Vier Gründe, warum gewaltfreie Wehrhaftigkeit regional entwickelt werden muss

Modellregionen

von Tobias Pastoors
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Militär hält die große Mehrheit der Menschen für alternativlos. Wenn wir das ändern wollen, dann sollten wir zunächst ein weiteres Paradigma in Frage stellen: Wir müssen Sicherheitspolitik als regionale Herausforderung begreifen und nicht als nationale.
In Deutschland gibt es genau eine Ministerin für Verteidigung: Die Bundesministerin. Die Bundesländer spielen in Verteidigungsfragen keine große Rolle. Verteidigung wird auf der Bundesebene geplant. Diese zentralisierte Planung ergibt für militärische Verteidigung wohl auch ziemlich viel Sinn, denn nur so gibt es eine klare Hierarchie und damit eine klare Befehlskette.
Wenn wir Deutschland auf Soziale Verteidigung umrüsten möchten, müssen wir aber grundlegend anders denken. Gewaltfreie Wehrhaftigkeit folgt gänzlich anderen Prinzipien als militärische. In unserer Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ fokussieren wir uns daher auf die Entwicklung von regionalen Verteidigungsstrategien. In Modellregionen werden lokale Handlungskonzepte entwickelt und eingeübt. Dabei arbeiten die Regionen eigenbestimmt und frei, können aber dabei stets auf das überregionale Netzwerk der Kampagne zählen.

Soziale Verteidigung funktioniert nur Bottom Up
Militärische Verteidigung ist strikt hierarchisch organisiert. Die Verteidigung ist an Profis delegiert, die Befehle empfangen und ausführen. Auch bei Sozialer Verteidigung gibt es Raum für und Bedarf an professionellen Verteidiger*innen – aber der Großteil der Verteidigung muss von der Bevölkerung als ganzer getragen werden.
Insbesondere die zentrale Methode der Sozialen Verteidigung – die Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration – erfordert den Einsatz der einzelnen Bürger*innen. In der Dynamischen Weiterarbeit steht jede*r Einzelne an der Front. Trotzdem ist diese Form des Kampfes natürlich nicht als eine individualisierte zu begreifen. Zum einen, weil die Wirkung ja gerade durch das kollektive Handeln eintritt. Zum anderen, weil das Handeln der Einzelnen natürlich durch ein gesellschaftliches Umfeld bestärkt und abgesichert wird.
Aber für die Wirksamkeit und das Durchhaltevermögen wird es ganz zentral sein, dass jede*r Einzelne eine eigene Motivation zur Verteidigung mitbringt. Das gilt für die Dynamische Weiterarbeit, aber das gilt natürlich auch für andere Methoden. Insbesondere kann jede*r Einzelne auch stets die Keimzelle für eine neue spontane Aktion oder für die Wiederaufnahme eines Kampfes sein.
Damit Menschen bereit sind, an der Sozialen Verteidigung mitzuwirken, wird es zentral sein, dass sie beim Aufbau mitwirken. Dass sie mitbestimmen, was verteidigt wird und wie. Und damit eine solche Demokratisierung der Verteidigung auch erlebbar wird, wird man in kleinen Einheiten, also regional, arbeiten müssen.

Soziale Verteidigung braucht dezentrale Strukturen
Bei militärischer Verteidigung gibt es einen Frontverlauf. Auf der einen Seite stehen die eigenen Truppen, auf der anderen steht der Feind. Im eigenen Territorium kann man seine Strukturen prinzipiell aufrechterhalten. Sie sind zwar über Fernangriffe verletzbar, können allerdings nicht übernommen oder kontrolliert werden.
Das gilt für Soziale Verteidigung nicht. Es gibt keinen territorialen Frontverlauf und damit auch kein sicheres Hinterland. Wenn man den Widerstand zentralisiert führen wollte, müsste man das entweder aus einem Drittland oder aus dem Untergrund machen. Eine solche Führung sollte man nicht vorschnell ausschließen, sie hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Aber sie sollte mindestens mit einer dezentralen Steuerung ergänzt werden.
Je dezentraler eine Steuerung aufgebaut ist, desto schwieriger ist es, sie auszuschalten. Militärische Angriffe zielen oft auf die Hauptstadt, auf einen Enthauptungsschlag. Soziale Verteidigung muss sich als Hydra präsentieren, deren Köpfe sowohl zahlreich als auch breit verstreut – und idealerweise auch schnell nachwachsend sind.

Regionale Unterschiede fordern regionale Planung
Ein Panzer hat in Köln ähnliche Eigenschaften wie in Berlin, auch wenn das Terrain in militärischen Strategien natürlich eine ganz zentrale Rolle spielt. Militärische Verteidigung wird zentral geplant, es wird zentral Material für den Kampf beschafft.
In der Sozialen Verteidigung kann man sich auch unabhängig von der Region aus dem Baukasten der Verteidigungsmethoden bedienen – sie werden jedoch regional teils völlig unterschiedlich ausgestaltet werden können. Das fängt schon bei den Träger*innen des Kampfes an. Ein Beispiel: In Köln könnten Karnevalsvereine eine zentrale Rolle spielen. Sie sind gut vernetzt, sowohl in wirtschaftliche und politische Eliten als auch in die Breite der Gesellschaft. In Berlin hingegen werden Karnevalsvereine sicher keine Rolle spielen.
Aber auch die Wahl der Methoden wird ganz massiv vom Standort abhängen. In einer Region, die agrarwirtschaftlich geprägt ist, wird es vermutlich stark darauf ankommen, die Produktion aufrecht zu erhalten – „ohne Mampf kein Kampf“. In einer Region hingegen, die auf Exportgüter fokussiert ist, könnten Streiks ein interessantes Mittel sein. Denn Besatzer*innen könnten sich die Gewinne aus dem Export vermutlich vergleichsweise leicht aneignen. Deshalb müssten regional ganz unterschiedliche Methoden geplant und eingeübt werden.

Neue Konzepte brauchen Reallabore
Wenn wir aktuell über Soziale Verteidigung nachdenken, dann müssen wir anerkennen, dass wir es mit einem theoretischen Konzept zu tun haben, das historisch höchstens in Grundzügen zur Anwendung kam. Keine Gesellschaft hat sich jemals auf eine gewaltfreie und soziale Verteidigung vorbereitet.
Das braucht uns überhaupt nicht entmutigen. Dass Gewaltfreiheit kraftvoll ist, dass sie über Gewalt triumphieren kann, das hat die Geschichte schon oft gezeigt – wie kraftvoll könnte Gewaltfreiheit dann erst werden, wenn wir sie kollektiv und mit jahrelanger Planung anwenden?
Doch damit Soziale Verteidigung als Alternative zum Militär ernst genommen werden kann, muss sie konkret werden. Konzepte auf Papier reichen nicht aus. Militärische Verteidigung ist sowohl bekannt als auch leicht verständlich, Soziale Verteidigung ist vergleichsweise komplex. Die Idee ist viel zu weit vom herrschenden Diskurs entfernt und wirkt auf den ersten Blick für viele naiv.
Wir brauchen Reallabore, in denen Menschen Strukturen für Soziale Verteidigung erschaffen. Wir müssen Anschauungsmaterial erzeugen und die Wirkweise der Gewaltfreiheit erfahrbar machen. Wir haben nicht die Ressourcen, um das für eine bundesweite Verteidigung anzudenken. Regional sind wir weitaus handlungsfähiger und können Modelle mit Vorbildcharakter schaffen.
Genau das passiert auch bereits. Mit der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ unterstützen und vernetzen wir Gruppen im Wendland, am Oberrhein, in Köln und in Berlin-Moabit. Sie gehen jeweils ihre ganz eigenen Wege, um einen Beitrag zur realen Entwicklung Sozialer Verteidigung zu leisten. Und natürlich sind wir offen für weitere Regionen – und auch jedes andere Engagement. Lasst uns Soziale Verteidigung gemeinsam voranbringen!

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Tobias Pastoors lebt in Köln und engagiert sich dort für einen lokalen Ansatz zu Sozialer Verteidigung.