Ziviler Widerstand

Solidarisch mit der Ukraine, aber gewaltfrei

von Jan Stehn
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Die brutale, lügenhafte, alle Normen des Völkerrechts missachtende Aggression Putins und seiner Machtclique gegen die Ukraine haben wir in dieser Dreistigkeit nicht für möglich gehalten. Anna-Lena Baerbock hat diese Desillusionierung in dem Satz ausgedrückt: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“.

Blicken wir aber zurück, müssen wir leider korrigieren: Wir sind keineswegs in einer anderen Welt aufgewacht. Die Brutalität und Maßlosigkeit des Putin-Regimes zeigt sich seit langem. Erinnern wir uns an die gnadenlose Bombardierung der Zivilbevölkerung in Syrien durch die russische Luftwaffe. Denken wir an den Einsatz der Putin‘schen Söldnertruppe ‚Wagner‘ in vielen Krisen-Regionen der Erde. Menschenrechte zählen für Putin nicht. Mit allen Mitteln greift er demokratische Bewegungen ob in Russland oder in anderen Ländern wie Belarus oder Kasachstan an. In vielen Ländern unterstützt Putin rechte und nationalistische Bewegungen, um Demokratien zu destabilisieren. Putins Einmarsch in die Ukraine ist ein imperialer Krieg.

Müssen wir also jetzt aufrüsten, 100 Milliarden in die Bundeswehr investieren und den Freiheitskampf des Ukrainischen Widerstandes militärisch unterstützen? Das ist als Reflex auf eine Bedrohungssituation verständlich, aber das alte Denken in den Kategorien militärischer Macht droht uns in eine verheerende Katastrophe zu führen:

So sehr wir es uns wünschen mögen, Putin und der russische Machtapparat sind militärisch nicht zu entmachten oder zu besiegen.
Dies gilt für die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine und erst recht in der globalen Auseinandersetzung zwischen NATO und Russland. Olaf Scholz hat den Grundsatz, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, über Bord geworfen, und sich damit auf die gefährlich schiefe Bahn einer Eskalationsspirale begeben. Natürlich werden nun von der Ukraine weitere Waffen gefordert. Lauter werden die Stimmen, die Nato solle eine Flugverbotszone durchsetzen. Umso schlimmer der Krieg wütet, wird es schwerer, weitere militärische Hilfe zu verweigern.

Begründet wird die militärische Unterstützung der Ukraine mit dem Selbstverteidigungsrecht der völkerrechtswidrig angegriffenen Ukraine nach Art. 51 der UN-Charta. Diese UN-Norm erlaubt als Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot, das die UN den Staaten auferlegt, auch die (militärische) Verteidigung. Dieses Recht ist aber keine Pflicht zu den Waffen zu greifen und erspart nicht das Nachdenken darüber, wohin die Spirale von Gewalt und Gegengewalt führen wird.

Diejenigen, die jetzt der Ukraine mit Waffenlieferungen beistehen wollen, hoffen, dass starke ukrainische Selbstverteidigungskräfte Putin an den Verhandlungstisch und zum Nachgeben bringen. Ich halte die Chancen dafür gering. Die militärische ‚Logik‘, auf Gegenwehr mit Eskalation zu antworten, hat eine starke Eigendynamik. Wenn das russische Militär in seiner Bodenoffensive nicht vorankommt, dann werden die Städte eben von oben bombardiert. Wenn die Ukrainer*innen sich erfolgreich mit Luftabwehrraketen dagegen zur Wehr setzen, dann werden größere Bomben von noch weiter oben abgeworfen ...

Ich fürchte, dass wie in anderen kriegerischen Konflikten (Afghanistan, Syrien, Jemen …) keine Seite einen schnellen Sieg davontragen wird und ein lang sich hinziehender Krieg die Ukraine verwüstet und die Menschen traumatisiert. Und das alles mit dem hohen Risiko eines Weltkrieges, wenn Putin versucht, die militärische Unterstützung der Ukraine durch die EU und die Nato mit Drohungen (Atomwaffen) und militärisch zu unterbinden.

Die atomare Abschreckung soll - so die Hoffnung - solch eine Ausweitung des Krieges verhindern. Das basiert auf der Annahme, dass ein Gegner sich rational abwägend verhält und keine totale Zerstörung will. Aber wir erleben es leider überall auf der Welt: Machtmenschen ist es egal, welch unfassbares Leid sie verursachen, und sie scheuen nicht das Risiko, auch nicht das der eigenen Vernichtung - das haben wir doch leidvoll oft erleben müssen. Atomare Abschreckung ist ein Vabanquespiel mit der Menschheit und dem Planeten als Geisel.

Wie aber kann der jetzt manchmal gehörte, ermutigende Satz „Dieser Krieg ist der Anfang vom Ende Putins“ dann aussehen, wenn Putin nicht auf dem militärischen Schlachtfeld zu besiegen ist?
Putin ist wie jeder Potentat als Mensch nicht mächtiger als jeder andere. Seine Macht und die Fähigkeit zu Machtmissbrauch hat er nur, weil er den Repressionsapparat, Oligarchen, Kirche und die durchs Staatsfernsehen manipulierte Bevölkerung hinter sich weiß. Das sind die Pfeiler der Macht, die durch Privilegien, Ideologien, Trägheit, Gehorsam und Angst funktionieren und Putins Macht erst möglich machen.

Diese Strukturen aufzubrechen, ist gewiss nicht einfach. Aber weltweit zeigen die Erfahrungen seit 120 Jahren, dass gewaltfreie Aufstände, die gut organisiert sind und auf massenhafte gewaltfreie Widerstandskampagnen setzen, eine probate und erfolgversprechende Strategie sind, sich von einer Diktatur oder Fremdherrschaft zu befreien. Gewaltfreie Kampagnen sind doppelt so oft erfolgreich wie bewaffnete Rebellionen. (1)

Was Machthaber wie Putin fürchten, sind nicht Waffen. Davon lassen sie sich nicht beeindrucken, den Krieg mit all seinen Zerstörungen nehmen sie ohne Mitgefühl in Kauf. Was sie schreckt und sie stoppen kann, sind Gehorsamsketten, die nicht mehr funktionieren. Ich behaupte: Putin fürchtet mehr als alle Waffen der NATO die Attraktivität, auch für die Menschen in Russland, von weltoffenen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften. Was mindestens ebenso wie Atomwaffen von militärischen Abenteuern abschrecken kann, sind resiliente, demokratie- und widerstandserfahrene Gesellschaften. Ohne Militär sind wir keineswegs wehrlos. Besiegen können wir die Feinde von Demokratie und Menschenrechten auf dem Feld, auf dem wir stark sind und sie schwach: mit der Solidarität und der Menschlichkeit aktiven, gewaltfreien, sozialen Widerstandes und mit massenhaftem Zivilen Ungehorsam. Das ist das Konzept der Sozialen Verteidigung.

Nun hat sich die ukrainische Politik und ein großer Teil der Gesellschaft für den militärischen Widerstand entschieden. Der Preis dafür ist hoch. Es ist bekannt, dass in Krisensituationen zu bekannten Handlungsmustern gegriffen wird. Dabei hätte es bessere Alternativen gegeben, und sie hätten vorbereitet werden können. Ich finde es nicht so überraschend, dass eine Umfrage im Osten der Ukraine im Jahr 2015 (also als Russland bereits die Krim besetzt hatte und militärisch in den Ostgebieten intervenierte) ergab, dass eine Mehrheit von über 70 % der Bevölkerung zivile Widerstandsmittel (wie Protest, Streik, Nicht-Zusammenarbeit) gegen eine militärische Intervention Russlands wählen würden. Und nur ca. 1/3 war bereit, zu den Waffen zu greifen. (2)

Das ist nämlich ein gravierender Unterschied: an einem zivilen Widerstand können sich viele beteiligen - vor allem die Beteiligung von Frauen ist oft ausschlaggebend für den Erfolg gewaltfreier Aufstände. Der militärische Widerstand dagegen ist vor allem ein Kampf der (viel zu) jungen Männer (während Frauen, Kinder und alte Menschen über die Grenze gebracht werden oder in den Bunkern ausharren).

Wie aber können wir heute die Ukraine solidarisch unterstützen, ohne den gefährlichen Kurs militärischer Eskalation mitzumachen?
Klima- und Friedensbewegung fordern mit Recht, alle Zahlungen für Gas und andere Rohstoffe an Russland sofort einzustellen - zumindest bis die Waffen schweigen. Was ist das für eine Absurdität, einerseits die Ukraine mit Waffen zu unterstützen und zugleich die russische Kriegskasse mitzufinanzieren. Das muss sofort beendet werden.

Derzeit sind es nur kleine Gruppen in der Friedensbewegung, die russische Soldaten zur Kriegsdienstverweigerung ermutigen und Deserteure unterstützen. Warum gibt es solche Aufrufe an die Soldaten, die Waffen niederzulegen, nicht von Seiten der Politik? Warum keine Fluchtwege und Asyl-Zusicherung für Soldaten?

Ein Beispiel für einen starken, mutigen, zivilen Widerstand ist die Kampagne von Nash Dom (‚Unser Haus‘), einer Basisorganisation in Belarus, die die jetzt von Lukaschenko einberufenen Männer aufruft zu desertieren und ein Unterstützungsnetzwerk für Deserteure und Kriegsdienstverweigerung aufbaut. (3)

Auch in Russland gibt es viele mutige Kriegsgegner*innen wie die Fernsehredakteurin Marina Owsjannikowa. Viele Tausende gehen trotz massiver Strafandrohungen für den Frieden auf die Straße. Wir brauchen ein „Friedensnetzwerk Osteuropa“ mit Austausch und gegenseitiger Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaften.
Länder und Gesellschaften Osteuropas, die jetzt aus Angst vor Putins Machtexpansion unter den Schirm der Nato flüchten wollen, können wir mehr und besseres bieten: Wirtschaftliche Förderung und Kooperation und Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft - das wird jetzt gebraucht!

Autoritäre Siege, wie die Niederschlagung der starken Demokratiebewegung in Belarus, entmutigen. Aber die Menschen wollen nicht unter einengenden, korrupten, autoritären Systemen leben - darum bin ich überzeugt, dass wir eine große Chance haben mit dem Weg des gewaltfreien Widerstandes. Das braucht einen langen Atem, aber dieser Weg wird langfristig Erfolg haben, und zwar ohne dass gigantische Ressourcen von Aufrüstung verschlungen werden und vor allem: ohne die furchtbaren Gräuel des Krieges.

Anmerkungen
1 Erica Chenoweth, Civil Resistance, 2021; Siehe einen Vortrag von mir 2016: https://www.youtube.com/watch?v=kPtD3ToQkIg
2 Ebenda, S. 95 ff
3 Women’s campaign “We Shall Bring Belarusian Soldiers Back to Their Mothers!” / NO Means NO – OUR HOUSE

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Jan Stehn ist der Koordinator des Programms.