Ein Gedankenexperiment

V - wie Verteidigung

von Uli Wohland
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Bedauerlicherweise leben wir in der zweitbesten aller Welten. Mache würden sagen, nur in der drittbesten. In der besten aller Welten hätten Bürger*innen direkt demokratischen Einfluss auf existenzielle Fragen. Längst überfällig ist z.B. eine öffentliche, demokratische Debatte um Sicherheit, Rüstung, Militär und Außenpolitik: Sicherheit neu denken, Verteidigung neu denken. Für welche atomaren Einsatzdoktrinen brauchen wir z. B. F-35 Tarnkappen-Bomber, oder mit welchem Ziel üben deutsche Fregatten im Chinesischen Meer? Oder auch: Wie wollen wir uns eigentlich verteidigen? Vertiefte Diskussionen? – Fehlanzeige.
Versuchen wir es mit einem Gedankenexperiment: Ein Land mittlerer Größe, militärisch bedroht von einem Nachbarstaat. Eine Invasion läge im Bereich des Möglichen. Im Mittelpunkt stünde die Frage: „Wie wollen wir uns verteidigen, was bringt uns Sicherheit?“ Die Bürger*innen dieser Gesellschaft würden zunächst das TINA-Prinzip (there is no alternative - zur militärischen Verteidigung) ablehnen. Auch würden sie selbstbewusst die V-Frage nicht den politischen und militärischen Eliten überlassen. Die Frage lautet: Welche Alternativen zur militärischen Verteidigung gibt es, und wie können wir darüber demokratisch zu einer Entscheidung kommen? Öffnen wir also die V-Frage.
Verteidigung hat in der Regel zwei Hauptziele: Da ist zum einen der Erhalt der Integrität des Territoriums. Und das zweite Ziel ist der Erhalt der Integrität der gesellschaftlichen Verfasstheit. Wie bei jeder klärenden Diskussion werden zunächst Kriterien aufgestellt, um mögliche V-Optionen beurteilen zu können.

Diese Kriterienliste (hier eine Auswahl) könnte z. B. so aussehen:
Eine Verteidigung wäre zu wählen, die die Lebensformen und Verfasstheit der jetzigen Gesellschaft weitgehend erhält und absichert, möglichst geringe menschliche Opfer mit sich brächte, möglichst geringe materielle Schäden hervorruft, eine möglichst große Abhaltefunktion, Abwehrfunktion oder auch Abschreckung beim potenziellen Gegner bewirkt. Eine Verteidigung wäre zu wählen, die die Solidarität in der „gegnerischen“ Zivilgesellschaft vergrößern könnte vor dem Angriff, die die Solidarität in der „gegnerischen“ Zivilgesellschaft vergrößern könnte beim Angriff, die größtmögliche Verwirrung beim gegnerischen Militär im besetzten Land hervorruft, die einen positiven Zuspruch der Zivilgesellschaft im gegnerischen Land ermöglicht, die eine Solidarität möglichst vieler internationaler Akteure wahrscheinlich macht.

V-Optionen
Nachdem die zwei Hauptziele der Verteidigung benannt und die möglichen Kriterien herausgearbeitet wurden, geht es nun darum, die möglichen V-Optionen zu vergleichen.
Ein offensives Militärkonzept mit Angriffsoption auf das Gebiet des Gegners (Abschreckungsfunktion) (1), eine defensive „traditionell“ militärische Landesverteidigung plus Luftverteidigung (Abwehr-Funktion) (2), eine Verteidigung mit autonomen kleinen defensiv eingestellten Kampfgruppen plus Luftverteidigung (Abwehrfunktion) (3), die soziale Verteidigung plus Luftverteidigung (Abhaltefunktion) (4), oder die Soziale Verteidigung ohne Luftverteidigung (Abhaltefunktion) (5).
Werfen wir, im Rahmen dieses Artikels, in unserem Gedankenexperiment einen Blick auf die V-Option Nr. 5, die klassische Soziale Verteidigung. Glücklicherweise gibt es in den Friedenswissenschaften und den Friedensbewegungen weltweit – wir befinden uns in einem Gedankenexperiment - seit langem eine intensive Diskussion zu dieser V-Option. Alles, was wir aus Fallstudien wissen, alles, was wir konzeptionell entwickeln konnten, wurde umfassend bearbeitet. Dazu gab und gibt es ein breites Netzwerk von Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Aktivist*innen, auf das jederzeit von bedrohten Gesellschaften zurückgegriffen werden kann.  Allen Friedensbewegten und Pazifist*innen ist seit langem klar, wir brauchen Konzepte, um „den Krieg im Frieden zu verhindern“, „den Frieden nach dem Krieg aufzubauen“, aber auch, um den „Frieden im Krieg zu gewinnen“. Das ist die pazifistische Dreieinigkeit. Wenn wir keine realistische und realisierbare Option besäßen, Invasionen mit gewaltfreien Mitteln zu begegnen, wäre unser Pazifismus im „Ernstfall“ nur eine Friedenstaube aus Papier, kein Papiertiger, sondern eine Papiertaube. Die konzeptionelle Entwicklung Sozialer Verteidigung in friedenslogischer Absicht hatte deshalb in den vergangenen Jahre Top-Priorität. Von diesen Vorarbeiten kann unser bedrohtes Land jetzt profitieren.

Aktuelle Fragestellungen
Auf der Grundlage historischer Fallbeispiele Sozialer Verteidigung lassen sich aktuelle Fragestellungen bearbeiten (hier eine Auswahl):
•    Wie lässt sich der Aufbau eine Parallelgesellschaft unter Besatzung realisieren?  Dazu gibt es Erfahrungen z.B. aus dem Kosovo in den 1990er Jahre und aus Polen 1942-44.
•    Wie kann Widerständigkeit und Resilienz gegen die Gleichschaltung von Verwaltung aufgebaut werden?
•    Wie könnte ein Handbuch „Soziale Verteidigung für kommunale Verwaltungen“ und für Bürgermeister*innen aussehen?
•    Wie lässt sich die Unabhängigkeit von Medien auch in Diktaturen erhalten?
•    Wie ist die Kommunikation im Land aufrechtzuerhalten, wenn die digitalen Wege blockiert sind? Welche nicht-digitalen Informationsträger gilt es vorzubereiten? (Kassetten / CDs / DVDs, Faxgeräte, Drucker usw.)
•    Wie sprechen wir gegnerische Soldat*innen an? Wie lassen sich Soldat*innen gewinnen (Fraternisierung)? Wie sprechen wir Soldat*innen an, um sie zur Desertion zu bringen?
•    Wie könnten gesetzliche Regelungen für Kollaboration (Strafmaß) aussehen? Wie mit Kollaborateur*innen umgehen?
•    Klärung der Unterstützung für Familien, deren Angehörige während der Sozialen Verteidigung verschleppt oder ermordet werden? Wie sollte die angegriffene Gesellschaft mit ihren Opfern umgehen?
•    Wie müssen Sanktionen gestaltet werden, um die Eliten und nicht die Bevölkerung unter Druck zu setzen?
Da die historischen Fallbeispiele zur Sozialen Verteidigung quantitativ und inhaltlich begrenzt sind, ist eine Ausweitung der Recherche auf wissenschaftliche Daten geboten, die quantitativ umfangreicher vorliegen. Etwa auf allgemeine Transformationsprozesse durch soziale Bewegungen (auch in anti-demokratischen Regimen und illiberalen Demokratien), auf Formen des zivilen Widerstandes, der zum Regime Change führt, auf Widerstände gegen Rechtsputsche und Erfahrungen im antikolonialen gewaltfreien Widerstand (De-Kolonisation). Diese Liste möglicher Quellen und Inspirationen ist längst nicht abgeschlossen. Vieles ist noch unklar, vieles gilt es zu klären.

Diskussion vorbereiten
Wie aber lässt sich diese ganze Diskussion bürger*innennah organisieren? Neben den traditionellen Formen (Parlament, analoge Medien usw.) können wir digitale Medien und Plattformen nutzen. Digitale Medien ermöglichen den weltweiten Austausch, Wissenstransfer und Wissensgewinnung in Jetztzeit. Eine globale und schnelle Diskussion über Aspekte der V-Frage ist keine Utopie. Ein reger Austausch von Expert*innen und Aktivist*innen von Forschungsprojekten und gewaltfreien Experimenten ist möglich. Städtepartnerschaften zwischen bedrohten und nicht-bedrohten Städten gewinnen eine ganz neue Bedeutung. Jedes Jahr erscheint ein internationaler Bericht über den Stand der Konzeptentwicklung zu SV allgemein und für spezielle Bedrohungssituationen. Die Bedrohung mag national sein, die Verantwortung aber ist international. Nutzen sollten wir auch Instrumente der Bürger*innenräte. Bürger*innenräte in den Kommunen und Bürger*innenräte auf der nationalen und auch globalen Ebene. Zum Abschluss gibt es einen Volksentscheid, über die besten V-Optionen, und dann wird die Gesellschaft zügig „umgebaut“ - hoffentlich in Richtung auf Soziale Verteidigung!
Kehren wir zurück zu unserem mittelgroßen, bedrohten Staat. Regierung und Bürger*innen beschließen zunächst ein Moratorium bis zur gemeinsamen Entscheidung über eine V-Option. Stellen wir uns weiter vor, nach intensiver Beratung ist am Ende die Entscheidung für eine friedenslogisch orientierte Soziale Verteidigung gefallen. In einem neuen Ministerium der Zukunft (übrigens auch befasst mit Fragen dezentraler Energieversorgung, der Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge und der Herauslösung wichtiger Wirtschaftszweige aus dem Wachstumszwang) werden alle Fragen zukünftiger Verteidigung bearbeitet. Im Zukunftsministerium laufen alle Fäden zusammen.
Leider gibt es das Zukunftsministerium noch nicht. Aber in jedem Land gibt es Menschen, die über alternative Formen der Verteidigungen nachdenken. Sollten wir uns nicht mit diesen Personen, Gruppen und Institutionen vernetzen und gemeinsam die anstehenden Fragen bearbeiten? Weshalb sollte es nicht möglich sein, mit allen Menschen guten Willens, ein virtuelles Ministerium global und digital aufzubauen?  
Für die Ukraine kommt unser Gedankenexperiment zu spät. 2014-16 wäre vielleicht ein möglicher Zeitraum für ein reales Projekt gewesen. Die Entscheidung wurde jedoch in Richtung Militärlogik gefällt. Kosten und Nutzen dieser Entscheidung sind täglich in den Zeitungen zu studieren. Aber aktuell öffnet sich ein weites Feld. Bedroht fühlen sich Finnland, Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Moldawien und die Staaten im Kaukasus und last not least Taiwan, Japan und Australien. Hier wäre anzusetzen. Utopie? Natürlich Utopie, aber eine Realutopie. Immer noch besser, jetzt aktiv zu werden, als zu hoffen, es werde schon gut gehen. Es wird nicht gut gehen – jedenfalls nicht überall. Und die V-Frage wird noch immer „naturgesetzlich“ in Richtung Militärlogik und nicht friedenslogisch entschieden. Das müssen, das können wir ändern! Auf die Frage, wie sich angegriffene Gesellschaften verteidigen, werden wir Pazifist*innen zukünftig selbstbewusst und konkret antworten können. Es gibt mehrere Wege und der beste ist die Soziale Verteidigung.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Uli Wohland ist freier Mitarbeiter der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.