Der Krieg und weitere Wahrheiten

Kommentar zum Krieg in der Ukraine

von Ulrich Hübner
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, sie beginnt im Falle des Ukrainekrieges am Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion. Zu dieser Zeit einigten sich die Großmächte auf einige Abrüstungsmaßnahmen, insbesondere bei Atomwaffen, auf die Wiedervereinigung Deutschlands, den Verbleib des geeinten Deutschlands in der NATO und auf den Verzicht der NATO auf eine Osterweiterung.

Das war durchaus ein vernünftiger Kompromiss, weitere Schritte der Verständigung waren wünschenswert, erfolgten aber leider nicht. Im Gegenteil, die Westmächte hielten sich nicht an den Verzicht der NATO auf eine Osterweiterung und Russland fühlte sich dadurch erneut bedroht, was durchaus verständlich ist. Viele ehemalige Sowjetrepubliken, darunter auch die Ukraine, wurden souveräne Staaten. Neben einigen ehemaligen Sowjetrepubliken traten auch mehrere ehemalige Ostblockländer, die dem aufgelösten Warschauer Pakt angehörten, entgegen der Vereinbarung der Großmächte der NATO bei.

Die Ukraine blieb zunächst neutral. Doch nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten änderte sich das, er drängte in die NATO. Präsident Putin sah darin eine zunehmende Bedrohung Russlands und forderte von der Ukraine weiterhin Neutralität. Das war durchaus keine überzogene Forderung, denn sie entsprach ja der Übereinkunft der Großmächte nach dem Tauwetter am Ende des Kalten Krieges, an das sich die Ukraine auch vor dem Amtsantritt von Selenskyj gehalten hat. Es entsprach auch den Interessen aller Länder, da neutrale Staaten weniger in Kriege verwickelt werden als andere. Hätte Selenskyj eingelenkt, die Neutralität der Ukraine bekräftigt und den Drang in die NATO unterlassen, wäre vielleicht die Kriegsgefahr erloschen. Das war sein erster Fehler. Da keine Übereinstimmung erzielt werden konnte, begann Russland unter Bruch des Völkerrechts den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für diese Handlung gibt es dennoch keine Entschuldigung, Russland hat geltendes Recht gebrochen und ist für alle Folgen, wie die vielen Toten und die großen Zerstörungen verantwortlich. Die Weltöffentlichkeit hat das Handeln Russlands scharf verurteilt und verhängte Sanktionen sind gerechtfertigt. Sie haben eine Wirkung und sie sollen auch abschrecken.

Präsident Selenskyj hat auf den russischen Angriff mit militärischem Einsatz reagiert und das mit der Verteidigung der ukrainischen Demokratie und Freiheit begründet. Das ist völkerrechtlich zulässig! Aber ist das auch sinnvoll? Hat er damit nicht das zweite Mal die Chance vertan, das Land vor der Zerstörung zu bewahren? Hat er keine Schuld, die vielen getöteten Menschen nicht gerettet zu haben? Die Machthaber fast aller Staaten werden die Reaktion des Herrn Selenskyj für richtig halten. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Ein Verteidigungskrieg ist nicht weniger grausam als ein Angriffskrieg. Sicher ist nur, dass viele Menschen ihr Leben verlieren und große Zerstörungen entstehen. Unsicher ist, ob ein Verteidigungskrieg erfolgreich sein wird. Im Falle des Ukrainekrieges ist das sehr unwahrscheinlich, auch dann, wenn die NATO weiterhin schwere Waffen und viel Geld in das Land pumpt und damit den Krieg verlängert, die Zahl der Menschenopfer weiter steigt, die Verwüstung des Landes vollendet und außerdem das Risiko eines 3. Weltkrieges mit Atomwaffen eingegangen wird. Irgendwann wird auch der letzte ukrainische Soldat tot sein, während Russland eine viel größere Bevölkerung hat und viel mehr Soldaten nachschieben und opfern kann. Folglich kann sich erweisen, dass die militärische Antwort Selenskyjs auf Putins Angriff falsch war. Außerdem stellt sich die Frage, ob die ukrainische „Demokratie“ und „Freiheit“ wirklich so viel wert sind wie die vielen Menschenopfer und Zerstörungen. Bekanntlich heißt Demokratie zu deutsch Volksherrschaft.

Selenskyj, seine Regierung und auch das Parlament sind nicht das Volk. Das Volk sind die Einwohner*innen bzw. die Staatsangehörigen des Landes. Es ist nicht bekannt, dass es in der Ukraine jemals eine Volksabstimmung gegeben hat. Auch in anderen Staaten unseres Planeten hat es keine oder nur sehr selten oder über weniger wichtige Sachverhalte Volksabstimmungen gegeben. Folglich gibt es nirgends Demokratie außer seit 72 Jahren auf dem Papier des deutschen Grundgesetzes (Artikel 20) und in der Realität in der Schweiz seit einigen Jahrhunderten. Nur dort darf das Volk entscheiden, worüber abgestimmt wird, und die Regierung hat die Mehrheitsentscheidung umzusetzen! Das gibt es so nur in der Schweiz.

Dass aus einer freien Wahl einer Regierung nicht automatisch ein demokratisches Land entsteht, hat unser Bundeskanzler Herr Scholz kürzlich erst wieder bewiesen. Vor der Wahl seiner Partei (SPD) war er gegen deutsche Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete und kurz nach der Wahl versprach er die Lieferung von Panzern und Geschützen in die Ukraine. Über die von ihm verkündete „Zeitenwende“ und die zusätzliche 100-Milliarden € teure Aufrüstung, einschließlich der Anschaffung neuer Atombomber, die von der Bevölkerung sehr kritisch gesehen wird, haben nur die Aristokraten entschieden, nicht das Volk.

Alternativen
Außer der militärischen Antwort auf einen Angriffskrieg gibt es noch die Möglichkeit, keinen Widerstand zu leisten. Besonders dann, wenn es gar keine Demokratie und Freiheit zu verteidigen gibt. Ein Angreifer, der keinen Widerstand erfährt, hört von selbst auf zu schießen und zu zerstören.
Wenn er die Hauptstadt des angegriffenen Landes erreicht hat, wird er seine Forderungen erneut der Regierung vortragen und versuchen durchzusetzen. Wird keine Übereinkunft oder kein Kompromiss gefunden, kann der Angegriffene erneut entscheiden, ob es nicht besser ist, nachzugeben oder Menschen und Besitz zu opfern.

Der Autor dieser Zeilen hat das im 2. Weltkrieg selbst erlebt. Nachdem die deutsche Wehrmacht nicht mehr in der Lage war, das Vorrücken der Alliierten aufzuhalten, sollte der von Hitler aktivierte „Volkssturm“ die vorrückenden Panzer der USA aufhalten. Der Volkssturm verhielt sich ruhig, es fiel kein einziger Schuss, die US-Soldaten ließen sich vom Bürgermeister schriftlich bestätigen, dass kein Widerstand geleistet wird und fuhren mit ihren Panzern weiter. Kurze Zeit später war der Krieg beendet. Ich selbst habe 45 Jahre unter einer sowjetischen Besatzung und einer ostdeutschen Diktatur gelebt und lebe noch immer. Das war mir lieber, als in einem Befreiungskrieg (der mit Sicherheit verloren gegangen wäre) zu sterben. Nichts besteht ewig, auch nicht zugefügtes Unrecht. Die Bevölkerung der DDR hat die Diktatur gewaltlos abgeschüttelt und ist wieder frei! Auch für die Ukraine wäre das Sprichwort, „der Klügere gibt nach“, der bessere Weg gewesen. Ich weiß, dass es kaum einen Machthaber auf unserer Erde gibt, der das versteht, sondern bei einem Angriff keine andere Wahl als die militärische sieht.

Prag 1968 und Ungarn 1956
Aber es gibt sie! Als im Jahr 1968 der 1. Sekretär der KP der CSSR, Alexander Dubcek, einen Reformwechsel wagte und sein Land etwas demokratisieren und liberalisieren wollte, fiel die Sowjetunion zusammen mit vier weiteren Staaten des Warschauer Pakts (DDR, Polen, Ungarn, Bulgarien) in der Nacht vom 21./22. August gleichzeitig von allen Seiten mit Panzern und Maschinenpistolen ins Land ein mit dem Ziel, die eingeleiteten Reformen rückgängig zu machen. Als die fünf Armeen mit etwa 200.000 Soldaten an den Grenzen der CSSR Einlass verlangten, öffneten die Grenzschützer (offensichtlich auf Anordnung der Regierung) die Schlagbäume. Es fiel kein einziger Schuss und es gab keine Toten auf beiden Seiten. In Prag angekommen fanden zuerst Gespräche mit A. Dubcek und seinen engsten Vertrauten statt, die anschließend nach Moskau entführt wurden. Dort entstand nach zähen Verhandlungen das sogenannte „Moskauer Protokoll“, was allerdings kein Kompromiss, sondern eher ein Diktat der sowjetischen Seite war. Es wurde von Dubcek und seinen Vertrauten (bis auf einen) unterschrieben und damit seinem Land viele Tote und große Zerstörungen erspart. Herr Dubcek bekam einen Botschafter-Posten in der Türkei.

Ein ähnliches Szenario gab es 1956 in Ungarn. Aus einer Studentenbewegung wurde eine Volksbewegung, die mehr Demokratie und Freiheit forderte, was von sowjetischer Seite nicht geduldet wurde. Da die Volksbewegung nicht einlenkte, wurde nach Aussagen ungarischer Bürger*innen in Budapest von sowjetischen Soldaten von umgebenden Hausdächern mit Maschinengewehren in eine Massendemonstration geschossen, wobei mehr als 10.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Die ungarische Diktatur blieb bestehen. So verschieden reagierten die CSSR und Ungarn, eines ohne und das andere mit vielen Menschenopfern. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden beide Länder wieder frei. Wer war der Klügere? Was ist ein Menschenleben wert?  Jeder Mensch hat nur ein Leben. Es ist das Wertvollste, was er besitzt und niemand kann einem Toten sein Leben zurückgeben. Er hat alles verloren, liebe Angehörige, seine Zukunft, einfach alles! Wofür? Die Schlussfolgerung kann nur sein: Alle Kriege müssen geächtet werden! Wenn es die Machthaber der Staaten nicht können oder wollen, müssen es die Völker tun! Jeder Mensch sollte sich dafür einsetzen. Jetzt.

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Krisen und Kriege

Themen

Ulrich Hübner, nur durch glücklichen Zufall Überlebender des 2. Weltkrieges. (Eine der drei Sprengbomben, die das Mehrfamilienhaus trafen, war ein Blindgänger.)