Was wir daraus heute für Soziale Verteidigung lernen können

100 Jahre passiver Widerstand im Ruhrkampf

von Barbara Müller
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Am 11. Januar 1923 marschierten französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein. Dieser militärische kriegsmäßige Einmarsch diente dem „Friedenszweck“, rückständige Kohlen und Holzlieferungen einzutreiben. Dafür sollten in der zentralen Verteilungsstelle, im Ruhrkohlensyndikat in Essen, die Bücher kontrolliert und die Lieferungen entsprechend umdeklariert werden. Dort eingetroffen, standen die Ingenieure und Besatzungsoffiziere jedoch vor einem Problem. Die Akten waren weg.
Mit diesem Handstreich direkt am ersten Tag der Besetzung zerplatzte der Traum, bereits mit der Androhung von militärischer Gewalt Gehorsam zu erzwingen. Hier blitzte auf, was später ein Merkmal des Widerstands werden sollte: Die Beherrschung einer kritischen und komplexen Infrastruktur lebt von dem Wissen, mit ihr umzugehen.
Als dies alles in den ersten Stunden der Besetzung geschah, hielten die Beteiligten auf deutscher Seite dies nicht für einen besonders machtvollen Akt. Sie hatten eher den Eindruck, nicht viel tun zu können. Aber man wollte wenigstens “nicht mittun“.
Welche Optionen gab es – außer Kapitulation unter Protest? Militärische Gegenwehr? Guerillakrieg? Hier tauchte früh das Zauberwort der „passiven Resistenz“ auf, blieb aber zunächst unscharf. Niemand wusste genau, was das heißen soll und vor allem – wie weit man damit kommt.
Dass man sich “von Bajonetten“ nicht zwingen lassen wollte, das empfanden auch viele Menschen im besetzten Ruhrgebiet. Als einige Zechenbesitzer demonstrativ die Rechtmäßigkeit der Besetzung hinterfragten und deswegen vor ein Militärgericht gestellt werden, löste dies eine Solidarisierungswelle aus, mit der niemand gerechnet hatte. Quer zu den üblichen politischen und wirtschaftlichen Fronten bezogen Belegschaften für „ihre“ Chefs Position. Ein Prozess gegen fünf Männer wurde zu einer Verhandlung gegen Zigtausende organisierte Arbeiter (und manche Arbeiterinnen). ((Den Begriff „Arbeitnehmer“ gab es zu dieser Zeit noch njcht!)) Die Gewerkschaften brachten nun ihr bewährtes Kampfmittel, den Streik, mit in die Auseinandersetzung. Vor allem die punktuellen Streiks und die generelle, demonstrative Verweigerung der Zusammenarbeit stellten die Besatzungsmächte vor ein großes Problem und wurden zum Merkmal des passiven Widerstands.
Der kommandierende General und der französische Ministerpräsident erkannten den Ernst der Lage schnell. Sie schalteten um vom schnellen Sieg auf eine langfristige und sich steigernde Repression gegen den Widerstand. Das tägliche Leben wurde mit immer neuen Erlassen verkompliziert. Wer gehorchte, wurde zum Verräter oder zur Verräterin. Wer die Zusammenarbeit verweigerte, riskierte Geldbuße, vielleicht die Schließung des Geschäftes, Drangsalierung, Inhaftierung, oft die Ausweisung (mehr als 180.000 Menschen wurden vertrieben), manchmal die Gesundheit und das Leben.
Mit der ersten gewaltsamen Beschlagnahme von Kohlenvorräten im März setzte die belgische Besatzung ein Zeichen der Eskalation und befeuerte Gewalt- und Sabotageaktionen auf deutscher Seite. Das ist die dunkle Seite des deutschen “moralischen Widerstands“, die bis in den Sommer ebenfalls staatliche Unterstützung erhielt.
Das Leben im Ruhrgebiet wurde gefährlich. Die dichte Infrastruktur des Ruhrgebietes bot über Monate hinweg Ausweichmöglichkeiten. Doch auf die Dauer senkte sich die Waagschale ins Negative, oder, wie es ein Besatzungsoffizier sagte „sie schaden sich selbst."

Was war die Perspektive dieser Politik?
Der Widerstand, der improvisiert begann, wurde im Frühjahr 1923 systematisch unterfüttert. Lohnsicherung, Schadensersatz bei Ausweisung, später Erwerbslosenunterstützung, Kredite für die Wirtschaft, das waren, zusammen mit einer massiven Währungsstützung, die Säulen, die es den Menschen ermöglichten, im Widerstand auszuharren. Die Zeitgenossen haben klar erkannt, dass das eine finanzielle Kamikazefahrt war und deswegen die zeitliche Perspektive des Widerstands eher nach Wochen als nach Monaten gemessen. Also - was sollte die Rettung bringen?
Die Hoffnung lag auf der Außenpolitik, und die Stimmung des Widerstands lässt sich wie eine Fieberkurve an den misslingenden deutschen Aktionen auf diesem Gebiet ablesen. Je länger ein Durchbruch zu Verhandlungen auf sich warten ließ, umso dünner wurde das Eis des Zusammenhalts des Widerstands.

Widerstand ohne Zusammenhalt
Im Mai brach das Eis an drei verschiedenen Stellen zugleich: Die finanziellen Mittel waren erschöpft, eine galoppierende Inflation ließ die Löhne am Tag ihrer Auszahlung zu Nichts schwinden. Im besetzten Gebiet gab es erste Demonstrationen gegen unzureichende Löhne und nicht gegen die Besatzung. Die erste diplomatische Note der Reichsregierung fiel auf dem internationalen Parkett vollständig durch. Hoffnungen auf baldige Verhandlungen zerstoben. In der Diskussion um die Aufbringung der Reparationen legten dann die Unternehmer auch noch ein Positionspapier auf den Tisch, das den Acht-Stundentag faktisch abschaffte und gewerkschaftliche Positionen offen ins Mark traf – mit denen sie im Ruhrgebiet gemeinsam kämpften.

Widerstand mit Selbstzerfleischung
Trotzdem wurde der Widerstand nicht einfach aufgegeben, sondern eher punktuell aufgeweicht. Eine Zusammenarbeit mit Besatzungsstellen wurde jetzt je nach Lage geduldet, wenn der Druck zu groß wurde. Dies wurde von anderen aber schnell als Verrat gedeutet. In den letzten Wochen des Widerstands ist zu sehen, wie sich gegenseitige Schuldzuweisungen häuften. Doch auch jetzt noch blieb ein Rest von Zurückhaltung, direkt die Seite zu wechseln und sich offen den Besatzungsmächten anzuschließen.

Aufgabe des Widerstands und innere Umsturzversuche
Inzwischen – es war August – gab es eine neue Reichsregierung, die erkannt hatte, dass die Zukunft des Staates auf dem Spiel stand, wenn die Währung nicht sofort saniert wurde. Dazu musste der Widerstand vorher eingestellt werden. Alle Bemühungen, dafür irgendein Zugeständnis oder Aussichten auf Verhandlungen zu bekommen, stießen jedoch bei Frankreich ins Leere. Die Reichsregierung stellte den passiven Widerstand dann am 26.9.1923 einseitig ein und rief im Reich gleichzeitig den Ausnahmezustand aus. Die folgenden Wochen entschieden tatsächlich über den Fortbestand der ersten Demokratie in Deutschland. Die Kommunistische Internationale plante die Revolution in Deutschland, die Nationalsozialisten einen Putsch in Bayern und den Marsch auf Berlin. Beides scheiterte im November.
Im besetzten Gebiet änderte sich nach dem Abbruch des Widerstands zunächst wenig. Es konnte keine Rede von einer Rückkehr zur Normalität sein. Insbesondere Frankreich wartete mit verschränkten Armen ab, ob der sich abzeichnende innere Zerfallsprozess der Weimarer Demokratie vielleicht zu einer Entstaatlichung führte. Hoffnung machten ihnen im Rheinland die Separatistenaufstände im Oktober, die aber blutig niedergeschlagen wurden.
Erst der Ausgang des Hitlerputsches im November 1923 in München führte in Paris zu der Erkenntnis, dass eine Lösung der Reparationsfrage mit der Weimarer Demokratie eher zu haben sein würde als mit den Nationalsozialisten. Inzwischen hatten sich auch Großbritannien und die USA wieder aktiv ins Geschehen eingeschaltet. Sie übernahmen im Hintergrund die Führung hin zu einem Verhandlungsprozess, der zu ersten einvernehmlichen Reparationsregelungen führte. In diesen Verhandlungen wurde 1924 erst das Schicksal der Vertriebenen und Verhafteteten im Ruhrgebiet und die Beendigung der Besetzung geregelt. Bis Ende Juli 1925 verließen die Besatzungstruppen das Ruhrgebiet. Viele Geschädigte hatten bis dahin den Glauben an das Schutzversprechen der Regierung verloren.

Was zeigt der passive Widerstand im Ruhrkampf heute für Soziale Verteidigung?
Fassen wir zusammen: Der „passive Widerstand“ bietet das erste umfassende Bild einer staatlich organisierten und geführten, weitgehend zivilen Widerstandsstrategie gegen eine militärische Besetzung von Anfang bis Ende und über das Ende der Widerstandsstrategie hinaus. Er zeigt, welch weitreichende Konsequenzen die Improvisation am Anfang nach sich zog, denn spätere Überforderungen ergaben sich zwangsläufig aus frühen Festlegungen, die ad hoc entschieden werden mussten. Er zeigt die enge Kopplung zwischen außenpolitischer Perspektive und Durchhaltegeist sowie den engen Zusammenhang zwischen dem Zusammenhalt im Widerstand und einer als fair empfundenen Lastenverteilung. Er präsentiert uns grundlegende Einblicke in Aufbau und Dynamik, Abhängigkeiten und Fallstricke dieser ersten improvisierten und dann organisierten gesamtgesellschaftlichen zivilen Abwehr. Für die Entwicklung einer Sozialen Verteidigung gilt es nun, diese Einsichten auf die Anforderungen der Gegenwart zu übertragen.

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Barbara Müller ist Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung, Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Mitglied des Initiativkreises der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung