welt die Werbetrommel zu rühren.

Im Januar 2007 wurden die Pläne des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums bekannt, neue Militärbasen als Teil ihres globalen "Verteidigungssystems" in Polen und in der Tschechischen Republik zu errichten. Bei Pilsen, in der mittelböhmischen Region Brdy, soll ein "Raketenschutzschild" errichtet werden, der nicht nur den Abfang feindlicher Missiles, sondern wie der russische Außenminister Lawrow befürchtet, auch Angriffe koordinieren kann. Die Pläne hatten zu erheblichen Spannungen mit Russland geführt und die weltpolitische Sicherheitslage bedrohlich aufgeheizt. Der Raketenschild war auch Streitpunkt zwischen dem russischen und den NATO-Verteidigungsministern im niederländischen Noordwijk Ende Oktober. Moskau hatte schon im Juli den KSE-Vertrag mit Obergrenzen für schwere konventionelle Waffen ausgesetzt, weil es sich durch die vertragswidrige Radaranlage bedroht fühlt.

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die ausgedehnte US-amerikanische "Verteidigung" ebenso zu Irritationen in der tschechischen Bevölkerung führte: Die Regierungskoalition aus Konservativen, Christdemokraten und Grünen in Prag hatte bis dato sämtliche Einwände gegen das Vorhaben ignoriert. Laut Umfrageergebnissen sind aber mehr als 60 Prozent der Bevölkerung gegen den Bau des Raketenschilds, und in den vergangenen Monaten kam es in Prag und einigen anderen Städten zu beachtlichen Protesten. "Ne Základnám", eine Initiative tschechischer Humanisten und vierzig weiterer Organisationen gegen die US-Basen, sammelte an die 40.000 Unterschriften für ein Referendum, das von der dortigen Regierung aber bislang vollkommen außer Acht gelassen wurde.

Am 20. Oktober hatte "Ne Základnám" und die Initiative "Europe for Peace" zu einer internationalen Konferenz im mittelböhmischen Breznice geladen, an der 86 Bürgermeister aus der Region teilnahmen sowie Friedensorganisationen aus 16 weiteren europäischen Ländern. Der bolivianische Präsident Evo Morales und die Bürgermeister von Hiroshima und London schickten Grußbotschaften an die Protestierenden. Zu den Rednern auf der Konferenz gehörten unter anderem Kate Hudson von "Campaign for Nuclear Disarmament" (CND), der wohl bekanntesten britischen Friedensorganisation, die seit mehr als vierzig Jahren mit Massenprotesten und spektakulären Aktionen für Abrüstung in Großbritannien kämpft, sowie Vertreter von "Mayors for Peace" und das "Global Networks against Weapons and Nuclear Power in Space".

Bei dem Treffen Breznice waren internationale Medien, wie die ARD, Arte oder ein russischer Kanal präsent, ganz im Gegensatz zu den lokalen, die unterrepräsentiert waren. Jan Tamas, Sprecher des tschechischen Friedensbündnisses gegen den Raketenschild, erklärte: "Heute sind die USA für 48 Prozent der Rüstungsausgaben weltweit verantwortlich: Allein im Jahre 2005 waren es 540 Milliarden Dollar, die natürlich in den Taschen derjenigen landen, die die Waffen herstellen. Sie brauchen Konflikte und Kriege, denn all diese Raketen und anderen Waffen müssen auch abgefeuert werden. Und deshalb werden die Medien von eben dieser Waffenindustrie benutzt, um die Leute - die natürlich Frieden wollen - davon zu überzeugen, dass es einen Kriegsgrund und eine ganz konkrete Bedrohung gäbe ..." Das tschechische Fernsehen hatte noch bis Mitte des Jahres versucht, Informationen über den Raketenschild und die Proteste totzuschweigen. "Bis zu unseren Protesten haben sie seit 2002 einen einminütigen Bericht im Fernsehen gebracht ... Selbstverständlich ist das vollkommen unzureichend, um ihrer Informationspflicht nachzukommen. Das ist schlichtweg ungenügend, wenn die Zukunft, die Souveränität und der Frieden unseres Landes auf dem Spiel stehen!", sagte Tamas.

Die ignorante Haltung der tschechischen Regierung und ihre absichtlich verfehlte Informationspolitik hatten die Bürgermeister zahlreicher tschechischer Gemeinden auf den Plan gerufen. Jan Neural, Gemeindevorsteher von Trokavec, das nur zwei Kilometer von der geplanten Radaranlage entfernt liegt, kritisierte auf der Tagung scharf die Informationspolitik der Regierung, er habe von dem geplanten Bau der Radaranlage erst aus Zeitung und Internet erfahren: "Ich verstehe nicht, warum "unsere" Regierung so etwas macht: Ist sie vollkommen korrupt?! Ein großer Teil der tschechischen Bevölkerung ist gegen den Bau, aber die Regierung ignoriert diese Mehrheit einfach. Ich habe fünf Jahre lang an der Universität Physik und Radioortung studiert. Natürlich war mir sofort klar, dass wir dieses Monstrum auf keinen Fall in Brdy haben wollten. Der geplante Radarschirm stellt nicht nur eine große Gefahr für die internationale Sicherheitslage, sondern auch für unsere tägliche Gesundheit dar - dieses Ding ist ein Monstrum!"

Petr Navratil, Gesundheitsbeauftragter der tschechischen Armee, schloss in einem Interview in Radio Prag eine von dem Radar ausgehende Gefährdung durch Strahlung aus - allerdings nur, solange ein ausreichender Sicherheitsabstand gewahrt bliebe, den er nicht weiter definierte. Die Bundeswehr wiederum hält Strahlungsschäden durch Radaranlagen schon von nur fünf Kilowatt für möglich - von den "Gesundheitsschäden", die durch einen atomaren Erstschlag auf die Anlage herrühren könnten, ganz zu schweigen.

"Von Anfang an hat uns die Regierung versucht zu diskreditieren, man hat uns als Kommunisten, Bolschewisten, Pazifisten und als Alkoholiker` bezeichnet!", sagte Josef Rihák, Sprecher der tschechischen "Bürgermeister gegen den Raketenschild". Viele Bürgermeister, die auch Mitglieder in Regierungsparteien sind, habe man versucht durch parteiinterne Sanktionen einzuschüchtern, da sie sich gegen die Politik ihrer eigenen Parteien stellten. "Wir lassen uns nicht länger an der Nase herumführen. Wenn wir Hunderte und Tausende werden, können sie nicht länger einfach nur auf uns eindreschen. Von diesem internationalen Treffen bin ich sehr berührt, und ich danke Ihnen für die Solidarität. Und wir geben nicht auf, bis wir gewonnen haben!", sagte Rihák.

Giorgio Schulze, Sprecher des Europäischen Humanistischen Forums und Mitinitiator von "Europe for Peace", forderte in einer Abschlussrede die Beseitigung aller Kernwaffen, die auf US- und NATO-Basen in Europa stationiert sind sowie den Rückzug aller Besatzungstruppen, beispielsweise aus dem Irak oder aus Afghanistan - eine Forderung, die auch von Noam Chomsky, Michail Gorbatschow und vielen anderen im Internet unterstützt wird. "Frankreich und Großbritannien könnten einen ersten konsequenten Schritt zu einer globalen Abrüstung tun, indem sie unter der Aufsicht der UN ihre Arsenale vernichteten.", so Schulze weiter.

"Es geht nicht alleine um eine neue US-Basis in Tschechien. Und uns ist auch klar, dass, wenn wir tatsächlich den Kampf gegen die geplante Militärbasis gewinnen, die USA immer noch das ganze System einfach in Polen oder in Rumänien oder sonst wo bauen könnten. Deshalb sehen wir die Notwendigkeit, uns europaweit zu vernetzen, zumal schon jetzt in Europa fast 500 Atomsprengköpfe lagern.", sagte Ne Základnám-Sprecher Tamas.

Und so beschloss man auf der Tagung in Breznice, verstärkt auf die Gefahr für ganz Europa und die Weltsicherheit aufmerksam zu machen, die von dem geplanten "Abwehrsystem" ausgeht, und den tschechischen Bürgermeistern in ihrem Kampf solidarisch zur Seite zu stehen. Sicher stellten das Mittelmeerforum für nukleare Abrüstung Mitte November in Madrid, ein Forum zur Gewaltfreiheit in Paris und eine Konferenz von CND in London im Dezember, das Europäische Humanistische Forum in Mailand im April 2008 und die Vernetzung der "Mayors for Peace" eine gute Gelegenheit dazu dar.

Weitere Informationen unter:
http://www.nezakladnam.cz/en, http://www.europeforpeace.eu, http://www.trokavec.cz/en (lokaler Protest gegen den Raketenschild in Trokavec).



Christian Heinrici ist freier Journalist und Mitbegründer des Humanistischen Netzes in Köln.

E-Mail: humanisten (at) netcologne (Punkt) de
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