Hiroshima-/Nagasakitag 2006


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Hiroshima-/Nagasakitag 2006

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Redbeitrag zur Gedenkveranstaltung "Hiroshima-/Nagasaki-Tag" in Köln am 6. August 2006

Liebe Freundinnen und Freunde,

Bernhard Mogge

Zum kollektiven Wortschatz der Menschheit gehören seit 61 Jahren die Namen Hiroshima und Nagasaki. Wir haben vorhin das beeindruckende Zeugnis von Herrn Kazuo Soda gehört, der als Jugendlicher das Inferno von Nagasaki überlebt hat. Ein Hibakusha, der nicht müde wird, in aller Welt vor den Nuklearwaffen zu warnen und für den Frieden zu werben. Und wir haben von Regina Hagen gehört, wie die nukleare Bewaffnung der Atomstaaten und die Verbreitung solcher Waffen den Frieden immer noch und immer wieder aufs höchste gefährden. Die Gefahr, dass heute auch die Menschen im Nahen und Mittleren Osten, dass wir alle Hibakusha werden könnten, ist seit Hiroshima und Nagasaki nicht geringer geworden. Im Gegenteil, sie ist heute größer denn je seit dem Ende des Kalten Krieges.

Der Beinahe-Gau in dem schwedischen Kernkraftwerk Forsmark vor wenigen Tagen bringt uns schlaglichtartig ins Bewusstsein, dass wir aber nicht nur von der Atombombe bedroht werden. In unserem noch jungen nuklearen Zeitalter gab es 1979 mit Harrisburg und 1986 mit Tschernobyl bereits zweimal einen gewaltigen Schock, der die tödlichen Gefahren der so genannten zivilen Nutzung der Kernenergie deutlich machte. Die Zahl der Todesopfer nach dem Gau im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist zwar nicht genau bekannt. Sie wird politisch instrumentalisiert. Doch gehen seriöse Wissenschaftler davon aus, dass sie heute bereits mehrere zehntausend erreicht. Nicht benannt werden kann die Zahl derer, die in den kommenden Generationen an den Spätfolgen erkranken und sterben werden. Wie in Hiroshima und Nagasaki leidet nicht nur eine Generation. Die gesundheitlichen, vor allem die genetischen Schäden vererben sich.

Wenn wir die Namen der beiden im August vor 61 Jahren ausradierten japanischen Städte als Symbol für den politisch-militärischen Wahnsinn des Einsatzes von Atomwaffen betrachten, wenn wir die Orte der bisher größten so genannten zivilen Gaus, Harrisburg und Tschernobyl, als Synonym für die Risiken der Nuklearindustrie nehmen, übersehen wir aber, dass zu einer Topographie des nuklearen Zeitalters noch andere Namen gehören. Und wir übersehen, dass die Opfer nicht nur in Japan und im Einzugsgebiet der Wolke von Tschernobyl zu finden sind.

Das Uran für die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, der Brennstoff für den Unglücksreaktor in der Ukraine wurden in Uranminen gewonnen, deren Namen kaum bekannt sind. Doch in diesen Minen beginnt der tödliche Kreislauf des radioaktiven Materials, der sich mit den Tests von Atombomben fortsetzt, mit dem Betrieb von Kernkraftwerken und mit der bis heute nicht gelösten Problematik der Endlagerung von Nuklearmüll.

Von den meisten Stationen dieser nuklearen Kette, nämlich vom Uranabbau, von Atombombentests und von der Lagerung nuklearer Abfälle, sind vor allem Menschen betroffen, die wir nicht kennen und nicht sehen. Vor allem deshalb nicht, weil sie keine Lobby haben und wenig Mittel, Proteste gegen ihre Vereinnahmung durch einen nuklearen Kolonialismus zu Gehör zu bringen.

In den allermeisten Fällen handelt es sich um Ureinwohner, um Naturvölker, wie sie bei uns manchmal noch genannt werden, oder, wie es sich im internationalen Sprachgebrauch inzwischen eingebürgert hat, um Indigene. Etwa drei Viertel der bekannten Uranvorräte liegen unter dem Land eingeborener Völker. Ironischerweise handelt es sich oft um Land, das beispielsweise Indianern oder Aborigines als Reservatsland zugewiesen wurde, weil es den damaligen Kolonisatoren wertlos erschien. Erst später entdeckte man den Rohstoffreichtum dieser Gebiete und begann mit ihrer Ausbeutung: Kohle, Erdgas, Erdöl, Gold.

Und Uran. In den USA beispielsweise im Südwesten, der Heimat der Navajos und Pueblo-Völker, und in den Black Hills in Süddakota, die den Cheyenne und Lakota heilig sind. Dann in den kanadischen Provinzen Saskatchewan und Ontario und in den Nordwestterritorien, dem Land der Inuit, Cree und Dené. Auf dem Land australischer Aborigines. In Nord-, West- und Zentralafrika, wo Tuareg, Fulbe, Pygmäen und andere Stammesvölker leben. Auch in Sibirien sind Ureinwohner vom Uranabbau bedroht. In Indien sind die Adivasi die Hauptbetroffenen des staatlichen Atomprogramms.

Nicht nur der Uranabbau betrifft zuallererst indigene Völker. Fast ausnahmslos auf ihrem Land liegen die Versuchsgelände, auf denen die Atommächte ihre Bomben testeten, in Nevada, in Kasachstan, in Südaustralien, auf den Montebello-Inseln, im Südpazifik, in Sibirien, in Nordafrika. Fast ausnahmslos auf ihrem Land sind Endlagerstätten für nukleare Abfälle aus aller Welt geplant. So unter dem Yucca Mountain in Nevada, dem Land der Western-Shoshone-Indianer. Oder in der westaustralischen Wüste. Oder in Sibirien.

Oftmals kennen die indigenen Völker seit langem die tödlichen Gefahren, die beispielsweise vom Uranabbau ausgehen. Wie etwa die australischen Aborigines. Der fünfte Kontinent verfügt über riesige Uranvorkommen, vor allem in den Bundesstaaten West- und Südaustralien sowie im Northern Territory. In den Schöpfungsmythen der Aborigines spielt die "Traumzeit" eine wichtige Rolle. Traumpfade durchziehen den ganzen Kontinent; zahlreiche heilige Stätten sind Schöpferwesen geweiht. Viele Stellen sind mit Konnotationen von besonderer Bedeutung, auch von Gefahr, belegt; ihr Betreten ist den Menschen untersagt.

Auf frappierende Weise decken sich diese Tabu-Stellen mit heutigen Karten von Uranvorkommen. Es scheint, als hätten sich die Ureinwohner durch jahrtausendelange Naturbeobachtung eine genaue Kenntnis von Orten erworben, die ein Vielfaches der natürlichen Hintergrundstrahlung aufweisen. Auch den uralten Mythos der Njamal in Nordaustralien von der Regenbogenschlange, die unter der Erde schläft und die geheimen Kräfte hütet, die der Mensch nicht stören darf, kann man deuten als Hinweis auf die tödliche radioaktive Strahlung. In ähnlicher Form findet sich ein solcher Mythos auch bei anderen indigenen Völkern wieder. Eine große Uranlagerstätte in Westaustralien heißt Yellirrie. Die Western Mining Corporation, die dort Uran fördern will, hatte den Namen aus der Sprache der Aborigines übernommen, ohne nach der Bedeutung zu fragen. Vielleicht hätten sie fragen sollen. Übersetzt heißt Yelirrie "Stätte des Todes".

Gefährlich sind der Uranabbau und die Lagerung des Abraums wegen der radioaktiven Strahlung, die dabei auftritt. Wenn radioaktive Partikel eingeatmet werden oder über die Nahrungskette in den Körper gelangen, bewirken sie schwerste Zellschädigungen. Uran etwa Nieren- und Leberschäden und Krebs des Lymphsystems. Thorium 230, das sich hauptsächlich in den Organen des Immunsystems ablagert, bewirkt Knochen- und Lebertumore, Leukämie, Krebs des Lymphsystems. Radium 226: Knochenkrebs, Leukämie. Radon 222: Lungenkrebs. Jedes Glied in der Zerfallskette des Urans hat eine tödliche Wirkung. Auf geborenes wie ungeborenes Leben, denn die Horrorskala reicht von Schädigungen des Fötus im Mutterleib bis hin zu genetischen Veränderungen.

Vorgestern wurde in Genf bei einer Uno-Konferenz mit indigenen Vertretern aus aller Welt ein Film aus Indien gezeigt. Der Film heißt "Buddha weeps in Jadugoda", "Buddha weint in Jadugoda". Er zeigt die Auswirkungen des Uranabbaus in der Jadugoda-Mine auf die dort ansässigen Adivasi, also die Ureinwohner. Es waren Kinder mit schrecklichen Missbildungen zu sehen, mit Hautkrankheiten und anderen schweren Schäden. Viele Neugeborene sterben in den ersten Wochen, viele Kinder kommen tot zur Welt. Minenarbeiter heben mit bloßen Händen, ohne jede Schutzkleidung, rostende und lecke Fässer mit Yellowcake, dem Ausgangsprodukt für den Nuklearbrennstoff, auf Lastwagen.

Die Adivasi-Vertreter, die diesen Film gezeigt haben, erzählten, dass die indische Regierung im Norden des Landes, natürlich wieder auf dem Land von Adivasi, eine weitere Uranmine plant. Das Uran soll dort im Tageabbau gefördert werden. Indien will für die militärische Nutzung des Urans, also für den Bau von Atomwaffen, unabhängig sein von Uranimporten. Eine schreckliche Perspektive, zumal Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat. Die Hauptleidtragenden des Uranabbaus sind - wie üblich - Indigene.

Indigene sind oft auch Hauptleidtragende von Atomunfällen. Wie die Inuit in Grönland, die nach dem Absturz eines mit Plutonium-Bomben beladenen US-Militärflugzeuges in der Nähe der Thule-Airbase ohne Schutzkleidung den radioaktiv verseuchten Schnee in Container schaufeln mussten. Oder Navajo-Indianer im Südwesten der USA. Am Morgen des 16. Juli 1979 war in Churchrock, New Mexico, auf zwanzig Fuß Breite ein Damm gebrochen, der den Abraum aus einer Uranmine zurückhielt. Rund 400 Millionen Liter radioaktiv verseuchtes Wasser und mehr als 1000 Tonnen Schlamm und Geröll ergossen sich über das Land und versickerten im Boden. Das meiste floss in den Rio Puerco, einen Nebenfluss des Colorado River. Die tödlichen Hinterlassenschaften des Unfalls waren Uran, Thorium, Radium und Polonium; außerdem eine große Anzahl hoch giftiger Metalle, die im Abraum enthalten sind. Die etwa 350 Familien, die dort lebten - die meisten von ihnen indianische Schafzüchter vom Volk der Dineh oder Navajo, wie wir sie meist nennen -, nutzten den Fluss für ihre Herden als Trinkwasserquelle. Einen Monat nach dem Desaster ließen die Behörden Schilder aufstellen, die vor dem Gebrauch des Wassers warnten. Leider konnten die Schafe nicht lesen. Viele Tiere verendeten. Eine Zeit lang hielt sich die Aufregung um Churchrock. Aber das öffentliche Interesse schlief bald wieder ein, und nach drei Monaten nahm die Uranmine ihren Betrieb wieder auf. Der Name Churchrock prägte sich dem Gedächtnis nicht ein.

Doch die Beispiele Jadugoda, Thule und Churchrock zeigen eines. Zu einer Topographie des nuklearen Zeitalters gehören nicht nur Hiroshima und Nagasaki, Moruroa und Bikini, Harrisburg und Tschernobyl. Churchrock und Jadugoda und viele andere Orte müssen auf dieser makabren Landkarte eingetragen werden. Und auf dieser Landkarte müssen eingetragen werden die Namen der Menschen, meistens sind es Indigene, die erkrankt oder bereits gestorben sind. Es ist eine unsichtbare nukleare Landkarte, die sich über Hunderttausende von Quadratkilometern legt. Strahlung, die alles erfasst, Mensch, Fauna und Flora, die keine Grenzen kennt.

Wir müssen daher reden von einem Schrecken, der nicht nur ein einzelnes Ereignis ist wie ein Atombombentest oder ein Gau. Wir müssen reden von der Bombe, die lautlos, aber täglich detoniert. Wir müssen alle Opfer sehen, die uns eine Mahnung sein sollen, dass wir alle gefährdet sind. Wir müssen die indigenen Völker der Welt unterstützen, die als Opfer im Zentrum des nuklearen Kolonialismus stehen. So wie es eine Indianerin auf einer Konferenz von indigenen Völkern sagte: Wir sind alle Hibakusha.



E-Mail: bernhard.mogge@web.de

Website: www.infoe.de
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