Zur strategischen (Neu-)Ausrichtung

“Die Friedenstaube taugt nicht mehr“

von Sarah RoßaTim Nissel

Das folgende Interview führte Tim Nissel, Politikwissenschaftsstudent und Praktikant beim Bund für Soziale Verteidigung, mit einer der beiden Co-Geschäftsführerinnen des Verbands, Sarah Roßa.

Tim Nissel (TN): Zum Anfang eine persönliche Frage: Du arbeitest ja beim Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und bist so ein Teil der Friedensbewegung geworden. Wie bist Du zum BSV gekommen?

Sarah Roßa (SR): Ich bin eine „Quereinsteigerin“, denn ich bin nicht über klassische Themen der Friedensbewegung, sondern über die „Osteuropaszene“ beim BSV gelandet. Ich habe 2008 begonnen, in den Belarus-Projekten des BSV mitzuarbeiten. Mit anderen Arbeitsfeldern des BSV hatte ich bis zu Beginn meiner Arbeit als Co-Geschäftsführerin Anfang 2013 weniger zu tun. Privat würde ich mich derzeit am ehesten als anarchistische Post-Autonome einordnen, die versucht, möglichst gewaltreduziert zu handeln.

TN: Aktuell herrscht in Europa durch den Ukraine-Konflikt und den Islamischen Staat eine Stimmung, die einer Aufrüstung nicht abgeneigt ist. Gewaltfreie Ansätze und deren Erfolge scheinen vielen Menschen weitestgehend unbekannt. Wie würdest du die Situation der Friedensbewegung derzeit beschreiben?

SR: Während in den 1980er Jahren bundesweit jährlich mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße gingen, waren es im letzten Jahr bei Demonstrationen, wie z.B. den Ostermärschen, nur noch einige tausend. Angesichts aktueller bewaffneter Konflikte ist Friedensarbeit jedoch so wichtig wie eh und je und es gibt handfeste Ansätze, die die Friedensbewegung (mit)entwickelt hat. Leider sind viele dieser Methoden entweder wenig bekannt oder unpopulär. Da frage ich mich  – bewegt sich derzeit so viel in der Friedens“bewegung“?

TN: Was fehlt der Friedensbewegung, um stärker zu werden?

SR: Zum einen sind Zivile Konfliktbearbeitung und andere gewaltfreie Ansätze im Gegensatz zum Militär natürlich völlig unterfinanziert und werden von der Politik weder besonders wahr- noch ernst genommen. Zumindest nicht in dem Ausmaß, dass sie dem Militär mittelfristig den Rang ablaufen könnten. Zum anderen bin ich der Ansicht, dass die Friedensbewegung zu wenig strategisch denkt und plant und ihre Ansätze nicht gut verkauft. Es gibt wenige handfeste und konkrete Darstellungen von Instrumenten der Zivilen Konfliktbearbeitung, wie zum Beispiel des Zivilen Peacekeepings, die verständlich anhand konkreter Beispiele darstellen, worum es dabei geht. Wenn ich mir als Co-Geschäftsführerin einer Friedensorganisation oft nicht viel darunter vorstellen kann, wie z.B. unbewaffnetes ziviles Peacekeeping in einem bewaffneten Konflikt wie in der Ukraine konkret vonstatten gehen könnte, wie soll das denn jemand können, die/der zum Beispiel weitestgehend in einer Logik von Militär als legitimem Mittel der Politik denkt?

Was der Friedensbewegung fehlt
TN: Viele Menschen in Europa stehen Kriegseinsätzen skeptisch gegenüber. Besonders der Afghanistaneinsatz zeigte ihnen, dass mit militärischen Mittel kein Frieden erreicht werden konnte. Warum konnten diese Menschen, und vor allem junge Menschen, bisher nicht zahlreich für die Friedensbewegung gewonnen werden?

SR: Dazu braucht es meiner Meinung nach erstens eine viel klarere Kommunikation, damit die Friedensbewegung nicht als TräumerInnen-Bewegung jenseits von Kriegsrealitäten gesehen wird, sondern als eine Bewegung, die radikale Ideen praktisch und konkret umsetzt.

Zur Kommunikation gehört zweitens auch, „ansehnlicher“ zu sein: die Friedenstaube taugt zur Kommunikation mit vielen Menschen oder Gruppen nicht mehr, da müssen neue Symbole und Slogans her. Die Friedensbewegung konkurriert mit Slogans wie „Militärfahrzeuge interessieren uns brennend“ der Stop the War Here AktivistInnen (zu sehen ist ein brennendes Fahrzeug). Das hat Wortwitz. Die Kampagne der Friedensbewegung „Legt den Leo an die Kette“ ist ein Beispiel für etwas knackigere Kommunikation.

Damit bin ich bei drittens, der Anschlussfähigkeit der Friedensbewegung zu anderen Spektren oder Milieus linker sozialer Bewegungen. Den Leo an die Kette zu legen, spricht sicher niemanden aus der Tierrechtsbewegung an. Natürlich muss die Friedensbewegung nicht für alle Spektren und Themen anschlussfähig sein, das ist nicht leistbar. Aber sie muss strategischer überlegen, wen sie ansprechen will, wen nicht und sich klar darüber sein, dass mit der Deutschlandfahne im Logo von Aktion Aufschrei – auch wenn sie eine kritische Referenz zu Rüstungsexporten darstellt – weite Teile der radikalen Linken abschreckt. Ich würde auf keinen Fall dieses Logo irgendwo tragen wollen. Ich nehme in der Friedensbewegung wenig Bewusstsein für die Diskurse in anderen linken Strömungen wahr. So sind Genderdebatten und -Begriffe in der Friedensbewegung tendenziell die gleichen wie in den 1980er Jahren, und ich erlebe wenig Offenheit für neuere Entwicklungen wie Queerfeminismus und damit einhergehend Schreibweisen wie den Gendergap (Schreibweise mit Unterstrich wie in Feminist_in, um mehr als nur Männer und Frauen einzuschließen, sondern auch andere Geschlechtsselbstdefinitionen). Zudem heißt Anschlussfähigkeit an andere Bewegungsspektren und Kämpfe vielleicht auch, mehr Themen als friedensrelevant zu betrachten und Antikapitalismusarbeit, die Umweltbewegung, antifaschistische Gruppen etc. mitzudenken. Dies müsste sich dann in der Sprache und in Debatten der Friedensbewegung niederschlagen. Da höre ich gerade schon das Gegenargument, Friedensarbeit dürfe nicht beliebig werden. Ich denke aber, zwischen Anschlussfähigkeit und Beliebigkeit ist viel Raum.

Die Friedensbewegung darf andererseits natürlich nicht für alle politischen Themen anschlussfähig sein. In der Debatte um den Friedenswinter hat die Friedensbewegung zu spät klare Position bezogen und deutlich gemacht hat: „Mit uns gibt es keine 'Querfronten', wir schließen Kooperationen mit nach rechts offenen Spektren aus.“

Das liebe Geld
TN: Ist auch die finanzielle Situation vieler Menschen ein Grund, sich nicht in Friedensorganisationen zu organisieren?

SR: Dass sich in Deutschland eher weißes Bildungsbürgertum in sozialen Bewegungen engagiert, ist nichts Neues. Dies kann sich möglicherweise über Themen wie Unterstützung für Geflüchtete oder gegen Zwangsräumungen verändern, da hier heterogenere Nachbarschaften angesprochen werden und mehr People of Color in Friedensgruppen eine Rolle spielen könnten.

Zum Thema Geld beobachte ich, dass es in der Friedensbewegung zu Tagungen und Workshops zwar oft einen ermäßigten Teilnahmebeitrag gibt, aber selten – wie zum Beispiel in anderen Spektren sozialer Bewegungen – Beitragssysteme nach Selbsteinschätzung. Dadurch ist es nicht nur so, dass sich eben nur ein ganz bestimmtes Klientel von Tagungen und Workshops der Friedensbewegung angesprochen fühlt, sondern, dass sich andere Menschen die Anreise und Teilnahme auch gar nicht leisten könnten.

Anschlussfähigkeit an andere Bewegungen
TN: Mitunter entsteht der Eindruck, die Friedensbewegung sei isoliert. Parteien wie die Grünen, die mal pazifistisch eingestellt waren, befürworten mittlerweile militärische Einsätze. Gibt es Parteien und Organisationen außerhalb der Friedensbewegung, mit denen zusammenarbeitet werden kann?

SR: Theoretisch ja, denn es gibt viele Überschneidungen zwischen Themen anderer linker sozialer Bewegungen oder anderen „Milieus“ oder „Spektren“ –  welches Wort auch immer besser gefällt. Praktisch muss die Friedensbewegung strategisch überlegen, mit wem sie zusammen arbeiten will, zu welchen Kompromissen sie bereit ist und welche sie lieber nicht eingehen sollte.

Anschlussmöglichkeiten sehe ich an vielen Stellen: Zu einer Welt mit weniger Krieg, Waffen und Gewalt gehört auch Freiheit von struktureller Gewalt und jeglicher Form der Unterdrückung. Dies schließt Umweltthemen, Antikapitalismus, die Care-Revolution (kurz: Pflege- und Sorgearbeit muss mehr wahrgenommen und kollektiver organisiert werden), die queere Bewegung und unzählige andere Themen ein. Die Friedensbewegung erlebe ich an vielen Stellen als nicht sehr offen für solche Diskurse.

Dennoch liegt fehlende Zusammenarbeit nicht nur an der Friedensbewegung. Es liegt auch an anderen linken sozialen Bewegungen oder Teilen davon. Die Skepsis, mit „den Gewaltfreien“ zusammenzuarbeiten, ist groß, was vielfältige Gründe haben kann: unterschiedliche Sprach-Codes, verschiedene Einstellungen zu Militanz oder Gewalt(freiheit), unterschiedliche Herangehensweisen (Dialog mit Herrschenden vs. keine Zusammenarbeit mit dem Staat) oder politische Differenzen wie bspw. Anti-Sexismusarbeit. Das macht Zusammenarbeit schwierig oder sogar unmöglich. Ein weiterer zentraler Aspekt könnte sein, dass in der Friedensbewegung Gewaltfreiheit der zentrale Inhalt ist, während sie in anderen linken sozialen Bewegungen – wenn überhaupt – eine von verschiedenen Taktiken ist. Da ist es mitunter schwer, aneinander anzudocken, wenn die „Anschlussstellen“ völlig unterschiedlich „geformt“ sind.

Gewaltfrei oder „gewaltreduziert“?
TN: Manche linke KriegsgegnerInnen setzen Gewalt ein, um ihre Ziele zu erreichen. Ist hier eine Zusammenarbeit ausgeschlossen?

SR: Verschiedene Teile der Friedensbewegung haben da sehr unterschiedliche Einschätzungen. Auf die Gefahr hin, dass das jetzt sehr verkürzt ist: Physische Gewalt anwenden bringt meist nur kurzlebige und negative Medienaufmerksamkeit, und eine Revolution mit Waffen wird kaum dauerhaft Bestand haben. Aber Gewaltfreiheit als einzig mögliche Grundlage von gemeinsamen Aktionen festzulegen, halte ich für kontraproduktiv für eine Zusammenarbeit – so sie denn gewollt ist. Dazu sind die Verständnisse von Gewaltfreiheit zu unterschiedlich, als dass anhand des Begriffs auf Differenzen geschlossen werden könnte. „Gewaltreduziert“ ist ein Begriff, denn ich als konsensfähiger mit z.B. postautonomeren Gruppen wahrnehme, weil dieser Begriff versucht zu sagen: „Gewaltfrei sind wir kaum, weil wir in einem gewaltvollen System leben, in dem wir auch selbst Menschen unterdrücken, durch z.B. kapitalistische Produktionsketten. Aber wir wollen versuchen, gewaltfreien Aktionsformen Priorität einzuräumen, nehmen dabei jedoch unser Recht auf körperliche Unversehrtheit wahr und tragen z.B. Körperschutz bei Blockaden.“ Das Blockupybündnis 2015 hatte einen weitestgehend gewaltreduzierten Aktionskonsens. Wenn Gruppen der Friedensbewegung da nicht mit machen wollen, weil nicht „Gewaltfreiheit“ drauf steht, ist das vielleicht einfach so.

Ich selbst denke, es sollte keine Zusammenarbeit auf Biegen und Brechen geben –  dann wird unter Umständen mehr Kraft in Auseinandersetzungen darüber gesteckt, welche Aktionsformen tragbar und richtig sind und welche nicht, als verkraftbar ist. Dann bleibt keine Energie für die eigentliche politische Arbeit. Allerdings darf keine soziale Bewegung vergessen, dass sie stärker ist, wenn Menschen auch mal über die Gräben der (angeblichen) Differenzen hinweg springen.

TN: Was gibt Dir Mut, sich gegenüber der finanziellen und routinierten Übermacht der Bundeswehr behaupten zu können?

SR: Ich behaupte mich in meinem Alltag ja kaum gegen die Bundeswehr, denn ich lebe weder in einem Kriegsgebiet oder desertiere, noch verweigere ich meine Steuern oder tue täglich konkret etwas gegen die Übermacht des Militärs. Zudem bin ich privat weniger in der Friedensbewegung oder der Anti-Militarismusarbeit aktiv. Beziehe ich die Frage auf widerständiges Leben im Alltag und in meiner persönlichen politischen Praxis, ziehe ich Mut unter anderem aus gemeinschaftlichem, selbstorganisierten Leben in einem großen Hausprojekt, aus Aktionstrainings, kritischen Gedanken anderer Menschen, die wir in Diskussionen austauschen, Beispielen von Menschen, die mutig Dinge anders gemacht haben oder machen als der gesellschaftliche Mainstream, draußen in der Natur sein, Austausch mit Menschen, die ähnlich denken wie ich ..., die Liste ist lang, denn es gibt so viel Mut machende Praxis.

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