Was lehrt uns die Analyse Zivilen Widerstands für die Soziale Verteidigung?

Weltweiter Ziviler Widerstand

von Julia Nennstiel
Schwerpunkt
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Soziale Verteidigung wird oft als ein besonderer Typ zivilen Widerstands begriffen, der sich speziell gegen militärische Invasionen oder Staatsstreiche richtet, und damit abgegrenzt von zivilem Widerstand etwa gegen ein bestehendes Regime oder gegen einzelne Politiken. Über Wirkungsmechanismen Sozialer Verteidigung, Handlungsoptionen und Herausforderungen lässt sich aber nicht nur aus ‚klassischen’ Beispielen Sozialer Verteidigung lernen, sondern auch aus Erfahrungen ziviler Widerstandsbewegungen im Allgemeinen. Sie erweitern die empirische Datengrundlage, auf der politische Initiativen für Soziale Verteidigung aufbauen können, und helfen, Implikationen sich rasant wandelnder Kontextbedingungen besser zu verstehen.

Im Folgenden möchte ich anhand von zwei Themenbereichen beispielhaft skizzieren, was wir aus der Analyse (neuerer Fälle) zivilen Widerstands für Soziale Verteidigung lernen können.

Eine zentrale Herausforderung für Soziale Verteidigung wie für zivilen Widerstand generell ist der Umgang mit Repression. Erfahrungen rezenter Widerstandsbewegungen verdeutlichen enorme ‚Innovationen’ der Repressionsmethoden in den letzten Jahrzehnten. Insbesondere wird konventionelle Repression (z.B. physische Verletzung, rechtliche Sanktionen, Kooption, Diskreditierung) zunehmend ersetzt oder ergänzt durch digitale Repression. (1) 

Eine Form digitaler Repression ist die direkte Störung digitaler Kommunikationswege. (2) Ein Internet-Shutdown oder das Blockieren einzelner Onlinedienste kann etwa die Koordination von Widerstandsaktionen erschweren und das Bekanntwerden physischer Repression behindern. (3)

Auch digitale Überwachung wird zur Repression zivilen Widerstands eingesetzt. Durch die (partielle) Erfassung digitaler Kommunikation lässt sich die Aktionsplanung und -koordination von Widerstand leichter überschauen und präventiv kontrollieren (indem z.B. vorgreifend Organisator*innen festgenommen oder Sicherheitskräfte taktisch stationiert werden). (4) Auch digitale Gesichtserkennungstools werden mitunter angewendet, um Teilnehmende von Widerstandsaktionen zu identifizieren, ggf. gezielt zu sanktionieren oder – auch ohne direkte physische Repression – von der Teilnahme an Aktionen abzuschrecken. (5)

Schließlich sehen sich zivile Widerstandsbewegungen häufig Repressionen in Form digitaler Diffamierung und Manipulation ausgesetzt. So werden bspw. negative Nachrichten über zentrale Persönlichkeiten des Widerstands verbreitet, an online publizierten Berichten brutaler Repression Zweifel gesät, um zu verhindern, dass das gewaltsame Vorgehen den Widerstand weiter anheizt (sog. backfire-Effekt), oder das Netz mit irrelevanten Informationen ‚überflutet’, um von dem Widerstand und seiner Repression abzulenken. (6)

Gegenstrategien
Aktuelle Beispiele zivilen Widerstands verweisen aber nicht nur auf diese Herausforderungen, sondern auch auf Möglichkeiten, ihnen zu begegnen. Dazu gehören technische Vorkehrungen wie die Nutzung von TOR (Overlay-Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten) und verschlüsselter Kommunikation zur Verringerung des Überwachungsrisikos, das regelmäßige Löschen sensibler Informationen in Mobilgeräten oder die Nutzung von Lasern zur Abwehr der Gesichtserkennung; flexible Anpassung an sich verändernde (digitale) Bedingungen, wie im Fall einer teilweisen Störung des Netzes das gebündelte Versenden von Berichten von einem anderen, nicht beeinträchtigten Server aus; und vorausschauende Vorbereitung, indem z.B. als glaubwürdig allgemein anerkannte Akteure und Kanäle zur Dokumentation von und Berichterstattung über Widerstandsaktionen im Vorfeld organisiert werden. (7) Schließlich zeigen die Erfahrungen vieler ziviler Widerstandsbewegungen, dass (idealerweise im Voraus auf- und ausgebaute) offline-Kommunikationswege und -Koordinationsstrukturen weiterhin unerlässlich bleiben. (8)

Da zu erwarten steht, dass es in der Nutzung digitaler Technologien zur Repression zivilen Widerstands immer weitere Innovationen geben wird, hilft ein aufmerksamer Blick auf aktuelle Widerstandsbewegungen, um Risiken zumindest teilweise zu antizipieren und Umgangsmöglichkeiten zu eruieren.

Rolle gewaltsam agierender Aktivist*innen in einer überwiegend gewaltlosen Bewegung
Auch für Soziale Verteidigung relevante Wirkungszusammenhänge lassen sich durch die Analyse ziviler Widerstandsbewegungen teilweise besser verstehen. Das gilt z.B. für die Frage, wie sich violent flanks auf zivilen Widerstand auswirken. Da irgendeine Form der Gewalt in den meisten zivilen Widerstandsbewegungen vorkommt und auch bei Sozialer Verteidigung kaum auszuschließen ist, nützt es zu wissen, unter welchen Umständen sich diese Gewalt wie auf die Konfliktdynamik auswirkt, und wie sich damit umgehen lässt.

Manche Fälle suggerieren, dass violent flanks den Ausgang einer Widerstandsbewegung positiv beeinflussen können, z.B. weil die gezielte Störung gegnerischer Infrastruktur zum physischen Schutz der gewaltfrei Widerstand Leistenden beiträgt, symbolische Gewalt den Zusammenhalt des Widerstandes stärkt oder (internationale) Aufmerksamkeit auf den Konflikt ziehen kann. (9)

Andere Fälle belegen allerdings negative Effekte auch begrenzter Gewaltanwendung. Studien zufolge können violent flanks die Zahl der Teilnehmenden signifikant reduzieren, die Wahrscheinlichkeit undifferenzierter gewaltsamer Repression erhöhen und zugleich die eines backfire Effekts verringern. (10) (Dass Gewaltanwendung seitens des Widerstands seine Repression erleichtern kann, scheinen auch Autoritäten zu verstehen, wenn sie zivilen Widerstand zu Gewaltanwendung provozieren.)

Indes verdeutlichen neuere Studien, dass die Effekte von violent flanks je nach Kontext, der spezifischen Form der Gewalt und ihrem Verhältnis zum gewaltfreien Widerstand variieren, was auf Einflussmöglichkeiten der gewaltfrei Widerstand Leistenden hindeutet. (11)

Beispielsweise gibt es Anzeichen dafür, dass Gewalt gegen Gegenstände nicht gleichermaßen zur Delegitimierung einer Widerstandsbewegung führt wie Gewalt gegen Personen und dass eine klare zeitliche und räumliche Abgrenzung gewaltsamer von gewaltfreien Aktionen den backfire-Effekt erhalten kann. (12)

Dies impliziert, dass eine Verständigung mit gewaltbereiten Gruppen des Widerstands selbst, wenn keine Einigung zur Gewaltfreiheit möglich ist, relevant bleibt, um Gewalt z.B. auf Infrastruktur zu beschränken und vom gewaltfreien Widerstand abzugrenzen. Damit zudem die Widerstandsaktionen trotz evtl. auftretender gewaltsamer Aktionen als überwiegend gewaltfrei wahrgenommen werden, erweisen sich Koordination und klare Regeln als relevant; gleichzeitig gilt es, Dissens-tolerante Entscheidungsstrukturen zu schaffen, um einer Fragmentierung des Widerstands vorzubeugen. (13) So lassen sich auch in Bezug auf den Umgang mit violent flanks aus einer kontinuierlichen Aufarbeitung der Erfahrungen ziviler Widerstandsbewegungen wichtige Erkenntnisse ziehen.  

Anmerkungen
1 Zur Übersicht siehe Keremoğlu, E. & Weidmann, N. (2020) „How Dictators Control the Internet: A Review Essay“, Comparative Political Studies 53(10-11), 1690-1703. / Feldstein, S. (2021) The Rise of Digital Repression (Oxford: Oxford Univ. Press). / Earl, J., Maher, T. & Pan, J. (2022) “The digital repression of social movements, protest, and activism”, Science Advances 8(10).
2 Einige dieser Methoden erfordern Druck gegen Internetanbieter, einige ‚nur’ eine Beschädigung materieller Infrastruktur, s. Access Now (2022) „A Taxonomy of Internet-Shutdowns and Technologies behind Network Interference“.
3 Feldstein (2021)
4 Gohdes, A. (2020) “Internet Accessibility and State Violence”, American Journal of Pol. Science 64(3), 488-503. / Cebul, M. & Pinckney, J. (2021) “Digital Authoritarianism and Nonviolent Action”, Special Report (US Inst. of Peace) 499. / Zalnieriute, M. (2019) “From Metadata Tracking to Facial Recognition Technologies”, Thematic Report to the HRC. / Feldstein, S. (2019) “How Artificial Intelligence is Reshaping Repression”, Journal of Democracy 30(1), 40-52.
5 Zalnieruite, M. (2021) “The Automated Facial Recognition Technology and Public Space Surveillance in the Modern State”, Science and Technology Law Review 22(2), 284-307.
6 Tufekci, Z. (2017) Twitter and Tear Gas: The Power and Fragility of Networked Protest (New Haven; London: Yale University Press). / Earl et al (2022)
7 Strauch, R. & Weidmann, N. (2022) „Protest and Digital Adaptation“, Research&Politics, 9(2). / Cebul, M. & Pinckney, J. (2022) “Nonviolent Action in the Era of Digital Authoritarianism”, Special Report 506. / Holbig, H. (2020). “Hong Kong’s 2019 Anti-Extradition Protests”, International Journal of Sociology, 50(4), 325-337. / Feldstein (2021)
8 Tufekci (2017) / Cebul & Pinckney (2021)
9 McCammon, H., Bergner, E. & Arch, S. (2015) “Within-Movement Conflict, Radical Flank Effects, and Social Movement Political Outcomes”, Mobilization, 20(2), 157-178. / Bjork-James, C. (2020) “Unarmed Militancy”, Amer. Anthropologist, 122(3), 514-527.
10 Tompkins, E. (2015) “A Quantitative Reevaluation of Radical Flank Effects within Nonviolent Campaigns”, Research in Social Movements, Conflicts, and Change, 38, 2013-2135. / Munõz, J. & Anduiza, E. (2019) “The effect of violence on popular support for social movements”, Journal of Peace Research 56(4), 485-498. / Abbs, L. & Gleditsch, K. (2021) “Riots and the Fate of Nonviolent Campaigns”, Mobilization 26(1), 21-39. / Steinert-Threlkeld, Z., Chan, A. & Joo, J. (2022) “How State and Protester Violence Affect Protest Dynamics”, The Journal of Politics 84(2), 798-813.
11 Belgioioso, M., Costalli, S. & Gleditsch, K. (2019) “How Fringe Terrorism Can Induce an Advantage for Moderate Nonviolent Campaigns”, Terrorism and Political Violence 33(3), 1-20.
12 Chenoweth, E. & Schock, K. (2015) „Do Contemporaneous Armed Challenges Affect the Outcomes of Mass Nonviolent Campaigns?“, Mobilization 20(4), 427-451.
13 Pearlman, W. (2011) Violence, Nonviolence, and the Palestinian National Movement (Cambridge: Cambridge Univ. Press). / Mattaini, M. (2013) Strategic Nonviolent Power (Edmonton: Athabasca Univ. Press) [v.a. Kap.5&6].

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Julia Nennstiel hat Philosophie und Politikwissenschaft in Bielefeld (B.A.) und Internationale Beziehungen in Manchester (M.A.) studiert. Ihr Schwerpunkt liegt auf Widerstandsbewegungen und kritischen Sicherheits- und Militärstudien.