Extinction Rebellion (XR)

Vielfältige Theorien der Veränderung

von Jan Gerber
Schwerpunkt
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Der Begriff der Theory of Change (ToC) („Theorie der Veränderung“) erfährt in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit. Was steckt eigentlich dahinter? Einfach gesagt: Eine Theorie der Veränderung soll erklären, warum wir glauben, dass das, was wir tun, funktionieren wird.

Die ToC von XR entstand 2018 in UK aus dem Netzwerk Rising Up. Sie basiert auf der Analyse, dass die Klima- und ökologischen Krisen das Potenzial haben, gesellschaftliches Leben, wie wir es bisher kannten, unmöglich zu machen. Diese Krisen sind der Weltöffentlichkeit seit über 40 Jahren bekannt. Demonstrationen, Petitionen sowie das Appellieren an die Regierungen haben nicht dazu geführt, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen wurden, um eine klimagerechte Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten. Aufgrund der Untätigkeit der Regierungen hat sich das Zeitfenster, in dem wir noch wirksam auf diese Krisen reagieren können, extrem verkleinert. Gerade bleibt nur noch Schadensbegrenzung: Hunderte Millionen von Menschen sind global jetzt schon betroffen .

Die Konsequenz aus dem bisherigen Scheitern der Bewegungen und der Regierungen musste eine Radikalisierung der Protestformen sein. Wir haben keine Zeit, um darauf zu warten, dass die Konsequenzen der Katastrophen auch in Europa zu einem Bewusstseinswandel führen. Wir müssen diesen selbst herbeiführen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Bruchmoment, um das selbstzerstörerische „Weiter so“ aufzuhalten.

Die ToC von XR bezieht sich unter anderem auf die Forschung von Erica Chenoweth, die die aktive Einbindung von mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung als ein entscheidendes Erfolgskriterium für Protestbewegungen sieht. Hiervon inspiriert wollte XR gewaltfreie Massenmobilisierung organisieren mit dem Ziel, die Hauptstädte der jeweiligen Länder solange zu blockieren, bis die Regierungen unter dem Druck der Bewegung die Forderungen erfüllen und den notwendigen Transformationsprozess einleiten, federführend von einem gelosten Bürger*innenrat. Es galt: Wenn sich Zehntausende mit der Unterstützung weiterer Teile der Bevölkerung dazu entscheiden, den Alltag der Hauptstadt mit friedlichen Massenblockaden unbefristet zu unterbrechen, hat die Regierung wenig Handlungsmöglichkeiten.

Mittlerweile sind die Ursprungsgedanken über vier Jahre alt, und die gesellschaftliche Realität hat sich verändert. Während 2019 Aufbruchstimmung herrschte und es kurzfristig so schien, als könnten wir es wirklich schaffen, die Gesellschaft aufzurütteln und die kollektive Anstrengung unternehmen, um eine rapide sozial-ökologische Transformation einzuleiten, ist XR nun in einer neuen Realität angekommen. Die Corona-Krise mit ihren sozialpsychologischen Auswirkungen durch social distancing, die Reaktionen der Regierungen auf den Ukraine-Krieg, Milliarden Investitionen in das Militär sowie fossile Rollbacks und technologische Lock-Ins durch den Bau neuer fossile Infrastrukturen befördern eine kollektive Bewegungsdepression. Die Krisen dieser Welt beschleunigen sich weiter und der Druck auf soziale Bewegungen wächst. Die Teile der ToC von XR, die die Aktionsstrategie eines massenhaften zivilen Ungehorsams ergänzen, bekommen in dieser Situation einen neuen, sichtbareren Stellenwert - Regenerative Kulturen und Selbstorganisierende Systeme rücken ins Zentrum.

Regenerative Kulturen betonen unter anderem die Notwendigkeit der Wiederverbindung sowie der eigenen Entkolonialisierung. Das heißt anzuerkennen, dass westliche gesellschaftliche Realität auf 500 Jahren weißer Vorherrschaft basiert. Wir als Individuen müssen versuchen, uns aus dieser Ordnung zu lösen, um neue Wege des gesellschaftlichen Miteinanders zu ebnen. Dieser Prozess funktioniert am besten in intakten Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften sind das Herz von XR und organisieren sich selbst. Bei XR organisieren wir uns anders als die parlamentarische Politik. Wir sind ein Reallabor für Versuche, Macht zu verteilen, ohne hierarchische Muster zu reproduzieren, und für Entscheidungsfindungsprozesse im Spannungsfeld zwischen Zeitknappheit und Inklusion. Dieser Organismus muss von niemandem gesteuert werden, sondern funktioniert durch die Eigeninitiative und vor allem dem gegenseitigen Vertrauen seiner Mitglieder.

Ohne diese beiden Elemente können wir den emanzipatorischen Anspruch, den soziale Bewegungen in ihren Vorstellungen von Veränderung beinhalten, nicht nachhaltig in die Gesellschaft tragen. Regenerative Kulturen und Selbstorganisation sind der Nährboden, der es uns ermöglicht in Zeiten von Bewegungsdepression und Aktionsmüdigkeit langfristig aktiv zu bleiben und grundlegende Veränderungen zu erreichen.

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Jan Gerber, 28, hat seine Bachelorarbeit über Global Governance und internationale Klimapolitik geschrieben. Seit 2019 ist er bei Extinction Rebellion in unterschiedlichen Rollen aktiv, die letzten zweieinhalb Jahre als Vollzeitaktivist.