Komitee für Grundrechte
und Demokratie



Soziale Bürger- und Menschenrechte - Inhalt


 voriger

 nächster

Soziale Bürger- und Menschenrechte - Inhalt

 Dokumente / frühere Stellungnahmen

Nachwort zur Broschüre:

"Die Würde des Platzes" oder Wagenburgen, Ostfildern, Grundrechte und Demokratie

Wolf-Dieter Narr

Freiheit nur für die Anhänger einer Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.

Nicht wegen des Fanatismus der Gerechtigkeit , sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die "Freiheit zum Privilegium wird." (Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, 1918)

Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Freiheit, über die im engen Sinne "politische Freiheit" hinaus, ist immer auch die Freiheit der Anderslebenden. Sonst entbehrt politische Freiheit ihrer materiellen und ihrer habituellen Grundlage. Sonst wird alles Reden von Pluralität eitler Schein, weil dasselbe nur Oberflächengekräusel meint und nicht auf die praktizierte Toleranz abhebt. Daß Menschen mit ihren Eigenarten und ihren Eigensinnen in diversen Formen leben wollen.

I.

Gesellschaften kommen auch durch das zustande, was der große deutsche Sozialwissenschaftler Max Weber "soziale Schließung" genannt hat. Das aber heißt, Grenzen aller Art spielen gesellschaftlich durchgehend eine zentrale Rolle. Gesellschaftkonstituiert sich durch und äußert sich in Grenzen. Manche sind Mitglieder einer Gesellschaft. Andere sind es nicht. Diejenigen, die es nicht sind, sind ausgeschlossen. Sie besitzen offenkundig bestimmte Merkmale nicht, die den Mitgliederneiner bestimmten Gesellschaft eignen. Die Abgrenzung von anderen hebt mit jeder Person und ihrem eigenen "intimen" Raum an. Das "Eigene" und das "Andere" schafft und bestätigt sich wechselseitig. Im menschenrechtlichen Kernbegriff der Integrität, der Unversehrtheit des Menschen liegt die Erkenntnis verborgen, daß jeder Mensch etwas für sich ist, so sehr er oder sie gleich ursprünglich ein gesellschaftliches Wesen ist. Ein Individuum oder ein Atom - etwas, das nicht mehr geteilt werden kann; eine geschlossene, wenngleich in sich vielfältige Einheit, in die nicht eingegriffen werden darf (es sei denn mit Zustimmung der jeweiligen Person).

Zugleich werden Personen und Gesellschaften erst dadurch selbstbewußt und wahrhaft eigenständig, daß sie andere als gleichberechtigte Personen und andere Gesellschaften als in gleichem Maße existenzberechtigt und "normal" ansehen, akzeptieren, ja verlangen. Erst im anderen kommt man zu sich selbst. Erst, indem man auch anders sein könnte, wird man zu einem angstfreien Selbst. Denn das Andere, andere Möglichkeiten stecken in einem selbst. Sie äußern sich in Widersprüchen und Spannungen. Dauernd. Die eigenen Möglichkeiten in einem selbst, die in der eigenen Person nicht zum Zuge kommen konnten - mitbegründet von einer bestimmten Gesellschaft und ihrer Geschichte -, werden von anderen Personen und ihren Gesellungen verkörpert. Diese Verkörperung des Anderen schon in der eigenen Familie,noch mehr über der Straße und noch mehr in anderen Gesellschaften, können wir individuell und kollektiv als belebende Pluralität, als Vermehrung auch unserer Wahlfreiheiten erfahren (manche dieser Erfahrungen spielen in der Reisesehnsucht eine beträchtliche Rolle). Eine solche beglückende Erfahrung menschlicher Vielfalt setzt jedoch voraus, daß man "das" Andere (die Vielheiten des Anderen) nicht in sich selbst unterdrückt hat; daß das Andere, genauer gesagt, nicht von der uns sozialisierenden, also vergesellschaftenden Gesellschaft, angefangen mit der eigenen Familie, nach allen Regeln der Kunst unterdrückt, mit Sanktionen und/oder Ängsten überzogen worden ist. Sonst wird alles Andere für uns potentiell zur "Hölle". Es fasziniert uns und ängstigt uns zugleich. Da wir an unser anerzogenes Muster so festgekettet worden sind, daß wir die Ketten gar nicht mehr spüren, wird "das" Andere zuweilen zum positiven, meist zum negativen Projektionsgegenstand. Auf "das" Andere wird all das übertragen, mit dem wir selbst nicht zurechtkommen, einschließlich unserer unerfüllten und nicht einmal im Gedanken, nicht einmal in der Phantasie zugelassenen Sehnsüchte. Immer sind deswegen "die" anderen schuld. Immer ärgern uns darum "die" anderen. Nicht zuletzt weil sie Möglichkeiten darstellen, die uns frühkindlich und erwachsen so versagt worden sind, daß wir sie uns nicht einmal mehr zu wünschen trauen. Oder "die" anderen, vor allem wenn sie sehr viel schlechter gestellt sind, zeigen uns den Abgrund, in den wir selbst zu fallen drohen. Also nichts wie zudecken. Also nichts wie diese anderen wegdrängen. An der Art wie von den Erwachsenen vor ihrem 70. Lebensjahr mit den Greisinnen und Greisen umgegangen wird, kann solches Wegsehen und Wegdrängen aus Eigenangst trefflich beobachtet werden. Alle Vorurteile, der Antisemitismus zumal, siedeln in solchen Sozialisations- und repressiven Wirklichkeitsgründen.

Darumkommt es ausschlaggebend darauf an, wie eine gesellschaftliche Ordnung beschaffen ist. Die Art und Weise der Organisation einer Gesellschaft entscheidet darüber, ob es sich um eine freiheitliche Ordnung handelt oder um eine repressive. Dierepressive läßt andersartige andere nicht zu. Und unterdrückt damit wenngleich nur insgeheim die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Letztere haben ihrerseits eine bestimmte repressive Ordnung so verinnerlicht, daß sie dieselbe als die Ordnungauf alle anderen übertragen. Daß sie in jedem Fall dafür sorgen, den eigenen Ordnungs-Raum frei von allen ärgerlichen Herausforderungen alles Anderen zu halten. Da können dann Behinderte ebenso in die Quere kommen wie hilfsbedürftige Alte;Obdachlose ebenso wie Jugendliche, die sich anders kleiden und anders miteinander umgehen.

"Man" fühlt sich schon gefährdet durch irgendetwas anderes schlechthin (man erinnere die bekannte Stelle in "Mein Kampf", an der Hitler beschreibt, wie er zum ersten Mal in seiner österreichischen Heimat orthodoxe Juden erlebt hat). Dann wird eben, wie sich der Oberstadtdirektor zu Köln, ein gewisser Dr. Heugel, am 30. Mai 1998 ausdrückte, "die Würde des Platzes" gefährdet. Und dies schon allein dadurch, daß sich eine Gruppe schwarz Bekleideter auffällig vor dem Dom zusammentut. Das "Auge" der Normalität wird verletzt. Und wenn die "Würde" eines Platzes, einer Ortschaft, einer Stadt gefährdet ist, dann hilft nur noch eines: polzeigewaltiger Ausschluß mit Hilfe der gesetzlichen Sauberwundermittel: Allgemein- und Beschlagnahmungsverfügung, des pauschalen Platzverweises u.ä.m. Die deutschen Gesetze sind in der Summe ihrer Repressionen auch gerade in vorausgreifender Art, also bevor irgendetwas passiert ist, sehr kreativ.

Trotz (oder gerade wegen?) ihrer urlaubenden Massenflucht in aller Herren und Damen Länder sind die Bundesdeutschen nach wie vor ein vergleichsweise seßhaftes "Volk". Seine festen Häuser zeichnen es aus.

Mobilität ist ein Wert an sich. Mobilität kann mit gutem Recht als erhebliche Gefahr und, wenn sie eintritt, als Verlust erfahren werden. Man bedenke all die im Laufe der kapitalistischen Entwicklung aufgeherrschten Mobilitäten. Insbesondere diejenigen, die neuerdings im Zusammenhang der Zurichtung auf standortbezogene Stromlinienförmigkeiten aller Art bildungspolitisch und arbeitsmarktpolitisch abverlangt werden. Da gibt es fast nichts mehr, worauf man setzen könnte. Negative Offenheit ist Trumpf. Sprich: jede und jeder sollen für alle Zwecke jederzeit in der "unternehmerischen Wissensgesellschaft" verfügbar sein. Entsprechend wird gegenwärtig die deregulierende Sozialpolitik als A-Sozialität schaffende Politik umgerüstet (zur unerträglich leichten, zugleich überaus symptomatischen Zukunftsvision einer selbstredend dauermobilen Gesellschaft siehe den Bericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern undSachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Bonn 1998).

Verständliche Unsicherheit und Ängste vor solchen Mobilitäten, die tief ins Leben jeder einzelnen und jedes einzelnen eingreifen und herkömmliche, allzu bodenständige Seßhaftigkeit samt ihrer schwäbischen - auch außerschwäbisch wie die Bausparkassenkultur verbreitete - Hausfrauen-Ordnungsvorstellungen (die vor allem auch die Vorstellungen der Hausherren waren und sind) verbinden sich offenkundig bundesdeutsch allgemein zur inländisch und ausländisch wirksamen Devise: "Abschiebung". Alles, was nicht in die deutsche Ordnung paßt - und Deutschsein heißt, Richard Wagner zufolge, bekanntlich, eine Sache um ihrer selbst willen verfolgen -, all das Andere, das "indeutsch" Andere und zuförderst das "ausdeutsch" Andere soll an den Rand geschoben, ausgegrenzt, ausverlagert und eben über die Grenze abgeschoben werden. Welch ein Horror im Wort allein: Abschiebung. Das Wörterbuch des Unmenschen erhält zusätzliche Kapitel.

II.

Sie sind nicht zahlreich. Und doch gibt es mehr, als man sich "fest" und also "ordentlich" wohnend vorstellt (vgl. den in dieses Nachwort eingefügten Überblick des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung mit dem Titel: Sozialverträglicher Umgang mit mobilen Wohnformen am Rande der Legalität; s. auch den als Dokument angehängten Forderungskatalog etlicher hessischer Wagenplätze vom November 1995). Wagenburger, wie sich ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu einem Teil mit einem tief in eine sehr verschlungene Geschichte zurückreichenden Ausdruck nennen. Schlägt man im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm nach, dann findet sich dort eine lange Eintragung.Sie beginnt mit folgender Wortbestimmung:

"1) Eine aus zusammenfahrenden Wagen gebildete Verschanzung im Kriege. ..." Weiter erfährt man aus dem Grimm, daß das Wort zur Zeit der Hussitenkriege (seit 1419) aufgekommen sei. "Die Hussiten verstanden es nämlich, die Wagenburg, deren man sich früher schon als Rückhalt oder Zufluchtsstätte für den Notfall bedient hatte, zu einer gefährlichen Waffe auch beim Angriff zu gestalten." Nach vielen Belegstellen des variantenreichen Wortgebrauchs, der meist einen kriegerischen Umhof besitzt, wird man am Ende des Artikels folgendermaßen informiert: "In neuerer Zeit wird das Wort auch für eine größere Anzahl Wagen gebraucht, die in geordneten Reihen aufgefahren sind. Dieursprüngliche Bedeutung schimmert dabei mehr oder weniger deutlich hindurch..."

Der zuletzt beobachtete Bedeutungswandel des Ausdrucks "Wagenburg" gilt für den neuerlichen Gebrauch in der Bundesrepublik und die dem Gebrauch entsprechende soziale Tatsache: Wagenburg. Die Wagenburgen sind strikt friedlich. Sie stehen inländlich auf dem Boden der Verfassung; sie stehen jedoch nicht auf eigentümlich erworbenem Boden und genügen nicht allen wohnungsbezogenen Vorschriften. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, daß sie im Rahmen der gemeindlichen Allmende oder privat zur Verfügung gestellter, eventuell auch besetzter Grundstücke geduldet werden. Die Grade ihrer Duldung sind wie die Eigenarten der Wagenburger selbst lokal und über die Zeit sehr verschieden. Manche ihrer Vertreterinnen und Vertreter verstehen sich politisch und formulieren alternative Wohn- und soziale Umgangsprogramme (vgl. den Kasten zu den programmatischen Äußerungen des RüsselsheimerWagenburgers Charly); andere sind an sich selbst kaum politisch zu nennen. Sie werden "politisch" im negativen Sinne nur insofern, als die kommunalen Instanzen repressiv-verdrängerisch mit ihnen umspringen (vgl. den als Anhang beigefügten Bericht von Ullrich Fichtner in der Frankfurter Rundschau vom Sommer 1996). Die meisten befinden sich wohl zwischen den politisch-programmatischen und den unpolitischen und z. T. fast hilflosen Versuchen, sich wohnend über Wasser zu halten.

Zu irgendeiner Art verblasener Romantisiererei besteht also kein Grund. Die Wagenburgen sind in fast jeder Hinsicht eine Randerscheinung. Daß sie in den letzten 10 bis 15 Jahren in Erscheinung getreten sind, ist gewiß ein Symptom auch undgerade für die Mängel der "ordentlichen" Bundesrepublik und ihre"festen" Wohnbedingungen. Es besteht jedoch mitnichten die Gefahr oder die Chance - je nach Perspektive bewertet - einer "Verwagenburgerung" der Republik. Ließe man allerdingsdie bestehenden Wagenburgen, dann vergrößerte sich die Chance, daß andere For-men des Wohnens und des Zusammenlebens "normal" würden und das Dickicht der Städte und ihre A-Sozialität plural aufgelockert und ergänzt würde. Sogar in Richtungeines assoziativ geradezu stabilisierenden Faktors.

III.

Um so schlimmer ist es, wie sich die etablierte Ordnung mit herrschaftsnackten Mitteln durchsetzt: als die Ordnung schlechthin. Insofern paßt der Denkendorfer Ordnungspietismus, der oben kurz vorgestellt worden ist (s. Die Herrschaft der kommunalen Exekutive(n)), ins allgemeine bundesdeutsche Bild eines harten Ordnungsrahmens mit dem starren Bild der Intoleranz. Von Denkendorf bis Berlin. Der Ordnungspietismus hat sich längst säkularisiert und verpolizeilicht.

Eine bestimmte Ordnung auch und gerade als Raumordnung wird zur ordentlichen Gewalt mit vermeintlich rechtsstaatlichen Mitteln. Unser Fallbeispiel Ostfildern belegt dies. Dieses Ostfildern ist tatsächlich überall. Ebenso ist sein repressiv toleranter Oberbürgermeister Rösch eine weitverbreitete Charaktermaske. Süßmündig wird verkündet, anders Lebende hätten auch eine Chance. Nur, einen Ort, damit sie leben können, könne man ihnen nicht bieten. In diesem Sinne werden Grundrechte und Demokratie, wird also das Grundgesetz von seinen offiziellen Vertretern zur Zuckerwatte gemacht oder diesseits aller Computertechnologie virtualisiert.

Pluralistische Demokratie? Gewiß. Nur nicht bei uns. Vor allem nicht, wenn Pluralität unterschiedliche Lebensstile meint, die in friedlichem Konsens und Konflikt zusammenleben sollen. Und seien es nur plurale Tupfer in der bundesgrau einheitlichen Ordnung. Den Anfängen gilt es zu wehren. Was geschähe, wenn plötzlich "normale", "ordentliche" Bürgerinnen und Bürger sich an den anderen ein Vorbild nähmen und ihre "Ordentlichkeit" plötzlich flexibel und tolerant würde? Alle Eindeutigkeiten herrschender Ordnung und der Interessen, denen diese nützt, gerieten ins Geschiebe.

So kann es geschehen, daß das ungeheuerliche Wort des Kölner Oberstadtdirektors, jenes mutmaßlich rechtschaffenen Dr. Heugel, zum allgemeinen Motto des Umgangs mit anderen in dieserRepublik und den Tau-senden ihrer Gemeinden wird, die darob zu Unorten für alle Bürgerinnen und Bürger in- und ausländischen Rechtsstatus werden. "Die Würde des Platzes" rund um den Kölner Dom gegen unziemlich schwarz Bekleidete oder der Gemeinde Ostfildern gegen unziemlich mobil Wohnende oder der Bundesrepublik Deutschland insgesamt gegen unziemlich bei ihr Schutz Suchende ..."die Würde" deutschen Raums wird zum Argument gegen die Menschenwürde derjenigen, die nicht in die herrschende räumliche "Würde" passen.

So verfuhrwerken deutsche Ordnungshüter fast allerorten die zentrale Bezugsnorm, mit der das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG anhebt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Es sei denn, es gäbeMenschen, die die verdinglichte "Würde" des deutschen Raums antasten.

Die in den Raum gesteckte Herrschaft, die räumlich präsente Herrschaft einer bestimmten Ordnungsvorstellung und ihrer Interessen, die die "Raumordnung" definiert, steht über der Würde der Menschen. Wie viel ist noch zu tun, damit der bundesdeutsche (und europäische) Raum für die Bundesdeutschen selbst vor und mit allen Fremden auch nur grundrechtlich angeeignet werden könne? Auf diese Weise rücken die Wagenburgerinnen und Wagenburger plötzlich ins Zentrum zukünftig nötiger bundesdeutscher Politik. Im Sinne der notwendigen Selbstbefreiung auf dem schwierigen Weg, der aus einer vordemokratischen Raumordnung und der ihr gemäßen Auslegung öffentlicher Sicherheit und Ordnung herausführt.



E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
 voriger

 nächster




       
Bereich:

Komitee
Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
            
Netzwerk  Themen   FriedensForum Ex-Jugo Termine   Aktuelles