Initiative "Paz Total": die Strategie einer Konfliktbewältigung in Kolumbien ohne Waffen

Friedensprozess in Kolumbien

von Daniela Vargas Fernández
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Momentan ist das Friedensabkommen in Kolumbien mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Dies betrifft insbesondere seine Umsetzung und die Entwicklung einer übergreifenden Initiative mit dem Namen „Totaler Frieden" (1), die darauf abzielt, mit allen in den Konflikt verwickelten bewaffneten Akteuren zu verhandeln. Welche Auswirkungen hat diese Strategie in einem Land, in dem der Konflikt noch immer fortbesteht?

Kolumbien gilt als eines der Länder mit der größten Artenvielfalt und der größten Vielfalt an Kulturen. Allerdings befindet sich das Land seit fast 64 Jahren in einem bewaffneten Konflikt u. a. um Gebietsstreitigkeiten zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen. Einige Gründe hierfür sind die soziale Ungleichheit, die ungleiche Verteilung des Landes und die geringen Möglichkeiten der politischen Partizipation. Leider hat dieser Konflikt schwerwiegende Auswirkungen auf die Bevölkerung. Dies erschwert es, dauerhafte Lösungen für die Probleme zu finden.

Die Beteiligung einer Vielzahl an internen bewaffneten Akteuren macht diese Analyse komplex. Die am Konflikt beteiligten Akteure sind bzw. waren hauptsächlich die Guerillagruppen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia/ Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), ELN (Ejército de Liberación Nacional/ Nationale Befreiungsarmee), EPL (Ejército Popular de Liberacion Nacional/ Nationale Volksbefreiungsarmee), militärische Kräfte, paramilitärische Gruppen (vor allem AUC - Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) und die des Drogenhandels, der diese Akteure finanziert.

Nach mehreren gescheiterten Friedensprozessen und Verhandlungsversuchen begann die Regierung von Juan Manuel Santos (2010-2018) mit der wichtigsten Guerillagruppe FARC in La Havanna, Kuba im Jahr 2012 zu verhandeln. Am 24. August 2016 wurde schließlich das Abkommen unterzeichnet, auch wenn während des Verhandlungsprozesses verschiedene Herausforderungen auftraten. Das Friedensabkommen umfasst sechs Hauptpunkte: Reform des ländlichen Raums; politische Partizipation; Beendigung des Konflikts, Demobilisierung und Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen; Lösung des Problems der illegalen Drogen und Umgang mit Betroffenen des Konflikts mithilfe von Transitional Justice- Mechanismen sowie Umsetzung, Überprüfung und endgültige Genehmigung des Abkommens.

Nach der Unterzeichnung des Abkommens bestand die größte Herausforderung darin, die ordnungsgemäße Umsetzung sicherzustellen. Während der Amtszeit des Präsidenten Iván Duque (2018-2022) gab es große Hindernisse bei der Umsetzung, da die meisten Punkte die Zusammenarbeit mit bewaffneten Gruppen erforderten, die der Präsident jedoch ablehnte. Obwohl die Umsetzung der Vereinbarungen noch nicht abgeschlossen ist und der Prozess bisher fragmentiert war, wurden im Laufe des Prozesses bereits wichtige Erfolge erzielt. Dazu gehören die Demobilisierung der FARC, die Gründung ihrer politischen Partei "Comunes" sowie die Einrichtung einer Wahrheitskommission und der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP - Jurisdicción Especial Para la Paz).

Im Jahr 2022 wurde Gustavo Petro zum  Präsidenten des Landes ernannt und versprach, Maßnahmen für Frieden und Ordnung durchzuführen, die während der vorherigen Regierung nicht durchgeführt wurden. Zu Beginn seiner Amtszeit erklärte Petro allgemeine Verhandlungen mit bewaffneten Gruppen wie Dissidentengruppen aus der FARC, der ELN (Ejército de Liberación Nacional - Nationale Befreiungsarmee), der Splittergruppe der FARC „Estado Mayor Central“ und (neo-) paramilitärischen Gruppen.

Paz Total: eine Strategie ohne Waffen
Diese Verhandlungen werden als Initiative "Paz Total" bezeichnet und beschreiben eine bereichsübergreifende Politik, um einen stabilen und dauerhaften Frieden und Sicherheit zu schaffen. Einem kürzlich von der Stiftung Fundación Ideas para la Paz (Ideen für den Frieden) (2) veröffentlichten Bericht zufolge hat der Begriff „total“ vor allem mit der Verpflichtung zu tun, alle bewaffneten Akteure einzubeziehen, die derzeit Einfluss auf das Fortbestehen des Konflikts haben.

Im Rahmen dieser Strategie wird dem Konzept der menschlichen Sicherheit (3) durch Verhandlungen Vorrang vor dem Einsatz militärischer Gewalt gegen die wichtigsten Anführer*innen der im Land operierenden bewaffneten und kriminellen Gruppen eingeräumt. Die Umsetzung dieses Vorschlags zielt darauf ab, die Einhaltung der Menschenrechte zu fokussieren und zu fördern anstatt auf Gewalt durch militärische Angriffe zu setzen. Das bedeutet, dass die Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC weiter fortgesetzt, die Friedenskultur gefördert, die Gewalt reduziert und dem Dialog Vorrang gegeben wird. Die Umsetzung dieser Initiative steht jedoch vor großen Herausforderungen: Es ist unklar, welche öffentlichen Maßnahmen ergriffen werden sollen, um den Erfolg der Vereinbarungen und der Schritte zu gewährleisten, die an den Verhandlungstischen unternommen werden sollen. Das Verständnis der Dynamiken der bewaffneten Gruppen ist entscheidend für die Verhandlungen in offiziellen und nicht-offiziellen Dialogräumen.

In diesem Sinne wirft die Umsetzung einer Verhandlungsstrategie, die dem Dialog Vorrang vor dem Einsatz militärischer Gewalt einräumt, mehrere wichtige Fragen auf: Wie kann eine Verhandlungs-/Abrüstungspolitik inmitten eines internen Konflikts umgesetzt werden? Worin bestehen die Hauptschwierigkeiten bei der Aufnahme von Verhandlungen mit verschiedenen bewaffneten Gruppen?

Eine der größten Schwierigkeiten ist die veränderte Arbeitsweise dieser Gruppen, die sich im Vergleich zu früheren Jahren drastisch verändert hat. Heute sind die bewaffneten Strukturen horizontal organisiert, was bedeutet, dass die Anführer*innen und die anderen Mitglieder der Organisationen weniger strukturierte Rollen haben. Daher kann man nur erschwert ein*e*offizielle*n Vertreter*in einer kriminellen Organisation  identifizieren.

Ist es möglich, Frieden zu schaffen, indem man mit einer Abrüstungsstrategie beginnt?
Vor allem bei langwierigen internen Konflikten ist es schwierig, das Endergebnis nach den Friedensverhandlungen zu garantieren. Eine der größten Herausforderungen innerhalb des gesamten Friedensprozesses besteht darin, sicherzustellen, dass der Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprozess effektiv umgesetzt wird. Einerseits muss die Regierung die erforderlichen Protokolle für die Wiedereingliederung und Sicherheitsgarantien einhalten, insbesondere für diejenigen, die sich entschlossen haben, ihre Waffen niederzulegen, um sie beim Übergang in die Legalität zu begleiten. Es ist wichtig zu erwähnen, dass seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 mindestens 355 Ex-Kombattant*innen der ehemaligen FARC getötet wurden. Andererseits gibt die Gewalt gegen Gemeinden, soziale Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen weiterhin Anlass zu großer Besorgnis, insbesondere in den Regionen, die für die Umsetzung des Abkommens vorrangig sind. Die Schutzmechanismen für soziale Aktivist*innen sind weitgehend unwirksam.

Das Konzept der Initiative "Paz Total" ist sehr ambitioniert und muss daher in seinen Schritten klar und detailliert analysiert werden. Die Verhandlungen mit den verschiedenen Konfliktakteuren erfordern ein gründliches Verständnis ihrer Eigenschaften und der Art und Weise, wie sie in den Gebieten agieren. Eines der größten Probleme bei diesen Verhandlungen ist das mangelnde Vertrauen beider Seiten in die Einhaltung ihrer Versprechen und in die Straffreiheit der begangenen Verbrechen. Die Herausforderung besteht daher darin, darauf hinzuwirken, dass der gesamte Friedensprozess, dessen Umsetzung derzeit unklar ist, auch tatsächlich umgesetzt wird.

Abschließend ist es wichtig, der Organisation, der Klarheit und den Einzelheiten der Verhandlungen für künftige Entscheidungen Vorrang einzuräumen, da ein falscher Schritt fatal für das bisher erreichte Vertrauen in der Zivilgesellschaft und in andere Gruppen sein könnte. Ebenso erfordert eine Verhandlung, die sich auf Abrüstung und die Umsetzung von Vereinbarungen konzentriert, nicht nur die Beteiligung des Staates. Auch die Unterstützung internationaler Akteure und die Stärkung der lokalen Partizipationsnetzwerke, die die Gemeinschaften selbst geschaffen haben, ist von Bedeutung. Es ist zu hoffen, dass die Geschichte des Landes in den kommenden Jahren einen anderen Verlauf nimmt und das volle Potenzial eines ganzen Landes ausgeschöpft werden kann.

Anmerkungen
1 Preciado, A; Cajiao, A; Tobo,P; López, N. ( 2023) El camino de la paz total. The road to total peace. Assessment of the negotiation strategy of Gustavo Petro's government and opportunities for international cooperation. Fundación ideas para la paz and Global Initiative against transnational organized crime. In: https://globalinitiative.net/analysis/colombia-balance-paz-total/
2 https://ideaspaz.org/publicaciones/investigaciones-analisis/2024-02/paz-...
3 Menschliche Sicherheit: Die Strategie soll sicherstellen, dass die kolumbianischen Streitkräfte der Versorgung der Zivilbevölkerung Vorrang einräumen, anstatt sich auf die Entwicklung militärischer Aktionen zu konzentrieren. Sie zielt darauf ab, die Menschenrechte, die Gemeinschaften und die Integrität der Bevölkerung zu gewährleisten

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Krisen und Kriege
Daniela Vargas Fernández ist derzeit Studentin des Masterstudiengangs "Friedens- und Konfliktforschung" an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie kommt aus Kolumbien und absolviert von Februar bis März 2024 ihr Praktikum beim Netzwerk Friedenskooperative in Bonn.