Komitee für Grundrechte
und Demokratie



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vom:
Februar 1998


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Demonstrationsbeobachtung in Ahaus am 19. und 20. März 1998

Der Castor rollt mit autoritärer rechtsstaatlicher Hilfe über demokratische Grundrechte

Wolf-Dieter Narr und Elke Steven

Die sechs Castor-Behälter mit hochradioaktivem Müll aus Neckarwestheim und Gundremmingen sind am Freitag, den 20.3.1998, abends im Zwischenlager in Ahaus eingelagert worden. In einer Überrumpelungsaktion ist der Transport vom angekündigten Mittwoch, den 25. März 1998, auf Freitag, den 20. März, vorgezogen worden. Dahinter stand der Wunsch der "Obrigkeit", die Atomkraftgegner auszutricksen, den Widerstand auszuschalten und den Protest zu umgehen. Das Demonstrationsrecht ist jedoch kein Gnadenakt der herrschenden Repräsentanten. Es ist ein zentrales demokratisches Recht. Die Öffentlichkeit in die Irre zu führen, um die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts für eine Vielzahl von BürgerInnen praktisch auszuschalten, ist folgerichtig antidemokratisch.

Tausende von Demonstrierenden sind trotzdem nach Ahaus gekommen. Sie organisierten ihren Protest unter diesen schlechten, Kommunikation und Organisation verhindernden Bedingungen. Sie machten deutlich,daß sich der Widerstand durch regierungsamtliche Tricks nicht einfach unterbinden läßt. Deutlich wurde, wie selbstverständlich der gewaltlose, aber konsequente Protest in der Antiatombewegung verankert ist. Seit der Ankündigung des Transportes von Castor-Behältern aus Süddeutschland nach Ahaus hat die Bürgerinitiative in Ahaus breiten Rückhalt in der münsterländischen Bevölkerung gefunden. Trotz des Überraschungscoups wurde deutlich, daß auch in Ahaus eine widerstandslose Einlagerung von hochradioaktivem Müll aus Atomreaktoren, die in Betrieb sind, nicht möglich ist. Die Skepsis eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber "Chaoten", die in das ruhige Städtchen einfallen könnten, ist weithin der Empörung über das Auftreten der Polizei gewichen.

Die offizielle politische Strategie und das Polizeikonzept zeigen ein undemokratisches Verständnis von Bürgerprotest und einen entsprechenden Umgang mit demselben. Hinter einer äußerst brüchigen und dünnen Fassade, die den Anschein erweckt, als würden die etablierten politischen Instanzen die Grundrechte, allen voran das demokratische Urrecht auf Demonstration, wahren, verbergen sich patriarchalisch-undemokratische Repressionen. Demokratieläßt sich jedoch nicht auf eine schöne und freundliche Fassade für die Medien reduzieren. Die Polizei war darauf vorbereitet, jeden Protest ohne Schonung der Bürgerrechte zu beseitigen.

Wie bereits in den letzten drei Jahren hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie auch diesmal die Proteste beobachtet, die den Transport von hochradioaktivem Müll in ein Zwischenlager in der Bundesrepublik Deutschland begleiteten. Trotz der Desinformationspolitik und der Vorverlegung des Transports waren ab Donnerstag, den 19. März 1998, zunächst vier, ab dem frühen Freitag morgen sechzehn Beobachter und Beobachterinnen in Ahaus anwesend, um das Geschehen sorgfältig zu protokollieren und zu dokumentieren.



1.Die Landesregierung, der Innenminister und ein Gutteil der Medien erzeugt zu propagandistischen Zwecken falsche Bilder von "gewaltbereiten" Demonstranten. Einerseits kritisierte die Landesregierung NRW die Castor-Transporte nach Ahaus und bezeichnetesie als "Provokation" und "überflüssig". Gleichzeitig warnten Innenminister Kniola und Verfassungsschutz vor den erwarteten "2000 gewaltbereiten Autonomen". Die Bevölkerung sollte so darauf eingestimmt werden, die Protestierenden zu disqualifizieren. Die Polizei wurde auf Härte und "konsequentes" Vorgehen vorbereitet. Nach dem Transport ist in vielen Medien berichtet worden, die PolizeibeamtInnen hätten sich erstaunt über die Gewaltfreiheit der Demonstrierenden in Ahaus geäußert. "Erstaunt" ist vor allem derjenige, der zu propagandistischen Zwecken andere Erwartungen äußert. Die in den Medien und von der Polizei vielbeschworenen "Gorlebener Zustände", mit denen Gewaltanwendung seitens der Demonstrierenden assoziiert werden soll, haben dem Protestgeschehen in Gorleben nie entsprochen. Bereits in einer Podiumsdiskussion zum bevorstehenden Castortransport nach Gorleben im Jahr 1997 beklagte ein Polizeibeamter, daß sie vor dem Transport 1996 innerhalb der Polizei nur auf Gewalttäter vorbereitet worden seien. Im Wendland seien ihnen jedoch vor allem freundliche, das Gespräch suchende, Kaffee und Plätzchen schenkende Bürger und Bürgerinnen begegnet. Dieses Gewaltbild dient der Bereitschaft von PolizeibeamtInnen zuzuschlagen. Es erzeugt unnötig Aggressionen, Angst und Abwehr.



2.Eine Politik des Scheindialogs. Polizei und Landesregierung haben im Vorfeld Gespräche mit verschiedenen Gruppen und Initiativen geführt, um sich über die Einschätzungen und Demonstrationserfahrungen derjenigen zu informieren, die Proteste organisieren. Angeblich sollte eine Demokratie und Grundrechte wahrende Form des Umgangs mit dem Protest gefunden werden. Diese Gespräche mußten jedoch von den Beteiligten schon kurz vor dem Transport als substanzlose Öffentlichkeitsarbeit empfunden werden. Wenn man bedenkt, daß auch ein verantwortlicher Polizeipräsident gemäß dem hier angewandten hohlen Demokratieverständnis übergangen werden konnte, so verwundert dieses Public-Relation-Verfahren nicht.



3.Die willkürliche Handhabung von grundrechtswidrigen Allgemeinverfügungen. Schon früh wurde ein Demonstrationsverbot erlassen. Zeitlich und räumlich weit ausgedehnt wurden Demonstrationen verboten. Schon sechs Tage vor dem (vorgesehenen) Transporttermin, 24 Stunden über den Transportabschluß hinaus und entlang einer 12 km langen Transportstrecke waren unangemeldete Demonstrationen verboten. Auf den Bahngleisen waren alle Versammlungen verboten. Die Verbotskriterien waren so formuliert, daß offensichtlich der Wille bestand, auch jede angemeldete Demonstration willkürlich verbieten zu können. Grundrechtswidrig wurde somit das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung eingeschränkt.



4.Schikanöser Umgang mit Bürgern und Bürgerinnen. Die Demonstrierenden hatten schon frühzeitig mehrere Wiesen gepachtet oder von Bauern zur Verfügung gestellt bekommen. Auf diesen sollten Camps eingerichtet werden. Hier sollten die Demonstrierenden übernachten können. Hier wollten sie ihre Verpflegung wie die Kommunikation untereinander organsieren. Hier hätten sie Ruhe und Entspannung finden können. Auch diese Camps auf Privatgelände sollten, selbst wenn sie außerhalb der Versammlungsverbotszone lagen, angemeldet und nur nach Genehmigungen eingerichtet werden dürfen. In allen Betätigungen wurden die Bürger und Bürgerinnen somit abhängig von den Entscheidungen der Polizei. Kurz vor dem Transport waren die Entscheidungen jedoch teilweise noch nicht einmal gefallen. Das Nordcamp lag beispielsweise außerhalb der Demonstrationsverbotszone und war vom Ordnungsamt genehmigt worden. Donnerstag spätnachmittag wurde es verboten. Die Bewohner, die bereits Zelte und vor allem die Küche für die Demonstrierenden aufgebaut hatten, wurden aufgefordert, das Camp innerhalb von einer halben Stunde zu räumen. Die Versorgungsstrukturen mußten auf einem anderen Platz im Dunkeln neu aufgebaut werden. Der neue Platz lag näher an den Schienen als der alte. Nicht wesentlich anders erging es dem Südcamp, das ebenfalls außerhalb der Demonstrationsverbotszone lag und trotzdemDonnerstag nachmittag verboten wurde. Auch hier wurde die Räumung angedroht. Einige SitzblockiererInnen wurden bei der Räumung in Gewahrsam genommen. Das Camp mußte an einem anderen Ort neu aufgebaut werden.



5.Polizeigewaltige Abschreckungspolitik bürger-normalen Protests. Nicht genehmigte Demonstrationen und Proteste und gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams wurden von der Polizei von vorneherein als Störungen wahrgenommen, gegen die mit aller Konsequenz vorzugehen sei. Deutlich gemacht wurde ein rücksichtsloses Vorgehen gegen alle diejenigen, die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen wollten. Diejenigen, die versuchten, auf die Gleise zu gelangen, oder dort eine Sitzblockade machten, wurden in Gewahrsam genommen oder - später - mit polizeilicher Gewalt unter Mißachtung der Verhältnismäßigkeit von den Gleisen vertrieben.



6.Die neu-alten Geheimnisse vor- und nachdemokratischen Herrschens. Geheimhaltung ist eines der wesentlichen Kennzeichen der Planung dieses Transportes. Nicht nur der Termin des Transportes, auch die Orte der Gefangenensammelstellen sollten geheim bleiben. Kontakte zu den Gefangenen durften nur von Verwandten aufgenommen werden. Zumindest in einer Gefangenensammelstelle durften keine Telefongespräche mit dem Ermittlungsausschuß, der die Einschaltung von Rechtsanwälten ermöglicht hätte, geführt werden. Explizit wurde nur ein Telefongespräche mit Verwandten erlaubt.



7.Vorsätzlich-amtliche Verletzung von Grundrechten. Der Umgang mit den Gefangenen entsprach nicht den notwendigen grundrechtlichen Bedingungen. Diejenigen, die beispielsweise am frühen Freitag morgen in Ahaus in Gewahrsam genommen worden waren, saßen über Stunden gefesselt im Bus. Stunden mußten sie auf die Personalienfeststellung in Rheine warten. Die Zellen waren mit keinerlei Mobiliar ausgestattet. In Zellen von ca. 17 qm mit einem Fenster von ca. 30 x 30 cm waren ca. 20 Personen eingesperrt. Obwohl sie die Sitzblockade auf den Schienen vor 8.00 Uhr begonnen hatten und von dort in Gewahrsam genommen worden waren, bekamen sie erst gegen 22.00 Uhr Getränke und erst ab 23.00 Uhr Essen. Einige bekamen in diesen kahlen Zellen erst ab 3.00 Uhr Decken oder Isomatten. Obwohl der Grund der Ingewahrsamnahme, der Protest gegen den Castor-Transport, sich um 20.30 Uhr erledigt hatte, wurden die Gefangenen nicht vor 6.00 Uhr entlassen. Viele erlangten erst im Laufe des Vormittags ihre Freiheit.



8.Behinderungen freien Verkehrs überall. Eine freie Bewegung war weiträumig nicht möglich. Straßen wurden je nach polizeilichem Bedarf völlig gesperrt, die Zufahrt nach Ahaus war für BürgerInnen zeitweise kaum oder gar nicht möglich. Busse wurden über Stunden aufgehalten. Die DemonstrationsbeobachterInnen wurden während laufender polizeilicher Aktionen mehrfach nicht durchgelassen und konnten die Orte nur auf Umwegen erreichen. An mindestens zwei Stellen wurde auch eine Landtagsabgeordnete an polizeilichen Kontrollstellen nicht durchgelassen.



9.Rabiate Polizeigewalt. Demonstrationen und Proteste wurden immer wieder mit körperlicher Gewalt gegen die Demonstrierenden durch die Polizei verhindert. Während der Blockierung der Gleise im Süden von Ahaus wurde mit aggressiven Polizeigriffen die Räumung durchgesetzt (Kopf und Gliedmaße verdrehen, Griffe in Augen und Nasen). Während einer Blockade von Gefangenenbussen wurde mit Tritten und Schlägen in Gesicht und auf Genitalien gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Im Verlauf der Proteste sind auch Schlagstöcke und Wasserwerfer eingesetzt worden.



10.Trotz aller staatsgewaltigen Herausforderung triumphierte die bürgerliche Gewaltfreiheit. Auf Seiten der Demonstrierenden war trotz dieser vielfältigen Beiträge zur Eskalation seitens Politik und Polizei vor allem die tiefverankerte Gewaltfreiheit zu konstatieren. Obwohl die Kommunikations- und Organisationsstrukturen nicht oder nur rudimentär aufgebaut werden konnten, wurde der Protest gewaltlos ausgedrückt. Freitag nachmittag wurden die Schienen südlich von Ahaus besetzt. Viele angereiste Demonstrierende, vor allem aber auch viele Ahauser setzten sich auf die Schiene und blieben dort sitzen, als die Polizei anrückte. Deutlich wurde, daß die Bürger und Bürgerinnen ihre Erklärung ernst meinten, den Transport durch eine Sitzblockade aufhalten zu wollen. Wenn auch - wie bei den Protesten in Gorleben - die hilfreichen, erklärenden und motivierenden - aber auch beruhigenden - Kommentare durch Megaphonanlagen der Bürgerinitiativen fehlten - viele, die dies hätten leisten können, waren in Gewahrsahm genommen - war dies eine um so eindrucksvollere Demonstration des gewaltlosen Protestes und massenhaften zivilen Ungehorsams.



11.Protestkultur gestärkt. Entgegen diesem polizeilichen Konzept der Verhinderung von Demonstrationen, zeigten die BürgerInnen ihre Bereitschaft zum gewaltfreien Protest, der sich nicht durch willkürliche polizeiliche Maßnahmen aufhalten läßt. Im Münsterland ist innerhalb eines knappen Jahres seit der Ankündigung der Transporte von hochradioaktivem Müll aus den Kernkraftwerken in Süddeutschland eine Protestbewegung entstanden, die allmählich ihren Rückhalt in der Bevölkerung findet hat. Das polizeiliche Vorgehen, das auf eine Mischung von Deeskalation und tatsächlicher Gewalt gegen den Protest aus der Bevölkerung setzte, hat den Protest gestärkt.




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