Bush-Besuch im Mai 2002


vom:
23.05.2002


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Bush-Besuch im Mai 2002

 Echo / Presse

Pressesplitter 23. Mai 2002

versch. Zeitungen

Berliner Zeitung Friedlich bis zur Dämmerung

SZTypische Latsch-Demo Typische Latsch-Demo

Offenbacher Post Bushs Ankunft in Berlin von Krawallen begleitet

jW "Der größte Terrorist der Welt"

taz Was uns Bushs Besuch bedeutet

Berliner Zeitung "Ja, ich will" - aber nicht George W. Bush

FR Es grünt so grün zum Bush-Besuch

SZ Birnbaum und das Fanta-Attentat

spiegel-online Bush in Berlin



Quelle: Berliner Zeitung, 23. Mai 2002

Friedlich bis zur Dämmerung

Es hätte das friedliche Ende eines fröhlichen Tages werden können. 20 000 Menschen hatten sich Mittwochnachmittag am Berliner Dom getroffen, zogen zur zweiten Anti-Bush-Demonstration um den Alexanderplatz herum wieder zum Dom, zur Abschlusskundgebung. Sie waren vereint in der Ablehnung des amerikanischen Präsidenten, vereint in der Kritik der Globalisierung und im Wunsch nach Frieden. Friedlich vereint, bis fast zum Schluss: Als die Demo wieder zum Dom zurückgekehrt war, gab es am Mittwochabend Krawalle.

An der Spitze des Demonstrationszuges liefen die "Bush-Trommler", die auf Kochtöpfe, Plastikflaschen, Bongos und Trommeln schlugen und dem Zug da schon den fröhlichen Charakter eines Straßenfestes gaben. Eines riesigen Straßenfestes, bei dem Wagen mitfuhren, aus deren Lautsprechern Musik dröhnte. Bis zum Ende des Zuges, viele hundert Meter weiter hinten, war diese Stimmung bemerkbar. Die Demonstration setzte sich aus Friedensaktivisten und Globalisierungskritikern zusammen, Autonome waren deutlich in der Minderheit. An den Transparenten und Rufen konnte man ermessen, wie vielfältig die Proteste gegen den amerikanischen Präsidenten sind: "Mr. Bush and Mr. Schröder: Stop destroying our future", "Yankees raus aus Lateinamerika", in einem Block liefen Palästinenser, andere riefen "Brecht die Macht der Banken und Großkonzerne". Die Globalisierungskritiker von Attac führten inmitten des Zuges ein Rollenspiel auf: Ein als "USA" verkleideter Mann hieb mit einer Peitsche auf andere, unterdrückte Staaten ein, ein als "Deutschland" verkleideter Jugendlicher war Amerikas williger Helfer.

"Böller statt Brot"

Bereits am Nachmittag hatte es kleinere Proteste und Aktionen gegen den Besuch von George W. Bush gegeben. Gegen vier Uhr versammelten sich rund 500 Menschen zu einer "Willkommen-Blockade-Manifestation" am Hackeschen Markt. Organisiert war die Aktion von autonomen Gruppen, in ihrem Aufruf hatten sie um "angemessene Kleidung" gebeten. Sie schwenkten USA-Banner und riefen "Böller statt Brot", "Krieg ist Klasse" und "Wir wollen mehr Kapitalismus". Manch einer der Zuschauer dieser "Spaß-Demo" wunderte sich über die elegant gekleideten Demonstranten mit Krawatten, die gemeinsam mit bunten Punks vom Hackeschen Markt durch die Neue Schönhauser Straße, die Münzstraße und die Karl-Liebknecht-Straße zum Berliner Dom liefen. Dort trafen sie auf mehrere Tausend Menschen, die vor einer Bühne am Dom auf den Beginn der großen Demonstration am späteren Nachmittag warteten.

Auf der Bühne sang der Folksänger David Rovic, bekannt aus der amerikanischen Friedensbewegung, gegen die Politik seines Landes, danach trat die Band "Hans der Kleingärtner" auf und spielte fröhlichen Reggae. Vor der Bühne saßen die Leute, einige tanzten, das war die friedliche Stimmung, die sich bis zum Ende des Demonstrationszuges am Abend fortsetze. Die afghanische Soziologin Mariam Notten prangerte in ihrer Rede die amerikanische Politik an: "Unsere Städte wurden bombardiert, um Bin Laden und die El-Kaida-Kämpfer zu fassen. Das ist ihnen gelungen, dafür verwüsteten die Bomben unsere Städte, hinterließen tausende Tote und Flüchtlinge."

Im Jugendzentrum "Drugstore" in der Potsdamer Straße trafen sich am späten Abend Teilnehmer der "Antikapitalistischen Aktionstage" zu ihrer zweiten Vollversammlung. Dort ist das Organisationszentrum für die Aktionen der Bush-Gegner. Für heute sind zwei "Reclaim the Streets"-Aktionen angekündigt, um halb eins und abends um halb acht sollen die Straßen erobert werden. Die Treffpunkte werden kurz vorher über Internet und den illegalen Radiosender 95,1 FM mitgeteilt. (BLZ)



Quelle: SZ 23.05.02

Typische Latsch-Demo

Politologe Peter Grottian über die aktuelle Protestkultur

Mehrere zehntausend Menschen demonstrierten am Dienstagabend auf dem Alexanderplatz gegen die Politik des US-Präsidenten George W. Bush. Dabei war auch der Politikwissenschaftler Peter Grottian vom Berliner Otto- Suhr-Institut. Mit ihm sprach Nils Kreimeier.

SZ: Wer geht gegen George W. Bush auf die Straße?

Peter Grottian: Mich hat die sehr unterschiedliche Herkunft der Teilnehmer überrascht. Es war ein buntes Gemisch aus jungen Globalisierungskritikern, Gewerkschaftlern und klassischer PDS-Klientel. Ich habe aber auch viele alte Bekannte aus der Friedensbewegung getroffen. Erstaunlich viele junge Leute waren dabei. Manche Frauen haben sich sogar getraut, ihre Kinder mitzubringen. Obwohl die Gefahr bestand, dass es zu Ausschreitungen kommt.

SZ: Was motiviert diese Menschen zum gemeinsamen Protest?

Grottian: Ich glaube, dass sich der Widerstand vor allem gegen die Arroganz der Macht richtet. Deren Ausmaß ist gewachsen. Die Leute haben das Gefühl, dass sie politisch instrumentalisiert werden, wenn die Bundesregierung mit den Vereinigten Staaten gemeinsam Krieg führt. Es gibt natürlich auch einen ökologischen Protest gegen die US-Regierung, wie wir ihn bei der Debatte um das Kyoto-Protokoll erlebt haben. Entscheidendes Bindeglied ist aber wohl, dass der Krieg als politisches Mittel abgelehnt wird.

SZ: Wodurch unterscheiden sich die neuen Demonstrationen von denen der Friedensbewegung in den 80er Jahren?

Grottian: Das Ganze hatte etwas merkwürdig Unverbindliches. Dazu gehört auch, dass schwer zu sagen ist, wer eigentlich zu den Teilnehmern gehörte und wer nicht. Es gab viele Passanten, die auch irgendwie dabei waren, ohne sich direkt an der Veranstaltung zu beteiligen. Ich würde so etwas als Latsch-Demo bezeichnen. Es herrschte eine sehr gelassene Stimmung und die Gewaltfreiheit wurde geradezu übermäßig betont. Dies stand im Gegensatz zu den doch sehr deutlichen Forderungen.

SZ: Was ist der Grund für diese Unverbindlichkeit?

Grottian: Die verschiedenen Gruppen haben sich noch keine Gedanken über die Form der Auseinandersetzung gemacht. Das Interessante ist ja, dass es offenkundig im bürgerlichen Milieu einen Bedarf an Protest gibt. Aber wie der artikuliert werden soll, ist noch völlig unklar. Man hat sich ja nicht einmal gegen eine Auslegung des Demonstrationsrechts gewehrt, durch die Kritik den eigentlichen Adressaten gar nicht erreicht. Eigentlich müsste sich der Protest zumindest in der Nähe amerikanischer Einrichtungen abspielen.

SZ: Hat das Netzwerk der Globalisierungskritiker von attac nicht eine neue Form der Auseinandersetzung etabliert?

Grottian: Attac hat die Hoffnung mobilisiert, dass es möglich ist, sich in politische Entscheidungsprozesse einzumischen. Aber je enger die Organisation dabei mit den Mächtigen kooperiert, desto stärker gerät sie in die Kritik. Schon jetzt wird ihr häufig zu viel Harmonie vorgeworfen. Auch attac hält sich ja sehr zurück, wenn es um schärfere Protestformen geht.

SZ: Welche Formen könnten das sein?

Grottian: Eine Möglichkeit wäre der Boykott US- amerikanischer Produkte oder Einrichtungen. Eine Blockade auf dem Weg eines anderen Kaufverhaltens oder ziviler Ungehorsam.

SZ: Kann man angesichts der unterschiedlichen Strömungen überhaupt von einer neuen Protestkultur sprechen?

Grottian: Im Moment noch nicht. Solange man sich nicht über die Formen geeinigt hat, fehlt es auch an einer tragfähigen Struktur. Sobald die sich entwickelt hat, könnte der Widerstand tatsächlich eine ganz neue Qualität bekommen. Es gab auch vor den Berliner Demonstrationen Streit über die Form des Protests, so dass sich das Ganze zersplittert hat. Das hat die Widerstandskraft erheblich gemindert.

SZ: Aber die Zeit der angeblichen Politikverdrossenheit ist vorbei?

Grottian: Junge Menschen sind nach wie vor sehr unsicher, ob sie mit ihrem Engagement etwas erreichen können. Daran hat sich nichts geändert. Neu ist die Bereitschaft, wieder etwas auszuprobieren. Wie sich das entwickelt, ist noch völlig offen. Man kann aber nicht sagen, dass es nicht vorangeht.

SZ: Können Sie sich vorstellen, dass es zu einer neuen parlamentarischen Bewegung kommt?

Grottian: Eines scheint mir klar: Die Grünen werden in dieser Entwicklung aufgerieben. Sie stecken zu sehr in der Verantwortung, um noch glaubwürdig zu wirken. Ihre Berliner Kundgebung wurde am Dienstag folgerichtig gesprengt. Die PDS versucht, die Lücke zu füllen, aber es ist mehr als fraglich, ob ihr das gelingen wird. Ich glaube, dass der größte Teil des Protests außerparlamentarisch bleiben wird.

SZ: Bemerken Sie als Hochschullehrer eine neue politische Dynamik an der Universität?

Grottian: Nein, eine echte Debatte findet dort nicht statt. Die Universität hat ihre Bedeutung als Ort der Auseinandersetzung verloren.



Quelle: Offenbacher Post, 23.05.02

Bushs Ankunft in Berlin von Krawallen begleitet

Berlin (dpa) - Begleitet von massiven Protesten ist US-Präsident George W. Bush am Mittwochabend zu seinem ersten Deutschland-Besuch in Berlin eingetroffen. Jugendliche Demonstranten zündeten unweit des Regierungsviertels eine US-Flagge an. Vermummte warfen Flaschen in Richtung Polizei, die entschlossen einschritt. Zeitweise sollen 400 Randalierer an den Ausschreitungen, bei denen auch Flaschen und Steine flogen, beteiligt gewesen sein. Nach Polizeiangaben gab es mehrere Festnahmen.

Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder zeigten sich am Abend entschlossen, die zwischen beiden Regierungen strittigen Themen anzusprechen. Schröder machte keinen Hehl daraus, dass dazu unter anderem der Klimaschutz und die Ablehnung eines internationalen Gerichtshofs durch die USA gehören. US-Außenminister Colin Powell sagte nach der Ankunft auf dem Flughafen Tegel zum Thema Irak, Bush werde auch auf das Problem der Massenvernichtungswaffen hinweisen. Schröder betonte am Abend im ZDF, Waffen dieser Art in den Händen von Iraks Präsident Saddam Hussein seien sehr gefährlich. Möglicherweise verfüge der Irak über solche Waffen.

Schröder hob gleichzeitig hervor, dass es keine militärischen Pläne gebe. Was Deutschland gegebenenfalls tue, werde erst festgelegt, wenn dazu eine Entscheidung getroffen sei. Der Kanzler forderte dazu auf, politischen Druck auszuüben, damit Saddam Hussein internationale Beobachter ins Land lasse. Beide Regierungschefs trafen sich unmittelbar nach der Ankunft Bushs zu einem ersten Meinungsaustausch bei einem Essen in einem Restaurant nahe des Brandenburger Tors.

Zu den strittigen Themen zwischen Bush und Schröder gehört auch das weitere Vorgehen im internationalen Kampf gegen den Terrorismus. Ferner werde die Lage in Afghanistan erörtert sowie die Einbeziehung Russlands in die NATO, sagte Powell. Er lobte die "starke Beziehung zwischen unseren beiden Ländern". Berlin ist die erste Station einer einwöchigen Europareise, die Bush im Anschluss nach Russland, Paris und Rom führt. In Moskau wollen er und Russlands Präsident Wladimir Putin eine Vereinbarung über die weitere Reduzierung strategischer Atomwaffen unterzeichnen.

Der US-Präsident freue sich vor allem auf seine Rede an diesem Donnerstag im Bundestag, sagte Powell. Vor den Abgeordneten will Bush in einer Grundsatzrede die amerikanischen Vorstellungen über die Bekämpfung des Terrorismus skizzieren. Zuvor wird er von Bundespräsident Johannes Rau mit militärischen Ehren im Schloss Bellevue empfangen.

Zu den Demonstrationen hatten neben Kriegs- und Globalisierungsgegnern auch Grüne und PDS aufgerufen. Schröder forderte die Demonstranten erneut zu gewaltfreien Protesten auf. Die USA hätten in Zeiten des Kalten Krieges mit dafür gesorgt, dass damals Demonstrationen überhaupt möglich waren. Der Grüne Außenminister Joschka Fischer kritisierte die antiamerikanischen Proteste. Es sei die US-Regierung gewesen, die eine Abrüstungsvereinbarung erreicht habe, "und nicht die deutsche Friedensbewegung".

Das Regierungsviertel wurde von der Polizei vollständig abgeriegelt. Rund 10.000 Polizisten sind in der Stadt im Einsatz. Experten befürchten Krawalle aus der linksextremen Szene. Es herrscht während des Präsidenten-Besuchs Sicherheitsstufe 1. Auch in anderen Städten hatten Demonstranten mit "Bush-Trommeln" gegen die US-Politik protestiert.

In der rot-grünen Koalition wurden unterdessen die Warnungen vor einer Militärintervention der Amerikaner im Irak lauter. SPD- Fraktionschef Peter Struck will Bush bei dem Gespräch mit den Fraktionsspitzen am Donnerstag vor einem Militäreinsatz gegen Bagdad warnen. Grünen-Chefin Claudia Roth sagte der "Welt" (Donnerstag), die USA könnten im Fall einer Irak-Intervention nicht mit Unterstützung der Bundesregierung rechnen. Schröder sagte dazu: "Was Claudia Roth sagt, muss man nicht immer ernst nehmen."



Quelle: junge Welt, 23.05.02

"Der größte Terrorist der Welt"

Zeitung wegen Beleidigung des US-Präsidenten beschlagnahmt

Harald Neuber

Offenbar wegen "beleidigenden Inhalts" ihrer Zeitung geriet die Organisation "Linksruck" während der Großdemonstration gegen die US-Außenpolitik am Dienstag in Berlin ins Visier der Staatsanwaltschaft. Zehn Mitglieder seien von Polizeibeamten "aus der Demonstration gezogen worden", weil sie Zeitungen verkauften, so die Sprecherin der Gruppe, Christine Buchholz, am Mittwoch gegenüber junge Welt. Personalien seien festgestellt und Zeitungen beschlagnahmt worden.

Anlaß für die Polizeiaktion war der Titel: "George W. Bush - Der größte Terrorist der Welt" prangte darauf in Großbuchstaben neben dem Porträt des US-Präsidenten. Für die Staatsanwaltschaft, die sich zu dem Vorgehen am Mittwoch nicht äußerte, offenbar eine unzulässige Tatsachenbehauptung.

Nicht so für die Betroffenen, die nicht weniger als die US-Gesetze zur Verteidigung heranzogen. Nach deren Definition nämlich sei Terrorismus die "kalkulierte Anwendung oder Androhung von Gewalt, um Ziele zu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös oder ideologisch sind. Das geschieht durch Einschüchterung, Zwang oder die Verbreitung durch Furcht."

Dazu Christine Buchholz: "Genau dies tut die US-Regierung unter Führung von George W. Bush, wenn sie einen Angriffskrieg auf den Irak plant und diejenigen, die sich nicht in seine sogenannte Antiterrorallianz einreihen wollen, droht." Darum werde man von der These nicht abrücken.

Auch Mitglieder anderer Organisationen beklagten sich über ein bisweilen rigides Vorgehen der Sicherheitskräfte. Teilnehmer der Solidaritätsgruppe Cuba sˇ wurden auf dem Weg zu der Demonstration aufgehalten. Über eine halbe Stunde lang hätten Beamte Flugblätter und Transparente geprüft. Nach Bekanntgabe der Polizeiaktion gegen die Linksruck-Publikation erklärten sich die Organisatoren der "Achse des Friedens" am Dienstag abend mit den Betroffenen solidarisch. Für Linksruck eine Bestätigung, denn, so Buchholz, "wir verwahren uns gegen eine Kriminalisierung der Friedensbewegung".



Quelle: taz, 23.05.02

Was uns Bushs Besuch bedeutet

Schlimmer hätte es nicht losgehen können. Eyck Loos ruft an, er klingt besorgt: "Es gibt ein Problem mit dem Bush-Besuch." Das Problem ist sein Zeh. Er hat beim Fußball in die Erde getreten. Jetzt wackelt ein Nagel und mit ihm wanken alle Pläne. Er sagt: "Als Invalide auf einer Demo mit so vielen Bullen, da haste doch schon verloren."

Der Verlierer zieht einen Fuß leicht nach, als er den Treffpunkt erreicht, von dem aus es losgeht zum Bush-Protest: die "Völkerfreundschaft" am Prenzlauer Berg. Der 33-jährige wohnt gleich über der Kneipe, arbeitet im Hinterhof für einen Mountainbike-Versand. Um die Ecke am Kollwitzplatz hat einst Clinton mit dem Kanzler getafelt. Nervig fand Eyck Loos diese erste Begegnung mit einem US-Staatschef. Der Weg zur Wohnung seiner Freundin war blockiert.

"Der Bush", sagt der Ostberliner mit dem dicken Ring im Ohr, "ist aber noch eine ganz andere Kragenweite." Eyck Loos misst mächtige Menschen gern an ihrer Kragenweite. Ein ungewöhnliches Maß für einen gelernten Steinmetz, der sich "eher dem anarchistischen Spektrum zuordnet" und der Jeans und T-Shirt trägt. Auf Eyck Loos weltweiter Kragenweiten-Skala steht George W. Bush auf Platz eins. "Der macht unsere Welt kaputt. Der hat sein Volk auf einen totalen Krieg eingeschworen. Dessen Armee kann jederzeit irgendwo hinfliegen und einen Krieg anfangen. Der hat nur Macht, Geld, globale Märkte und schwindende Ressourcen im Kopf. Der soll wissen, dass er hier nicht willkommen ist."

Eigentlich träumte auch Eyck Loos vor Jahren von Amerika. Damals gab es die DDR noch und die Ostberliner Produktionsgenossenschaft Handwerk lehrte ihn, wie man Steine zurechtmeißelt. Amerika, das ist der böse, imperialistische Aggressor, hatte der Staatsbürgerkunde-Lehrer gepredigt. Amerika, das ist ein Land, wo jeder frei reden und reich werden kann, hat sich Eyck Loos gedacht. Abhauen wollte er in dieses Land. Heute ist das anders. Heute erzählt er von seinen früheren Ansichten wie von einer Jugendliebe, für die man sich Jahre später ein bisschen schämt: "Das war", sagt er, "krass der Pubertät geschuldet." Knapp 15 Jahre später findet er, dass nicht alles so idiotisch war, was die DDR-Propaganda über die USA verbreitete.

Nicht, dass Eyck Loos die DDR vermissen würde. Im Wendeherbst hat er tolle Leute kennen gelernt, hat bei Bärbel Bohley geklingelt, ihr seine Solidarität erklärt, hat sich von Sicherheitsleuten den Kopf aufs Pflaster des Alexanderplatzes drücken lassen, hat so lange vor der Gethsemanekirche ausgeharrt, bis er aufs Klo musste. Und als Honni weg war, blieben andere Probleme: Rüstungsexporte, NPD-Aufmärsche, Kriege. Proteste gehören jetzt zu Eycks Loos Leben wie Fahrräder. Der Bush-Besuch, sagt er, ist "ein Höhepunkt, wo man hingeht".

So humpelt er schließlich mit wackelndem Zehennagel von der "Völkerfreundschaft" zur ersten Demo am Alexanderplatz. Die Sonne strahlt, die Leute trommeln, tanzen, futtern Brezeln. "Wie auf dem Jahrmarkt", sagt Eyck Loos. Vor Polizisten muss hier keiner wegrennen. Praktisch eigentlich, aber er macht ein gelangweiltes Gesicht. Das kann nicht der Höhepunkt gewesen sein. Er wird wiederkommen, wenn Bush selbst da ist.

ASTRID GEISLER

Es sollen jetzt doch ein paar mehr Studenten werden, zwanzig, nicht nur fünfzehn, wie angekündigt. Auch kein Problem. Haben ja alle ihre Iso-Matten dabei und Schlafsäcke. Annette Richter steht neben ihrem gebrauchten Post-VW und erklärt einem der Übernachtungsgäste nochmal den Weg zu ihrem Haus in Tegel. Sie hat ihren Wagen gleich hinter der Bühne geparkt, die die Bush-Kritiker von der "Achse des Friedens" auf dem Berliner Alexanderplatz aufgebaut haben. Eigentlich, so war es ausgemacht, sollte ihr Auto als Rückzugsraum für interne Besprechungen dienen. Aber jetzt tagen die Wichtigen dieser Demo lieber im abgesperrten Backstage-Bereich, wo nur solche von den Ordnern durchgelassen werden, die sich mit einem roten Button ausweisen können. Frau Richter hat keinen solchen Button.

Seit 1981 engagiert sich die 49-Jährige in der Friedensbewegung. Damals ist sie aus Sorge vor einem drohenden Atomkrieg mit skandinavischen Frauen nach Paris marschiert. Seither hat die frühere Postbeamtin keine Möglichkeit ausgelassen, für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren. War auf dem Weltfriedenskongress in Kopenhagen. Hat mit Freunden das "Deutsch-Japanische Friedensforum" gegründet, Briefe gegen Atomtests in Nevada geschrieben, im Berliner "Anti-Kriegs-Museum" gearbeitet.

Richters Friedenswille ist mütterlicher Instinkt: "Man muss etwas für die Menschen tun, vor allem für die Zukunft der Kinder." Und so fragt sie sich auch diesmal: "Wer hat die Weisheit? Die Macht, das Geld? Oder die Menschen?" Die Macht und das Geld - damit meint sie die Rüstungsindustrie. Die globale.

Annette Richter ist nicht gegen Amerika. 1994 war sie für vier Wochen in New York. Am liebsten wäre sie gleich ganz dort geblieben. In der amerikanischen Friedensbewegung hat sie Freunde. Die Aktivistin Josie Stein hat sogar mal bei ihr übernachtet, als sie Deutschland besuchte. Und als Jesse Jackson, ehemals Präsidentschaftskandidat, da war - "das war toll". Der Gegner, das ist die Rüstungsindustrie, gerade auch die europäische: "Ich sehe die Gefahr, dass es auch mal zum Krieg kommt mit den USA, wenn Europa stark genug ist."

Sie hat Angst vor Gewalt. Als beim Reagan-Besuch ein Geschäft am Nollendorfplatz brannte, war ihr mulmig. "Das kann man so nicht regeln. Ich war nie so aggressiv", sagt sie, aber sie sagt auch: "Die Autonomen darf man nicht hängen lassen. Man muss auch bereit sein, sich mit radikalen Gedanken auseinander zu setzen. Die Macht ist auch radikal." Schon gar nicht will sie sich Gewaltbereitschaft unterstellen lassen von Menschen, "die mich nicht kennen".

Warum müssen es immer dieselben Leute sein, die auf der Bühne sprechen dürfen? Annette Richter hat vorgeschlagen, dass da doch auch mal ganz normale Leute aus der Bevölkerung sprechen sollen, aber ihr Vorschlag ist abgelehnt worden. Auf der Bühne werden gerade die Teilnehmerzahlen verkündet, und dass "wir immer mehr werden". Richter hört nicht hin. Ein alter Mann im Rollstuhl will die Straße überqueren, kommt aber nicht rüber, weil das Pressezelt der "Achse des Friedens" den Übergang verstellt. "Soll ich meinen Wagen wegfahren?", fragt Annette Richter.

STEFAN KUZMANY

Die Welt von Jutta Petenati ist in zwei Felder aufgeteilt. Aus einer Polstergarnitur heraus kann sie das erklären, im Sitzen bei Kaffee und Keksen, so kinderleicht ist diese Aufteilung. Es gibt Recht und Unrecht, die gute Vergangenheit und die schlimme. Dazwischen gibt es Verwischungen, das weiß man nach 73 Jahren Leben. Aber dass die gute Welt seinerzeit nicht in die böse gekippt ist, das haben wir den Amerikanern zu verdanken. "Wir hätten ja nie überlebt, wenn es die nicht gegeben hätte." Jutta Petenati klopft mit ihren Ringen auf den Couchtisch, sie war Grundschullehrerin vor der Rente.

"Diese Hilfe dürfen wir nie vergessen", meint sie. Wegen der eigenen Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone, der Luftbrücke, der Care-Pakete und allem - wegen dieser historischen Schuld wird Jutta Petenati immer für die Amerikaner sein. Auch wenn der jetzige Präsident einem vielleicht weniger sympathisch ist als sein Vater. Oder noch besser Kennedy, zu dessen Rede sie hingerannt ist, damals, 1963 vor dem Schöneberger Rathaus, "weil es einfach sein musste, als Mensch, der für die Freiheit ist". Zeitungsartikel von damals liegen auf dem Tisch.

Von den Amerikanern hat Petenati damals die Demokratie gelernt, 1947 im Nachbarschaftsheim in Westberlin. Dass alle eine Stimme haben und nicht nur einer von oben bestimmt. "Wir konnten das ja nicht." Im Nachbarschaftsheim hat sie auch ihren Mann gefunden. Square-Dance-Schritte haben die Amerikaner ihnen beigebracht an heiteren Abenden und wie man Halloween feiert. Und zu Weihnachten hatten sie mehrmals einen US-Soldaten zu Besuch. Das war schön. Petenati guckt auf die Schwarzweißfotos im Album. Auf einigen ist ihr Mann abgebildet, der inzwischen an Krebs gestorben ist. Nachmittagssonne bricht durch die Gardine, draußen ist Mai.

Wenn es ärgerlich wird, fängt Jutta Petenati an schneller zu reden. Damit genug Sprache reinpasst in die Zeit, die trotzdem zu knapp scheint, um die Aufregung in genügend haspelnde Sätze zu pressen, die Wut über Berlins Regierenden Bürgermeister Wowereit. Der Bürgermeister, der fast nach Australien "abgedampft" wäre, dann, wenn der amerikanische Präsident kommt.

Fast hätte Gysi, "dieser Wolf im Schafspelz", als Stellvertreter Bush die Hand schütteln müssen. "Nein, um Gottes willen! Da dreht sich die Welt wirklich um!" Sie lacht theatralisch. Gerade ist sie ausgetreten aus ihrem SPD-Kreisverband, nach über 20 Jahren. Wegen der Regierungskoalition der Partei mit der PDS in Berlin, die "immer noch Stalinisten und marxistische Kader" beherberge. Und jetzt rufen die Sozialisten zu Demonstrationen beim Bush-Besuch auf. "Das ist so furchtbar! Man muss doch die Form wahren, wenn der amerikanische Präsident kommt." Sie will auf keinen Fall, dass Steine fliegen, dass das Böse über das Gute fällt.

Heute wird Jutta Petentati durch den Fernseher zum Brandenburger Tor schauen, dahin, wo George W. Bush stehen wird. "Hoffentlich passiert nichts Schlimmes." Sie stemmt sich aus der Polstergarnitur und zieht die Schultern nach oben, die Stimme klingt fast flehend jetzt.

KIRSTEN KÜPPERS

taz Nr. 6755 vom 23.5.2002, Seite 5, 97 Zeilen (Portrait), ASTRID GEISLER / STEFAN KUZMANY / KIRSTEN KÜPPERS



Quelle: Berliner Zeitung, 23.05.02

"Ja, ich will" - aber nicht George W. Bush

Iris Brennberger

Die wohl fröhlichste Anti-Bush-Demonstration begann mit einem Kuss vorm Standesamt Prenzlauer Berg. Nic Nagel, Filmemacherin aus Lindau, und Serge Castro, Tontechniker aus Kalifornien, inszenierten am Mittwoch ihre Eheschließung als Protest gegen die Politik des US-Präsidenten. "Wir sind nicht gegen die USA", sagte die 29 Jahre alte Braut und umarmte ihren amerikanischen Ehemann vor den laufenden Fernsehkameras. "Aber es kann nicht sein, dass ein einziger Mann bestimmt, was auf der Welt abgeht."

"Eine Hochzeit ist doch besser als Steine zu werfen", sagte der 28-jährige Bräutigam. Er sei wütend auf die Politik seiner Regierung. Sie sei paranoid und aggressiv. Nic Nagel ist im Anti-Globalisierungsnetzwerk Attac aktiv. Das Paar hatte den Hochzeitstermin extra verschoben, um am Tag des Bush-Besuchs zu heiraten. Wie die rund 40 Festgäste, darunter viele junge Leute aus der Filmbranche, freute es sich auf den zweiten Teil der Hochzeit: ein Picknick bei der Anti-Bush-Demonstration in Mitte. Nur die Brautmutter war wenig begeistert. "Ich teile die politischen Ansichten meiner Tochter nicht", sagte sie. Aber sollte sie deshalb nicht zur Hochzeit kommen? Immerhin: Die Trauung selbst verlief wie jede andere. Die Standesbeamtin erwähnte die Politik mit keinem Wort, erläuterte Formalitäten und fragte, ob einer den anderen ehelichen wollte. Nach zehn Minuten war alles vorbei.

Vor und nach der Zeremonie wurde das Paar von Kameraleuten umlagert. Nic Nagel und Serge Castro genossen den Rummel. Die Braut hatte sich eine weiße Kunststoff-Robe schneidern lassen, die in großen Wellen um die Hüften abstand. Statt eines Brautstraußes hielt sie einen Brokkoli in der Hand, den sie den Umstehenden zuwarf. Ihr Mann kam als Cowboy - mit einem schwarzen Hut, schwarzer Lederhose und schwarzem Sakko. Darunter trug er ein weißes Netzhemd, das bis zum Nabel geöffnet war.

Mit einem "Narrenschiff" - einem Boot auf Rädern, das von einem Lastwagen gezogen wird - brach die Festgesellschaft später tanzend und singend nach Mitte auf. Unterwegs wurde das Gefährt jedoch von der Polizei gestoppt. Erst nach eineinhalb Stunden sei alles klar gewesen, sagt Alex Kießlich, einer der Gäste. "Die Polizei habe die Feier schließlich als "künstlerische Performance" akzeptiert und die Festgesellschaft bis zum Demo-Picknick am Berliner Dom begleitet.



Quelle: FR, 23.05.02

Es grünt so grün zum Bush-Besuch

In Berlin herrscht Sicherheitsstufe 1 / Mehrere tausend Menschen demonstrieren erneut friedlich gegen US-Politik

Von Pitt von Bebenburg und Rainer Jung (Berlin)

Ausnahmezustand in Berlin: George W. Bush war noch in weiter Ferne, als die Mitte der Hauptstadt bereits lahm gelegt war. Ein bisher in der Hauptstadt unbekanntes Ausmaß an Absperrungen und Polizeikontrollen sorgte dafür. Gegner der US-Politik demonstrierten erneut und kündigten für den heutigen Donnerstag Straßenblockaden an.

Grün dominierte auf der Straße Unter den Linden. Polizeifahrzeuge und Beamte, wohin man am Mittwoch blickte. Bundesgrenzschützer orientierten sich mit Hilfe von Stadtplänen: 4000 der aufgebotenen 10 000 Polizisten waren von anderen Orten nach Berlin verlegt worden, mehrere hundert US-Sicherheitsbeamte kommen noch dazu. Vor dem Hotel Adlon am Brandenburger Tor, wo US-Präsident George W. Bush für eine Nacht absteigen sollte, war die Präsenz besonders massiv. Gegenüber, im Bistro "Theodor Tucher", wo Bush am Mittwochabend mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit speisen sollte, saßen die Touristen beim Milchkaffee in der Sonne.

Wer im Regierungsviertel zu tun hatte, musste sich mehrfache Kontrollen gefallen lassen. Rucksäcke wurden durchsucht, Autofahrer mussten die Kofferräume öffnen. Am heutigen Donnerstag, wenn Bush im Bundestag spricht, werden die Vorkehrungen noch strenger sein. Bundestags-Mitarbeiter in den benachbarten Gebäuden dürfen ihre Fenster nicht mehr öffnen, die Polizei hat die Kanaldeckel im gesamten Viertel versiegelt, und die S-Bahn hält mehrere Stunden lang nicht mehr an der Station "Unter den Linden".

Autonome haben Protest-Aktionen unter dem Motto "Reclaim the streets" ("Holt Euch die Straßen zurück") angekündigt. Doch bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe waren alle Demonstrationen friedlich geblieben. Vor dem Berliner Dom sammelten sich die Menschen zu politischem Theater, "Bush-Trommeln" und zu einer Abschlusskundgebung mit dem Berliner Politologen Elmar Altvater.

Die meisten Demonstranten waren schon am Vortag auf der Straße gewesen, bei der bundesweiten Kundgebung mit mehreren zehntausend Teilnehmern. Zum Beispiel die Frau aus Tübingen, deren erste Widerstandsnacht wirklich hart wurde: Mit einigen Bekannten hatte sie in einer Turnhalle übernachtet, und dummerweise hatten nicht alle an einen Schlafsack gedacht. "Ist natürlich eigene Doofheit. Aber ein paar Decken hätten sie uns trotzdem hinlegen können", klagte die Protesttouristin über vermeintliche Organisationsdefizite der Berliner Szene. Ihr Begleiter, ein Mittvierziger mit Rauschebart und Palästinensertuch, nickt dazu.

Das Frühstück im "Köpi" am Morgen danach fiel reichlich aus. Die freundliche Thekenmannschaft des autonomen Zentrums in Kreuzberg hatte fleißig Baguettes belegt. Am Abend zuvor hatte die "Volxküche" hier mehr als hundert Demonstrantenmägen gefüllt.

Ab und zu schaute einer im Internet nach den aktualisierten Anti-Bush-Terminen: Am Nachmittag gibt es neben der Kundgebung am Dom zwei weitere Demonstrationen und eine "Willkommens-Blockade-Manifestation". Die Veranstalter baten "um angemessene Kleidung (möglichst fein)" und darum, "USA-Banner und ähnliche Symbole unserer Solidarität" mitzubringen.

Die Großdemonstration am Dienstag war auch deshalb so friedlich verlaufen, weil zwischen linken Kleingruppen und dem "schwarzem Block" Tausende standen, die, zumindest in Berlin, zum politischen Mainstream zählen: Ältere Damen und Herren aus dem PDS-Umfeld, gesetzte Alt-Alternative mit ihren kleinen Kindern und zahlreiche unauffällige Jugendliche, die mit Nike-Turnschuhen an den Füßen und einem Milchshake in der Hand gegen Krieg, Ungerechtigkeit oder "den amerikanischen Imperialismus" auf die Straße gingen.

Zwei nennenswerte Störaktionen gab es am Dienstag. Erst stürmten junge Leute die Kundgebung der Grünen und bezeichneten sie als "Verräter".

Dann rannten etwa 60 Nachwuchsautonome dem Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Frank Steffel hinterher. Polizisten und Ordner hatten die Situation sofort wieder unter Kontrolle, Deeskalationsbeamte standen hernach noch eine halbe Stunde mit Jugendlichen zusammen. Straßenbesetzungen wurden von den autonomen Protestierern dagegen erst für den heutigen Donnerstag angesetzt. Eilig kopierte Flugblätter warben darum, der Berliner Mitte mit Kochtöpfen und Löffeln zu einem Lärm-Erlebnis … la Buenos Aires zu verhelfen, wenn Bush im Reichstag spricht.



Quelle: SZ, 23.05.02

Birnbaum und das Fanta-Attentat

Friedensbewegter US-Professor: Grüne sollten kritischer sein

Grüne Spitzenpolitiker haben es nicht leicht mit ihren militanten Gegnern: Nachdem Außenminister Fischer vor drei Jahren auf einem Parteitag Farbbeutel um die Ohren flogen, bekam jetzt die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth eine Limonaden-Dusche ab. Zu dem Übergriff, der als "Fanta- Anschlag" in die Geschichte der politischen Attentate eingehen wird, kam es am Dienstag bei einer Parteikundgebung in Berlin-Mitte. Die richtete sich "nicht gegen Bush", fand aber dennoch "anlässlich seines Besuchs" statt, wie Roth erklärte. Diese grüne Spagat-Veranstaltung aber schien einigen Gegendemonstranten so stark zu missfallen, dass sie plötzlich die Bühne stürmten. Die Störer wurden von der Polizei eingefangen und die Kundgebung abgebrochen.

Zu dem Übergriff kam es, als der friedensbewegte US- Geschichtsprofessor Norman Birnbaum gerade zu seiner Gastrede ansetzte. Dabei war der Auftritt Birnbaums als versöhnliche Geste der Grünen gegenüber radikalen Kritikern der Bush-Regierung zu verstehen. Mit dem 75-jährigen Emeritus der Georgetown University hatte sich die Regierungspartei kurzfristig eine der intellektuellen Galionsfiguren der Globalisierungsgegner für ihre Demo gesichert. Birnbaum selbst zeigte sich von der Fanta-Attacke und dem Übergriff verstört. "In der gespannten Atmosphäre, die derzeit in Berlin herrscht, lassen sich die Schwachen - ich meine die Geistesschwachen - schnell zu solch aggressiven Aktionen verleiten", sagte er. Aus amerikanischer Warte empfindet er es ein bisschen wie die Ironie der Geschichte, wenn eine Friedenskundgebung der deutschen Grünen gewaltsam durch die Polizei geschützt werden muss.

Erst auf einer improvisierten Pressekonferenz konnte Birnbaum seine Message an die deutschen Linken rüberbringen. Und die lautet: "Die kritischen Europäer sind im Widerstand gegen Bushs Kriegspolitik nicht allein." Auch in den USA selbst werde der Unmut über Bushs unilateralistische Haltung stärker. Der rot-grünen Regierung empfahl Birnbaum, sich im Wahlkampf bewusst von der seiner Meinung nach "völlig unkritischen Haltung" Edmund Stoibers gegenüber Bush abzusetzen. "Ich bin auch ziemlich sicher, dass der Bundeskanzler hinter vorgehaltener Hand sein Wort von der uneingeschränkten Solidarität mit den USA längst bereut", so Birnbaum zur SZ.

Zur Teilnahme an einer der vielen anderen Friedensdemonstrationen blieb Norman Birnbaum keine Zeit mehr - er musste gleich weiter zu seinem nächsten Auftritt ins spanische Salamanca. Eine Erkenntnis hat der Sozialwissenschaftler bei seinem Kurztrip nach Berlin dennoch mitgenommen: "Die linke Protestkultur in Deutschland ist sehr heterogen - wie eh und je. "



Quelle: spiegel-online, 23.05.02

Bush in Berlin

"Die sind total gaga"

Von Holger Kulick

Nach einer gewaltfreien Demonstration von rund 20.000 Teilnehmern gegen die Politik von US-Präsident George W. Bush kam es am späten Mittwochabend in Berlin zu Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten. Mit Wasserwerfern trieb die Polizei Teilnehmer auseinander. 44 Polizisten wurden verletzt, 50 Demonstranten festgenommen.

Berlin - "Die sind total gaga", schimpfte der Berliner Parlamentarier Volker Ratzmann. Ein Polizist mit Dienstnummer 7036 hatte sich lautstark mit dem justizpolitischen Sprecher von Berlins Grünen angelegt, weil er und seine Begleiterin, die ehemalige Kultursenatorin Berlins, Adrienne Goehler, seinen Platzverweis nicht ernst nahmen. "Sie sind zwar Legislative, ich aber Exekutive!", wetterte der Beamte, deshalb bestimme er, welche Bewegungsfreiheit hier herrsche.

Die vielsagende Szene spielte gegen Mitternacht neben dem Deutschen Dom in Berlin, rund einen Kilometer östlich vom Brandenburger Tor, wo zu dieser Zeit US-Präsident Bush seine Suite im Luxushotel Adlon bezog. Zuvor hatte er in Begleitung von Bundeskanzler Gerhard Schröder unter anderem einen Apfelstrudel als Imbiss im Café Tucher am Brandenburger Tor eingenommen, hundert weitere Gäste hatte die amerikanische Botschaft ausgewählt.

Was sich zeitgleich am Berliner Lustgarten abspielte, bekam der Staatsgast allerdings nicht mit - das groteske Geschehen spielte sich außerhalb jeder Sicht- und Hörweite vom Brandenburger Tor ab. Dort war gegen 21 Uhr eine friedliche Demonstration von 20.000 Teilnehmern zu Ende gegangen, die gegen jedwede Kriegspolitik protestierten, zum Teil mit Spaß-Parolen wie "Oh Herr, lass Brezeln regnen" oder "Wir wollen unseren Präsidenten Bill Clinton wiederhaben".

Nur ein kleiner schwarzer Block

Unter den Demonstranten befand sich allerdings ein (polizeigezählt) 150-köpfiger schwarzer Block, der kurzzeitig versuchte, die lückenlose Polizeiabsperrung Richtung Unter den Linden zu durchbrechen. Als dies scheiterte, zündeten einzelne Demonstranten eine US-Fahne an und warfen mit Steinen und Flaschen. Polizeieinheiten versuchten wiederum einiger Straftäter habhaft zu werden und gingen ihrerseits rigoros vor. Dabei wurde auch ein SPIEGEL-TV-Journalist an der Schläfe blutig geschlagen. Um einer weiteren Eskalation vorzubeugen, erklärten die Organisatoren ihre Demonstration vorsorglich für beendet, obwohl sie bis Mitternacht den Platz angemeldet hatten.

Nun entwickelte sich ein Happening mit zeitweise dadaistischem Charakter. Die anwesenden Demonstranten wanderten nur allmählich ab. Die meisten ließen sich auf den Stufen des Berliner Doms nieder, tanzten unter den Kolonnaden des benachbarten Berliner Antikenmuseums oder ruhten sich auf der Grünfläche des Berliner Lustgartens aus. Einige duschten splitternackt in einem Springbrunnen oder wippten auf der Straße zu Trommlerklängen einer Aktion "Bush-Trommeln für den Frieden".

Erweiterte Bannmeile auch für Journalisten

Dazwischen wanderten Träger einer überdimensionalen Friedenstaube hin und her, ein mit Masken von Saddam Hussein, Osama Bin Laden und George W. Bush verkleidetes Trio sang "Ein Freund, ein guter Freund...", und die Polizeieinheiten begaben sich gruppenweise in das Getümmel, um über Gewalt zu diskutieren. Sogar La-Ola-Wellen wurden von den Demonstranten um sie herum getanzt. Obendrein offerierten Eisverkäufer zwischen den Fronten frisches Speiseeis, von Krawall wie noch am ersten Mai war also kaum eine Spur. Das Polizeikonzept schien dabei aufzugehen, das Bush-kritische Potenzial an diesen Ort zu binden, damit keinerlei Durchbruch Richtung Brandenburger Tor erfolgt. Selbst Journalisten mit Sonderakkreditierungen duften die Polizeiabsperrungen Richtung Westen nicht passieren. Presse-Bewegungsfreiheit gab es also nicht.

Die Polizei hatte schon seit dem Nachmittag die Touristenmeile Unter den Linden ab der Friedrichstraße gesperrt und eine in diesem Ausmaß noch nie vorhandene Sperrzone eingerichtet. Diese Sonder-Bannmeile wird aufrechterhalten, bis US-Präsident Bush heute Nachmittag nach Moskau weiterreist. "Ein Sperrbezirk wie unter Honecker", meckerten schon gestern Nachmittag die Anwohner, die nicht auf die Rigorosität dieser Absperrungen vorbereitet worden waren.

Wenig nachvollziehbarer Polizeieinsatz

Vor dem Dom griff die Polizei dann gegen 23.20 Uhr überraschend hart durch. Nach den letzten Livebildern der Tagesthemen von der Demonstration riss der Polizeiführung offenbar der Geduldsfaden, und per Lautsprecher wurde dazu aufgefordert, das Gebiet umgehend in Richtung Alexanderplatz zu verlassen, da die Anwesenden "eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit" begehen würden. Genauer wurde dieser Vorhalt aber nicht präzisiert, denn selbst der anwesende Pressebeamte der Polizei bescheinigte den verbliebenen Demonstranten ein "ausgesprochen friedliches Verhalten". Die Gegend um den Dom ist unbewohnt, Anwohner stört Lärm hier nicht, und die Straßen waren sowieso für den Verkehr gesperrt. Dennoch kam schließlich besagter Wasserwerfereinsatz in Gang, um die Menschen erst Richtung Alexanderplatz und von dort aus immer weiter in den Prenzlauer Berg und den Bezirk Friedrichshain zu treiben, gänzlich außerhalb jeder Hörweite des Hotels Adlon, wo Präsident Bush vermutlich schon schlief.

Misslicher Ausklang

Danach warfen wütende Demonstranten auch Schaufensterscheiben in einem Kaufhaus am Alexanderplatz, bei Burger King und einigen anderen Geschäften ein. Mehrere von ihnen nahm die Polizei vorläufig fest. Ansonsten verlor sich die Menge im Dunkeln. Am Rande des Alexanderplatzes blieb ein junger polnischer Trompeter zurück, der sich an vergleichbare Jagdszenen erinnerte, die er auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Genua miterlebt hatte. Während die Martinshörner der Polizei in der Ferne immer leiser klangen, trompetete er Melodien aus einem jugoslawischen Antikriegsfilm in die Nacht.



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