Komitee für Grundrechte
und Demokratie



INFORMATIONEN - Rundbriefe 2002


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INFORMATIONEN - Rundbriefe 2002

 Informationen 3/2002 - 10. Juni

1. Mai 2002 in Berlin:

Ohne die Fehler der Polizei hätte es noch besser ausgehen können

Wolf Dieter Narr, Norbert Pütter, Elke Steven

Anfang dieses Jahres hatten wir angekündigt, uns an der Initiative für einen politischen und polizeifreien 1. Mai in Berlin (Kreuzberg) zu beteiligen. Kreuzberg sollte als Ort politischer und kommunikativer Selbstverständigung zurückgewonnen werden. Aus zwei Gründen scheiterte das Bündnis "erfolgreich" und gab die ursprüngliche Planung auf, ohne sich ganz zurückzuziehen.

Voraussetzung für das geplante Konzept war die Abwesenheit der Polizei (Notfälle sollten eine Ausnahmebilden) in diesem Areal. Hierfür wollte der Innensenator aber letztlich nicht die Verantwortung übernehmen. Senator Körting wollte die Entscheidungen allein der Definitionsmacht der Polizei überantworten und selbst keine politische Verantwortlichkeit übernehmen. Mit dieser letzten Aussage fiel er weit hinter den vorher erreichten Verhandlungsstand zurück. Ein Innensenator, der einen anderen 1. Mai will, aber seine eigene politische Verantwortlichkeit an die Polizei delegiert, spielt der Polizei eine Rolle zu, die ihr nicht zusteht.

Jedoch ist dem Personenbündnis auch der Diskurs nach "innen", zu all den unterschiedlichen Gruppen, die den 1. Mai gestalten, und die gegenseitige Akzeptanz nicht ausreichend gelungen. Sowohl Missverständnisse als auch unterschiedliche Erwartungen und Einschätzungen blieben. Die breit geführte Debatte über das Politische des 1. Mai 2002, die politischen Umgangsmöglichkeiten, die Rolle von Staat, Polizei, Bürgern, Öffentlichkeit, autonomer Szene hat jedoch die traditionellen Denk- und Handlungsmuster verunsichert, wenn auch nicht grundlegend verändert. Der Erfolg war die vehemente, oft rationale, nach neuen Ansätzen suchende Debatte weit im Vorfeld des 1. Mai.

Demonstrationsbeobachtung am 1. Mai 2002 in Berlin

Im Komitee für Grundrechte und Demokratie entschieden wir uns, uns aus der Organisation zurückzuziehen und erneut die Versammlungen unter freiem Himmel beobachtend zu begleiten. Mit ca. 50 darauf vorbereiteten Demonstrationsbeobachtern und -beobachterinnen haben wir die Demonstrationen rund um den 1. Mai, vor allem rund um Kreuzberg, beobachtet. Zu den Beobachtungsorten und -zeiten gehörten am Vorabend des 1. Mai das Fest auf dem Oranienplatz und die Geschehnisse dort nach 22 Uhr und teilweise das Fest am Mauerpark (Bernauer Straße im Prenzlauer Berg). Des weiteren beobachteten einige Gruppen die Demonstration der NPD in Hohenschönhausen und die Gegendemonstration von 10.30 bis 13.00 Uhr; die beiden ineinander übergehenden Demonstrationen ab 13 Uhr/Oranienplatz, die sich um 16 Uhr am Görlitzer Bahnhof mit einer Demonstration vereinigte, die dort anhob; die Demonstration ab 18 Uhr/19.45Uhr, die vom Rosa-Luxemburg-Platz (Berlin-Mitte) zum Michaelkirchplatz führte.

Die Beobachtung wurde am 1. Mai um ca. 23 Uhr abgeschlossen. Sie geschieht, um das demokratisch zentrale Grundrecht auf Demonstration durch unverstellt-genaue Informationen zu schützen. Darin allein bestehen Perspektive und Urteilsmaßstab des Komitees.

Erste - noch etwas vorläufige - Ergebnissumme der Beobachtungen

Die fünf Demonstrationen verliefen an sich selbst nicht einheitlich. Zwischen den Demonstrationsverläufen zeigen sich starke Unterschiede.

a) 30.4.: Fest am Oranienplatz.

Dasselbe zeigte von 19 Uhr bis zu seinem Ende um 22 Uhr festgemäß keine besonderen Vorkommnisse. Nach 22 Uhr öffnete eine kleine Gruppe gewaltsam die durch einen Rolladen zusätzlich geschützte Tür des Plus-Marktes und ging raubend in ihm herum. Als erste Polizeieinheiten nach einigen Minuten nahten, wurden sie von ihnen und einigen zusätzlichen umstehenden Personen mit Flaschen- und Steinwürfen empfangen. Weitere Polizeieinheiten rückten - mit Räumfahrzeugen und Wasserwerfern - heran. Die Gerätschaften setzten sie jedoch nicht ein. Der Polizeieinsatz ist als angemessen zu bezeichnen. Niedriges, auf den Einbruch und Diebstahl beschränktes, dem Konflikt in den Mitteln entsprechendes Einsatzprofil.

b) 30.4./1. 5: Prenzlauer Berg.

Dort gab es schon am frühen Morgen des 1.5. um ca. 1 Uhr heftige Auseinandersetzungen. Die uns vorliegenden Beobachtungen lassen eine eindeutige Bewertung, von wem Gewalt ausgegangen ist und wie der Polizeieinsatz zu bewerten ist, noch nicht zu. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Provokationen, die von einer kleinen Gruppe ausgingen, zu einem für den größten Teil der Feiernden unverständlich massiven Vorgehen der Polizei führte, bei dem auch Reizgas eingesetzt wurde.

c) 1.5.: 10.30-12.30 Uhr: NPD-Demonstration und Gegendemonstration in Hohenschönhausen.

Beide Demonstrationen wurden von der Polizei getrennt gehalten. Sie blieben jedoch in Sicht- und Rufweite. Beide Demonstrationen wurden von der Polizei per Video überwacht und gefilmt. Es gab eine Sitzblockade, einige Festnahmen; außerdem ist CS-Gas eingesetzt worden. Beteiligte der Gegendemonstration beklagten sich darüber, sie seien von der Polizei zu stark und unnötig abgedrängt worden. Insgesamt gilt jedoch: der polizeiliche Einsatz bewegte sich in annehmbaren Grenzen.

d) 1.5.: Kreuzberg ab 13 Uhr.

Die beidenDemonstrationen ab 13 Uhr und, vereinigt, ab 16 Uhr verliefen friedlich und problemlos. Die Polizei blieb weit im Hintergrund. Teile der Demonstration gingen nach Ende der Versammlung zum Mariannenplatz, zum Oranienplatz und zum Rosa-Luxemburg-Platz.

Ein Feuer aus Papier und Holzplanken auf dem Oranienplatz wurde gegen 18.40 Uhr von ca. 20 Kontaktbeamten der Polizei gelöscht, wobei sie sich um eine friedliche Lösung der Situation bemühten. Kurz nach 19 Uhr wurde erneut in den Plus-Markt am Oranienplatz eingebrochen. Nach kurzer Zeit fuhren Polizei-Kräfte in großer Zahl auf. Nach der Sicherung des Marktes und angesichts bleibender Polizeigruppen beruhigte sich die Lage zwischenzeitlich. Dann aber kam es seitens einiger Jugendlichen erneut zu Steinwürfen, Brandstiftungen u.ä.. Dies geschah auch nach dem schon beendeten Fest auf dem Mariannenplatz gegen 20 Uhr, der dann geräumt wurde. Immer wieder kam es ab dann zu gezielten Festnahmen, wobei sichuns die Gründe nicht erschließen konnten. Die Festnahmen wurden von uns häufig als übertrieben hart wahrgenommen. Auch Personen, die am Rand standen, wurden von der Polizei an die Wände gedrückt. Teilweise wurde hierbei auch geschlagen oder mit Füßen getreten.

e) 1.5.: 19.45 bis ca. 22 Uhr: Rosa-Luxemburg-Platz bis zum Michaelkirchplatz.

Diese umfangreichste Demonstration verlief, von der Polizei am Rande massiv kanalisiert, friedlich. Unruhe kam auf, als die Demonstration von der Polizei, die sich unzureichend mit den Demonstrierenden verständigte, wegen der Auseinandersetzungen rund um den Mariannenplatz umdirigiert wurde. Auf dem Michaelkirchplatz entstand der Eindruck, in einen möglichen Polizeikessel geführt worden zu sein. Nach vorne und teilweise zu den Seiten war der Platz von massivem Polizeiaufgebot begrenzt. Hier wurden um 21 Uhr und danach zunächst vereinzelt von Demonstrierenden Steine geworfen. Die rund um den Platz stark präsente Polizei rückte in Gruppen gegen Demonstrierende vor; schließlich drohte durch Wasserwerfereinsatz und Polizeiaktionen eine sich allerdings bald verlaufende Kesselschlacht. Rund um den Mariannenplatz und den Oranienplatz kam es bis ca. 23Uhr immer erneut zu kleinräumigen Auseinandersetzungen. Wasserwerfer speiten, Steine in beträchtlicher Zahl wurden geworfen, Müllcontainer brannten, etliche Autos wurden umgekippt und angezündet.

Resümee

Die Demonstrationen verliefen weitgehend friedlich. Bei der Polizei war weithin die Absicht erkennbar, sowohl in Erscheinung wie in Aktion eher gewaltarm aufzutreten. Das demonstrative Geschehen kippte erst gegen Ende oder nach dem offiziellen Abschluss der Demonstrationen. Drei Hauptgründe sind hierfür zu nennen: zuerst der "Rück"-fall der Polizei in leider üblich gewordene Muster massiert martialischer Erscheinung, systematischer Blockaden der Wege, konzeptloser Engführung der Demonstration und ihrer Auflösung, verfrühtem Wasserwerfereinsatz, vor allem anlässlich der Großdemonstration ab 19.45 Uhr vom Rosa-Luxemburg-Platz aus, genauer nach Ankunft dieser Demonstration am Michaelkirchplatz kurz vor 21 Uhr. Es hatte den Anschein, als habe die länderbunt zusammengewürfelte Polizei kein einigermaßen einheitliches, erfahren begründetes Konzept. Auch etliche Gruppen der nicht einheitlich zu sehenden Demonstrierenden fielen sozusagen in ihre herkömmlichen, die massiv umstehende Polizei bekämpfenden bzw. zum Abhauen aufrufenden Verhaltensweisen zurück. Daraus wie aus dem polizeilichen Verhalten wird der dritte Hauptgrund deutlich: dass an der schlechten" Kreuzberger oder auch Außerkreuzberger Konvention unfriedlichen Umgangs miteinander von beiden Seiten so phantasielos festgehalten worden ist - und zwar schon lange vorweg im Vorfeld des 1. Mai -, dass dieser 1. Mai schließlich keine Chance rundum nicht repressiv behandelter, friedlich wahrgenommener Demonstration eröffnete.



E-Mail: narrwd@zedat.fu-berlin.de
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