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 Terrorismus und kein Ausweg?

Buchbesprechung

"Die Todesnacht in Stammheim"

Martin Singe

Im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim starben in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 drei führende RAF-Mitglieder: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Irmgard Möller hatte schwere Stichverletzungen erlitten, aber überlebt. Die offizielle Version lautete bereits am frühen Morgen lt. Bonner Krisenstab: kollektiver Selbstmord(versuch). Zuvor hatte die GSG 9 in Mogadischu die entführte Landshut-Maschine erstürmt. Mit der Entführung sollten die RAF-Gefangenen freigepresst werden. Die Selbstmordversion war seitdem umstritten. Die überlebende Möller hat diese Version bestritten.

Nun ist in diesem Jahr im Pahl-Rugenstein-Verlag eine neue Veröffentlichung zum Thema erschienen: Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren. Dem Buch liegt eine CD mit 107 Dokumenten von Vernehmungen, Gutachten und Spurenauswertungen bei. Der 1964 geborene Autor Helge Lehmann, IT-Spezialist, kommt eigentlich aus einem unpolitischen Umfeld. Lehmann war erst über die Lektüre von Stefan Austs "Der Baader-Meinhof-Komplex" auf das Thema gestoßen, das er dann als Herausforderung für sich sah. Er stellt die offizielle Version auf den Prüfstand. Aufgrund seiner jahrelangen Recherchen, der Auswertung neuer freigegebener Dokumente und mithilfe eigener Versuchsaufbauten erschließt er Widersprüche und Ermittlungsdefizite. Bis heute sind viele Fragen unbeantwortet bzw. nicht schlüssig beantwortet: Wie konnten trotzt schärfster Kontrollen die Waffen in den Hochsicherheitstrakt kommen? Wie konnten die Gefangenen trotz Kommunikationssperre miteinander kommunizieren und sich zur kollektiven Selbsttötung verabreden? Die offiziellen Ermittlungsergebnisse dazu bleiben widersprüchlich bis unglaubwürdig.

Das 240 Seiten lange Buch liest sich spannend wie ein Krimi. Kapitel für Kapitel werden die offiziellen Darstellungen erschüttert und neue Fragen aufgeworfen. Erschreckend ist, dass nach wie vor - auch nach der 30-Jahres-Frist - Dokumente und Akten aus dem Krisenstab, der GSG 9 und dem BKA geheim gehalten werden. So trägt die Bundesregierung nicht zur Erhellung dieser dunklen Nacht bei. Sie stuft wichtige Dokumente dauerhaft als Verschlusssachen ein und antwortet auf ein Einsichtsbegehren des Autors am 22.7.2008 ablehnend: "Zudem ist Ihr Antrag auf die Bekanntgabe von Informationen gerichtet, die dem verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung unterfallen. Dieser umfasst den selbst von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Regierung." - Welch wunderbare Demokratie!



Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren. Bonn 2011, ISBN 978-3-89144-437-5 (19,90 Euro).





Martin Singe arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und ist Redakteur des Friedensforums.

E-Mail: martinsinge (at) grundrechtekomitee (Punkt) de
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