Ukraine: Ansprache zum Antikriegstag

Wenn die von Gold sprechen, dann meinen sie Gold

von Gerd Pütz
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der 1. September ist der Tag, an dem der 2. Weltkrieg begonnen hat. Aber nicht nur das: Er ist auch der Tag einer großen und folgenreichen Lüge, die auf einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung basierte.

Am 10. August 1939 hatte der Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), Reinhard Heydrich, dem SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks befohlen, am 31. August einen Anschlag auf die Radiostation bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen zu lassen, als seien Polen die Angreifer gewesen. Laut Naujocks hatte Heydrich gesagt: „Ein tatsächlicher Beweis für polnische Übergriffe ist für die Auslandspresse und für die deutsche Propaganda nötig.“ Hitler konnte also in seiner im Rundfunk übertragenen Reichstagsrede am Vormittag des 1. Septembers erklären: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ Hitlers dreiste Lüge hatte historische Vorgänger, und auch die Kriegstreiber der Gegenwart bedienen sich dieses schlichten Kommunikationsdesigns.Imperialistische Kriege oder Invasionen beginnen stets mit Lügen und Inszenierungen, meist verbunden mit der Berufung auf eine fiktive Wertegemeinschaft, in die sich das Volk einzureihen hat. Schon Wilhelm II. appellierte – insbesondere an die in ihrer Haltung zum Kriegseintritt noch schwankende Reichstagsfraktion der SPD adressiert - „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“

Welcher imperialistische Krieg oder welche Invasion wäre von den kriegführenden Parteien jemals damit begründet worden, dass man ihn führt, weil man imperialistische Ziele verfolgt?

Für die Friedensbewegungen der Geschichte war und ist Aufgabe, den Schleier der wertebasierten Ideologie zu lüften und auf die ökonomischen und strategischen Interessen hinter der ideologischen Fassade zu verweisen. Auch in dem aktuellen Krieg in der Ukraine hat weder die Begründung der Aggressoren, man wolle den überfallenen Staat entnazifizieren, noch die Berufung auf die Verteidigung westlicher Werte von Seiten derjenigen, die vehement für Waffenlieferungen eintreten, etwas mit den Beweggründen der maßgeblichen Akteure zu tun. In diesem geschundenen Land Ukraine stehen sich zwei militärisch-industrielle Komplexe gegenüber und ich vermute, dass mit dem Start der russischen Aggression nicht nur bei Lockheed und Rheinmetall, sondern auch in den Rüstungsschmieden Russlands die Sektkorken geknallt haben.

Es geht jedoch nicht nur um die Profite der Rüstungsindustrie. Immerhin gehört die Ukraine mit ca. 64 Millionen Tonnen zu den größten Produzenten von Weizen und Saatgut. 2001 wurde in Bezug auf diese Ressourcen ein Moratorium für den Verkauf von Anbauflächen an ausländische Investoren verkündet. IWF und Weltbank haben wiederholt gefordert, dieses Investitionshindernis zu beseitigen, und 2020 folgte dann auch die Regierung Selenskyj dieser Forderung. Für das internationale Kapital ist das Terrain der Ukraine ein begehrtes Objekt zur Realisierung seiner Verwertungsinteressen. Die in der Schweiz am 4. und 5. Juli stattgefundene Konferenz aller wichtigen kapitalistischen Staaten des Westens zum Wiederaufbau der Ukraine knüpft die Wiederaufbauhilfe natürlich an altbekannte Auflagen an, deren zentralen Ziele Deregulierung und das Ermöglichen des Verkaufs staatlicher Unternehmen an private Investoren sind.

Selbstverständlich sind kapitalistische Verwertungsinteressen ein globaler Katalysator für imperialistische Kriege. Nicht nur das westliche Kapital, sondern auch sein oligarchisch geprägtes, autoritär gesteuertes russisches Pendant haben mit der Ukraine neben den bekannten geostrategischen Zielen den begehrlichen Blick auf die Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen dieses Landes geworfen. Darüber hinaus beklagen die Repräsentanten der kapitalistischen Staaten, dass das bestehende Arbeitsrecht der Ukraine nicht den Anforderungen einer neoliberalen Öffnung des Landes entspricht. Man umschreibt dies vornehm: Das bestehende Recht kompliziere den Prozess der Einstellung und Freisetzung von Arbeitskräften.

Meine Schlussfolgerung ist: Dies ist kein Krieg der Völker gegeneinander, sondern der Krieg der herrschenden Eliten gegen die Mehrheit ihrer Bevölkerungen.

Viele der neoliberalen Gralshüter jeglicher Provenienz in West und Ost sprechen metaphorisch von der goldenen Ukraine. Mit Franz Josef Degenhardt darf ich in diesem Zusammenhang bemerken: „Wenn die von Gold sprechen, dann meinen sie Gold.“ Und mit diesen Herren sollten wir unsere Trauer und Wut über den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine nicht teilen.

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Gerd Pütz ist von Hause aus Historiker, selbstständig im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung und ist Mitglied des Vereins Wissenskulturen e.V. und des AK Krieg und Frieden.