Wie kann man Menschen für Soziale Verteidigung interessieren?

Öffentlichkeitsarbeit für Soziale Verteidigung

von Martin Humburg
Schwerpunkt
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„Menschen für Soziale Verteidigung (SV) interessieren“: Nicht nur solche, die sowieso schon anständig und randständig seit Jahrzehnten friedenspolitisch unterwegs sind. Menschen, die in den Bewegungen von Whyl bis Wackersdorf, von Wyhl bis Gorleben und in so vielen Initiativen vor Ort Erfahrungen gemacht haben mit dem praktischen Instrumentarium der Gewaltfreiheit. Menschen, die sich in die klassischen Aktionen von Gandhi, den erfolgreichen Widerstand der norwegischen Lehrer*innen im 2. Weltkrieg, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und so viele weitere Beispiele hineingedacht und sich mit den Begründungen seit Gene Sharp und Theo Ebert auseinandergesetzt haben.
Nicht nur diese Menschen, sondern auch jene, die ganz einfach und normal arbeiten, angestellt sind, in Industrie, Behörden, bei Telefon und Post, in Rettungsdiensten, Feuerwehr, Krankenhäusern; Lehrer*innen und Schüler*innen und vielleicht sogar Politiker*innen?
Die 2020er Jahre versprechen einen sehr ambivalenten Resonanzboden für neue Ideen zu Fragen der Verteidigung. Wir erleben mit den Kriegen vor allem in der Ukraine, aber eben auch weltweit mit den Kämpfen um ideologiegestützte Vorherrschaft eine Renaissance des Militärischen, wie sie lange nicht mehr denkbar schien.
Anderes Denken hat es da schwer. Chancen und Grenzen sozialer Bewegungen in der Gegenwart wurden so beschrieben: Es sei „unverkennbar, dass der progressive Protest in seinen Wertgrundlagen an Traditionsbestände des liberalen Bürgertums anknüpft, aber keinen systemischen, die Einzelkritiken übergreifenden Gegenentwurf, geschweige eine Utopie benennen kann.“ Es bestehe „eine eklatante Lücke zwischen der erdrückenden Fülle von Einzelproblemen und bereichsspezifischen Krisen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, der Aussicht auf eine Bewegung des gesellschaftlichen Aufbruchs, der über Abwehrkämpfe hinausreicht." (1)
Das könnte schon einmal neugierig machen: ob Idee und Praxis der SV beitragen können, diese Lücke zu schließen.

Aber zuerst noch ein Blick auf die ‚andere Seite‘, die seltsame Normalität des Krieges.
Männer, ja, bei allem Gendern sind es vor allem Männer, die mit Kriegswaffen aufeinandergehetzt werden, waren kurz zuvor Schüler, Studenten, Arbeiter, Handwerker, Angestellte. Sie sind Brüder, Väter, Söhne. Eingebunden in ein insgesamt ziviles Leben mit all seinen kleinen Notwendigkeiten, Ärgernissen, Wünschen, Hoffnungen, Träumen. Aber sie waren bisher nicht unterwegs zum Töten. Hier ändert sich also ihr Verhalten unter äußerem Druck. Wer nicht mitmacht, riskiert Ansehen, Freiheit, soziale Rechte oder sogar das Leben. Unter Druck, unterfüttert mit ideologischer Zurichtung, dass man das richtige und auf die richtige Weise tue, entwickeln diese Männer bisher unbekannte, extreme Verhaltensweisen, die mit ihren Grundeinstellungen aus der Zeit davor kaum in Einklang zu bringen sind.
Die Theorie der „kognitiven Dissonanz“ (Festinger) erklärt, was dann passiert: Wenn Verhalten, das einem zuvor eigentlich fremd war, nun doch gezeigt werden muss, fügen sich, da Dissonanzen schwer erträglich sind, die Einstellungen in den neuen Rahmen. Das kann bis zum Extremen gehen: Enthumanisierung des Gegners, Übergeneralisierungen in den Urteilen über dessen Volksgruppe und Kultur; kurz alles, was man den Wahnsinn der Feindbilder nennen kann, die den Gegner auf einen Bruchteil seiner Identität reduzieren. Es führt im Krieg dazu, dass der Handelnde sein Tun als töten rechtfertigt und nicht als Mord empfindet.
Dies funktioniert seit Jahrtausenden so eingespielt, dass es vielen als anthropologische Konstante gilt, dass ‚der Mensch dem Menschen ein Wolf‘ sei.
Das damit im militärischen Anwendungsfall geforderte Kämpfen war schon immer riskant und zerstörerisch; es wird heute unter den Bedingungen des Vernichtungspotentials extrem dysfunktional und in sich widersprüchlich; im 21. Jahrhundert wirkt es als Form der Konfliktbearbeitung überdies ausgesprochen unmodern. Ein Festhalten an altem Denken. Wenn es das Kriegsziel ist, den Gegner so zu beherrschen, dass er im Sinne des Siegers funktioniert, andernfalls ihn zu beseitigen, dann ist in der internen Logik nur schwer zu vermitteln, warum man bestimmte Mittel einsetzen darf und andere nicht. Die Fachleute des Todes arbeiten an der Miniaturisierung auch der gefährlichsten und wirkmächtigsten Waffen, und es ist eine Frage der Zeit, bis der technische Erfindergeist endlich einmal zur Anwendung drängt, um zu erkunden, welche Ziele damit erreicht werden könnten, immer mit der Hoffnung – auf beiden Seiten – dass man nicht die volle Gegenantwort riskieren werde. So redet man sich und seinen Bevölkerungen die Lage schön und gibt vor, alles im Griff zu haben. Die Sozialpsychologie nennt diese Art der Selbsttäuschung „defensiven Optimismus“ oder „erlernte Sorglosigkeit“ – mit der Folge, bestimmte Gefahren gar nicht mehr wahrzunehmen. (2)
Es ist nur ein Tabu, das vor der Überschreitung von vermeintlich stabilen Grenzen schützt und wer sieht, wie leicht Menschen aus einem bisherigen Verhaltenskorsett herauskommen, das ihnen durch ein Tabu gesetzt wurde, kann nicht ernsthaft optimistisch sein. Was die Gefahren verschärft, ist ein Mantra der Kriegslogik, es wirkt früher wie heute: ‚Wenn schon so viele Verluste in Kauf genommen wurden, dann dürfen die nicht umsonst gewesen sein.‘ So schickt eine aufs Militärische fixierte Macht den ersten 100 Toten die nächsten 10.000 hinterher. Und das funktioniert immer und immer wieder aufs Neue. Mit größter Selbstverständlichkeit lassen sich die Menschen in allen Gesellschaften gefallen, dass Milliarden investiert werden, um den Angriff einer Macht, die unter den gleichen Ängsten steht, abzuwehren. Besonders in Krisen locken die angeblich bewährten militärischen Muster. Zu welchem Preis an Leben und Gesundheit, an Traumata für Generationen!
Es gibt schon eine Ahnung, aber nur unzureichende Schlussfolgerung, dass dies keine nachhaltige Art der Problemlösung ist, ja, dass es die Probleme sogar verschärft, weil es Ressourcen bindet und verschwendet, die dringend anders gebraucht würden, wenn eine am Gesamtwohl der Menschheit orientierte Intelligenz am Werke wäre.

Wann, wenn nicht jetzt, könnte dieses Interesse wachsen?
Die Gegenwart lehrt uns schon Besseres. Das Coronavirus schaffte das weltweit gemeinsame Erleben, dass nicht die größte Waffe uns bedroht, sondern das Kleinste, ein Virus. Die Maske ist Ausdruck einer gemeinsamen Erfahrung, weltweit. Darin liegt eine Parallele zum Klimawandel, ebenfalls ein weltweit gemeinsames Erleben, wenn auch mit lokal sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Alles was Gesellschaften aufbieten an Waffensystemen, bietet überhaupt keinen Schutz gegen diese Gefahren. Es sind Fehlinvestitionen in Billionenhöhe im Hinblick auf diese Bedrohungen.

Die Idee der „Sozialen Verteidigung“ bricht mit diesem Denken und Handeln
Allerdings liegt etwas ‚Bürgerliches‘, fast ‚Protestantisches‘ der SV in der Herausforderung der langfristigen Vorausschau und praktischen Vorsorge. An die Stelle der Versuchung der Unterwerfung tritt das eigenverantwortliche Engagement für eine gemeinsame Sache. Menschen sind ungeheuer anpassungsfähig, was auferlegtes Leid angeht, aber doch träge, vorsorglich Sicherheit der Gesellschaft gegen Fremdherrschaft zu ihrer eigenen Sache zu machen. Das wäre nicht weniger als eine mentale Revolution. Erst dann aber würde aus den Nadelstichen des passiven Widerstands und der einzelnen gewaltfreien Reaktionen, wie sie schon so oft spontan und erfolgreich gezeigt wurden, eine gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit, die proaktiv auch einen Aggressor ernsthaft an seinen Chancen zweifeln ließe.
Gesetzt den Fall, dass Menschen sich diesen Ideen gegenüber offen zeigen, was könnte helfen, sie weiter dafür zu interessieren und sogar Verhalten in diese Richtung zu entwickeln? Die Sozialpsychologie gibt in Auswertung vielfältigster Untersuchungen Anregungen; manches davon ist intuitiv eingängig, aber eben auch experimentell als wirkmächtig belegbar: Ein Verhalten, dass kongruent mit einer Einstellung ist (die schon viel weiter vorangeschritten sein kann als die langsamere Verhaltensänderung) entwickelt sich eher, wenn die dahinter stehenden Einstellungen in Übereinstimmung stehen mit bisherigem Verhalten der Person; auf eigenen Erfahrungen beruhen; so eng assoziativ mit bestimmtem Verhalten verknüpft sind, dass dieses automatisch aktiviert wird; die Einstellungen als subjektiv bedeutsam angesehen und mit moralischer Verpflichtung empfunden werden; mit der eigenen Identität oder der Identität der Bezugsgruppe verbunden erlebt werden; sie in ein Netz von Bewertungen und Überzeugungen eingebunden sind; sie sowohl eine starke affektive Komponente haben als auch eine differenzierte argumentative Elaboriertheit; die spezifisch auf das konkrete Verhalten bezogen sind und wenn diese Einstellungen frei und ohne Druck und ohne den Blick auf die soziale Erwünschtheit erhoben wurden – in all diesen Fällen ist der Schritt von den Einstellungen auch zu entsprechendem Verhalten wahrscheinlicher. (3)
Was das im Einzelnen konkret für die SV und ihre Verankerung bedeutet, ist zu entwickeln.
Letztlich geht es um eine Rückeroberung von Kontrolle und die Erfahrung, selbst wirksam zu sein. Wo dies möglich wird, wächst auch Interesse.
Im Rückblick auf bewegungsreiche Erfahrungen zitiert die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux Verse von Paul Elouard: „Sie waren nur einige wenige/auf der ganzen Welt/ jeder wähnte sich allein / doch mit einem Mal waren sie eine Menge.“ (4)
Die Geschichte ist offen. Gehen wir ins Offene.

Anmerkungen
1 Daphi, P.; Deitelhoff, N., Rucht, D.; Teune, S. (Hrsg.): Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests.  Baden-Baden 2017, S. 25.
2 Hartung, J.: Sozialpsychologie. Stuttgart 2006, S. 65.
3 Hartung, J.: Sozialpsychologie. Stuttgart 2006, S. 65.
4 Ernaux, A.: Die Jahre. Berlin 2017, S. 204.

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Dr. Martin Humburg, geprägt von den hier angesprochenen Bewegungen sowie den freundlichen Beratungen im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (Freiburg, Potsdam) im Rahmen der Dissertation über Feldpostbriefe deutscher Wehrmachtsoldaten. Dazwischen Studium der Geschichte, Germanistik, Psychologie in Marburg und Gießen und langjährige Berufstätigkeiten