Komitee für Grundrechte
und Demokratie



INFORMATIONEN - Rundbriefe 2002


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 Informationen 6/2002 - Dezember

Ein Castortransport mit vielen Gesichtern

Elke Steven

Im November 2002 fand der sechste Transport von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Gorleben statt. Und zum sechsten Mal begleiteten wir die Proteste im Wendland mit unseren Demonstrationsbeobachtungen.

Das Demonstrationsrechtist wesentlich ein Recht von Minderheiten bzw. von denen, "die politisch in der Minderheit sind. Es ist ein Grundrecht, das kollektiv wahrgenommen wird und auf Kommunikation angelegt ist. Und es ist ein hohes Rechtsgut, dessen Wahrnehmung geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren" (sog. Brokdorf-Beschluss des BVerfG). Deshalb erzeugen Demonstrationen potentiell immer Unruhe. "Die Wahrheit" über Demonstrationen wird häufig von den offiziellen, polizeilich-informierten Äußerungen bestimmt. Diese sind höchst unzureichend. Um den einseitigen Demonstrationswahrheiten entgegenzutreten und dies nicht nur meinungshaft zu tun, muss man selbst über verlässliche Informationen verfügen. Deshalb sind wir immer wieder mit einer mehr oder weniger großen Gruppe vor Ort, um einen Überblick über die Demonstrationen insgesamt zu erhalten. Diese schon seit 1981 vertretene Begründung für unsere Demonstrationsbeobachtungen hat in diesen Tagen im Wendland erneut ihre Bedeutung gezeigt. Seit letztem Jahr bemüht sich die Einsatzleitung der Polizei ganz besonders um eine polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der Castortransporte und überschreitet damit deutlich ihre Aufgabenkompetenz. Polizeiliche Pressemitteilungen, einseitige Berichte und polizeiliche Interpretationen des Geschehens sollen das Bild von den Protesten in der Öffentlichkeit bestimmen. Dem sind unsere Beobachtungen entgegenzustellen. Denn deutlich zielen die polizeilichen Darstellungen immer neu auf die Diffamierung und Kriminalisierung des Protestes.



Ein weiterer Effekt unserer Demonstrationsbeobachtungen liegt in der Herstellung von Öffentlichkeit in der je konkreten Situation. Polizeiliches Verhalten richtet sich immer wieder auch danach, ob Handlungen öffentlich beobachtet werden oder nicht. Auch diese Schutzfunktion für BürgerInnen, die sich das Demonstrationsrecht nicht nehmen lassen, ist uns wichtig.



Ein Landkreis unter polizeilicher Kontrolle ...



Bei diesem Transport könnte man auf den ersten Blick meinen, dass diesmal auch die Polizei das Versammlungsrecht gewahrt und respektiert hat. Proteste konnten immer wieder stattfinden.

Trotz Demonstrationsverbot per Allgemeinverfügung konnten Bürger und Bürgerinnen auch in der Nähe und auf der Transportstrecke ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Ein phantasievoller und vielfältiger Protest stellte die Lebensfreude gegen den todbringenden Müll. Doch täuscht dieser erste Eindruck. Polizeiliche Kontrolle und Überwachung haben riesige bis hin zu rechtswidrigen Ausmaßen angenommen. Und nicht nur die Allgemeinverfügung strotzt von Unwahrheiten über den Protest und seine gewalttätigen Entwicklungen. Noch während der Protesttage begann die Polizei erneut mit Fehldarstellungen.



Im Vorhinein kündigte die Polizei an, dass die Zahl der Demonstrierenden gegen den Transport von hochradioaktivemMüll in das Zwischenlager nach Gorleben abnehmen wird. Gesamteinsatzleiter Reime hoffte, weniger Polizeibeamte und -beamtinnen einsetzen zu können. Gleichzeitig prognostizierte er in der Demonstrationen verbietenden Allgemeinverfügung einen gewaltbereiten, gar zunehmend gewalttätigen Widerstand. Unrichtige Darstellungen der bisherigen Proteste im Wendland und verfälschende Zitate zu den geplanten Protestaktionen begründeten das erneut weiträumige und zeitlich ausgedehnte Versammlungsverbot. Richtig an all diesen Vermutungen und Prognosen war einzig, dass die Zahl der Demonstrierenden, die aus der Bundesrepublik ins Wendland reisten, im Vergleich zu den Vorjahren und erst recht im Vergleich zu 1997 abgenommen hat. Das hatten auch die den Protest tragenden Organisationen vorausgesagt. Weniger Polizeikräfte konnten jedoch kaum eingesetzt werden. Gegen die von der Polizei geschätzten 2.000 AtomkraftgegnerInnen - es könnten auch doppelt so viele gewesen sein - wurden nach polizeilichen Angaben 17.600 BeamtInnen des BGS und der Polizei eingesetzt. Alle Prognosen über die Gewalttätigkeit des Protestes waren völlig falsch. Somit war die Grundlage des Demonstrationsverbotes nichtig. Die Bezirksregierung Lüneburg begann schon während dieses Transportes mit der erneuten Diffamierung und Kriminalisierung des Protestes. Wir als DemonstrationsbeobachterInnen konnten nur einen breiten friedlichen Protest und Formen gewaltfreien zivilen Ungehorsams beobachten. Einsatzleiter Reime berichtete dagegen von einem "deutlichen Kern an Gewalttätern" bei dem "schwierigsten Transport, den wir zu schützen hatten" (Elbe-Jeetzel-Zeitung, 15.11.2002)

Die Allgemeinverfügung, die jeden Bürger und jede Bürgerin unter Verdacht stellte, bestimmte den Polizeieinsatz. Kontrolle, Überwachung und der ständige Verdacht gegen jeden Bürger, sich unbotmäßig" verhalten zu wollen, waren leitend für das Verhalten der Polizei.

... und vielfältige Proteste mit Humor und Lebensfreude

Auf der Grundlage der völligen Übermacht einer technisch hochaufgerüsteten und zahlenmäßig gewaltigen Polizei konnte diese vor Ort andererseits häufig gelassen und besonnen mit den Protesten umgehen. So waren entgegen der Verbotsverfügung immer wieder Proteste auf und entlang der Transportstrecke möglich. Am Sonntag wurden entlang der Transportstrecke Dörfer symbolisch neugegründet. X-tausend-mal-quer konnte am Montag zwar nicht mehr auf der Straßentransportstrecke nach Klein-Gusborn demonstrieren. Über Stunden saßen sie jedoch auf dieser Straße in Groß-Gusborn. Auf dem Feld neben der Straßentransportstrecke vor Splietau fand allabendlich - dank des polizeilichen Flutlichts, das dort die Trecker in Schach und unter Überwachung halten sollte - ein Fußballspiel statt. In Hitzacker versammelten sich über tausend BürgerInnen, die von EinwohnerInnen zum Kaffeetrinken eingeladen waren, entlang der Schienentransportstrecke. Zumindest zwei Gruppen (von 100 und von 40 Personen) gelangten auf die Gleise und konnten dort kurzfristig sitzend blockieren. In Laase, auf der Straßentransportstrecke, versammelten sich in der Nacht vor dem Straßentransport 1.000 Demonstrierende und blockierten die Straße für mehrere Stunden. Die weitaus meisten von ihnen wurden fast vorbildlich von der Straße getragen. Ihre Personalien wurden aufgenommen. Sie mussten allerdings auf dem Feld in einer polizeilichen Umzingelung in der Kälte ausharren, bis der Transport vorbeifuhr. Von vielen weiteren Aktionen wäre zu berichten. Jedoch ist auch festzuhalten, dass es nichts mit grundrechtlich garantierten Versammlungen als "Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers" (Brokdorf-Beschluss des BVerfG) zu tun hat, wenn die Polizei dieses Recht nach eigenem Gutdünken - obrigkeitsstaatlich - gewährt. Gemeinschaftliche, auf Kommunikation angelegte Entfaltung ist unter den Bedingungen jederzeit zu erwartender Kontrolle und Bespitzelung nur höchst eingeschränkt möglich.

Polizeiliche Gewalttaten und Ingewahrsamnahmen

Dieses freundliche Gesicht der Polizei erfuhren jedoch nicht alle. Immer wieder mussten wir auch bei Aktionen Gewalttaten einzelner Polizisten beobachten. Angesichts gewaltfreier Demonstrierender, die auf Schiene oder Straße zugingen, wurden Schlagstöcke gezogen und wurden einige mit unverhältnismäßiger Gewalt abgewehrt. Denjenigen, die nachher in aller Ruhe aus der Sitzblockade in Laase weggetragen werden konnten, wurde, als sie auf die Straße zukamen, um ihr Recht auf Versammlung auszuüben, mit äußerster Härte begegnet. Einzelne Polizeibeamte rasteten immer wieder aus, zerrten an Demonstrierenden, zogen den Schlagstock selbst in völlig überschaubaren Situationen, zogen gar die Waffe gegen Traktorfahrer. Nach Abschluss des Transportes wurde Jochen Stay von Polizeibeamtenverprügelt. Journalisten berichten von einer noch nicht erlebten Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Und auch einem Journalisten wurde gedroht: "Halt`s Maul, das interessiert uns nicht, lauf, sonst gibt`s Prügel." (taz, 15.11.2002)

Es gab weniger Ingewahrsamnahmen als in den letzten Jahren. In die Gefangenensammelstelle in Neu-Tramm wurden nach Angaben des anwaltlichen Notdienstes 267 Personen gebracht. Der Republikanische Anwältinnen und Anwälte Verein (RAV) und der anwaltliche Notdienst beklagten vehement die Art, wie mit diesen Gefangenen umgegangen wurde. Der RAV machte schon im Vorhinein darauf aufmerksam, dass wieder eine menschenunwürdige Unterbringung von Gefangenen droht: nicht belüftbare "Hafträume", fehlende Sitz- oder Liegemöglichkeiten in einer kahlen Halle. "Besonders schockierend ist die vorgesehene Unterbringung in einer weiteren alten Fahrzeughalle in Drahtkäfigen". Beklagt wurde vom RAV auch die richterliche Untätigkeit im vergangenen Jahr, die den grundgesetzlich vorgeschriebenen Richtervorbehalt für die meisten Gefangenen ins Leere laufen ließ. Und auch dieses Jahr klagte der anwaltliche Notdienst, dass die richterliche Entscheidung "von der Polizei mutwillig verzögert wurde".

Gefangene wurden drangsaliert durch menschenunwürdige Unterbringung - sie wurden nach Festnahmen zwischen 11 und 14 Uhr bis in den späten Abend in den Gefangenenbussen "geparkt". 7 Personen wurden mehr als 4 Stunden in einer Viererzelle im Gefangenentransporter (ca. 1,5 qm) verwahrt. Trotz Kenntnisnahme der Geburtsdaten während der Festnahme wurden auch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in den engen Transportzellen eingesperrt und "zwischengelagert".

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