Sicherheit neu denken

Wie mehrheitsfähig werden?

von Ralf Becker
Schwerpunkt
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Ein Paradigmenwechsel von militärischer zu ziviler Sicherheitspolitik ist trotz der aktuellen Entwicklungen mittel- bis langfristig möglich. Auf dem Weg dahin können wir von den Erfahrungen zivilgesellschaftlicher Bewegungen zur Finanz- und Energiepolitik lernen. Mitte der 1990er Jahre galt es noch als völlig naiv und unrealistisch, Staaten zu entschulden. Das galt auch für die zahlreichen hochverschuldeten Staaten des globalen Südens.

Durch 1. die Formulierung eines mehrheitsfähigen Ziels, 2. die nationale und internationale Bündelung tausender zivilgesellschaftlicher und kirchlicher Organisationen sowie 3. national wie international aufeinander abgestimmte lokale und nationale Lobbyaktivitäten gelang es dennoch, beim G8-Gipfel 1999 in Köln einen Entschuldungsbeschluss für 40 höchst verschuldete Staaten zu erreichen.

Dieser Erfolg war möglich durch die Berücksichtigung ökonomischer Gegenargumente in den Prozess-Bedingungen für die Schuldenerlasse.

Das weitergehende systemische Ziel einer auch strukturellen Veränderung internationaler Finanzarchitektur durch ein Staaten-Insolvenzrecht führte 2013 zu einem Ausarbeitungsauftrag der UN-Generalversammlung.

Als ähnlich naiv galt in den 90er Jahren auch ein Paradigmenwechsel von fossiler und atomarer zu regenerativer Energie. Der konsequente Ausbau alternativer regenerativer Pilotprojekte ermöglichte dann im Zusammenspiel mit breiter Bündnisbildung und beständiger Lobbyarbeit den inzwischen staatlich beschlossenen Paradigmenwechsel in der Energiepolitik.

Auch der Paradigmenwechsel zu Ziviler Sicherheitspolitik lässt sich nur mittel- bis langfristig erreichen. Der Weg dahin ist durch die militärische Eskalation des Wettstreits zwischen den USA und Russland in der Ukraine scheinbar noch schwieriger geworden. Als Initiative Sicherheit neu denken (re-)agieren wir auf folgende Weise:

  • Aufzeigen positiver Entwicklungen sowie schrittweise möglicher positiver Veränderung,
  • selbstbewusstes empathisches Wirken,
  • konsequentes Lobbying für einen nationalen finanziellen Aufwuchsplan alternativer Instrumente Ziviler Krisenprävention und gewaltfreier Konfliktbearbeitung,
  • konsequenter weiterer Auf- und Ausbau eines zivilgesellschaftlich-kirchlichen Bündnisses „Sicherheit neu denken“ für die mittel- bis langfristige Durchsetzung des Paradigmenwechsels

1. Das Szenario und unsere Initiative fokussieren auf positive Entwicklungen und Möglichkeiten und bewerben bewusst einen graduellen Übergang zu Ziviler Sicherheitspolitik. So lassen sich auch überzeugte Befürworter militärischer Sicherheitspolitik mit einbinden und für erste Schritte in die von uns aufgezeigte Richtung gewinnen.

2. Unserer Erfahrung nach ist selbstbewusstes empathisches Wirken ein weiterer wesentlicher Schlüssel für die Gewinnung einer gesellschaftlichen Mehrheit. Wir wirken nur glaubwürdig und überzeugend, wenn wir als Bewegung selbst das verkörpern und erfahrbar werden lassen, was wir von der Politik fordern: Beziehungen empathisch gestalten - d.h. die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten (Menschen, zivilgesellschaftlicher Akteur*innen und Staaten) aufrichtig wahrnehmen, anerkennen und so eine gemeinsame friedliche Lösung gemeinsamer Konflikte ermöglichen - und dadurch dauerhaft belastbare friedliche internationale Beziehungen gestalten.

Unserer Erfahrung nach lassen sich selbst stärkste Kritiker*innen für unsere Initiative gewinnen, wenn wir ihre Bedenken für sie wahrnehmbar hören und anerkennen und unsere Perspektive aktiv zu ihren Bedenken in Beziehung setzen.

3. Wir lassen uns - wie in internationalen Handbüchern Sozialer Bewegungen empfohlen - durch übermächtig erscheinende Machtdemonstrationen der Herrschenden nicht entmutigen und bleiben „schlicht“ dran und verbinden eine klare Vision mit pragmatischem Lobbying.

So haben wir im Frühjahr 2022 durch die Aktion „10 % für Zivil“ mit der abgestimmten Ansprache von Abgeordnet*innen in den Wahlkreisen und in Berlin zur Zurücknahme geplanter Kürzungen für Instrumente Ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung im Bundeshaushalt 2022 beigetragen.

Unsere Herbst-Lobbykampagne frieden-stark-machen.de für einen strukturellen Aufwuchsplan Ziviler Instrumente in den Bundeshaushalten 2023 bis 2025 wird schon von sehr viel mehr Organisationen und Netzwerken wie dem Forum ZFD, der Plattform ZKB, Misereor und dem CFFP mit organisiert und getragen. Wieder verfolgen wir dabei die Strategie, breite Lobbyarbeit in den Wahlkreisen mit paralleler Lobbyarbeit in Berlin zu verbinden.

Ziele der Kampagne sind u.a. der Aufbau professioneller Instrumente und Strukturen gewaltfreier Konfliktbearbeitung im Inland sowie eine explizite Stärkung der Mediationsabteilung des Auswärtigen Amtes. Auch staatliche Öffentlichkeitsarbeit zu den Instrumenten Ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung sowie die Finanzierung von Fort- und Ausbildungen in Ziviler Konfliktbearbeitung und von 100 Bildungs-Promotor*innen für Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung wollen wir erreichen.

Zudem gestalten wir im Rahmen der Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie für die Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses, den Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) und Vertreter*innen des Auswärtigen Amtes zwei Studientage zur Anregung aktiver Angebote an Russland und China zu einem dauerhaften gewaltfreien Ausgleich unserer Interessen.

4. Ein Auf- und Ausbau breiter(er) konkreter Kampagnenbündnisse findet also bereits statt.

Gleichzeitig arbeiten wir konsequent am weiteren Auf- und Ausbau eines breiten – auch internationalen - Bündnisses für die langfristige Umsetzung des darüberhinausgehenden Paradigmenwechsels.

Hier ist es uns aktuell durch empathische Kommunikation gelungen, die Rücknahme der Mitträgerschaft unserer Initiative durch Landeskirchen zu verhindern, die von Militärbefürworter*innen vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs vielfach gefordert wird. Zudem wird im Oktober 2022 voraussichtlich die Konferenz der Weltkirchen-Verantwortlichen der 27 deutschen katholischen Bistümer ihr aktives Mitwirken in unserer Initiative beschließen. Mit dem Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) gestalten wir erste Schritte einer strategischen Zusammenarbeit, da auch das CFFP ambitionierte langfristige Ziele mit pragmatischer kurzfristiger Lobbyarbeit verbindet.

Als Reaktion auf die aktuelle Aufrüstung fließen uns auch zusätzliche Kräfte zu. So finanziert ein Privatmäzen seit diesem Sommer sowohl den Ausbau unseres Jugend-Netzwerks peace4future.de als auch den Aufbau von Modellstädten und -regionen Sozialer Verteidigung.
International haben sich inzwischen 15 niederländische und 40 österreichische Organisationen unserer Initiative angeschlossen. Auch das Netzwerk von 32 Justitia et Pax-Kommissionen der europäischen katholischen Bischofskonferenzen ist in Kontakt mit uns, ebenso wie unsere britischen und italienische Schwesterkampagnen (rethinkingsecurity.org.uk) und das weltweite Netzwerk worldbeyondwar.org. Auch in Frankreich vernetzt bereits ein SND-Kolloquium zivilgesellschaftliche und kirchliche Friedensorganisationen.

Diesen Herbst startet zudem der offizielle Aufbau eines Rethinking Security Netzwerks in Afrika. Dazu organisieren sich u.a.  Absolvent*innen der UniversityofPeaceinAfrica.org, Akteur*innen nationaler Friedens- und Versöhnungsräte sowie von afrikanischen (Regional-) Organisationen bis hin zur Afrikanischen Union.

Ralf Becker koordiniert im Auftrag der Evangelischen Landeskirche in Baden die bundesweite zivilgesellschaftlich-kirchliche Initiative „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“.

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