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 Der Kaukasus

Kaukasuskonflikte in der Identitätsfalle

Anna Lübbe

Anwar el Sadat wird zur Konfliktlage zwischen Ägypten und Israel in den siebziger Jahren der Kommentar zugeschrieben, die psychologische Hürde mache 70 % des Problems aus. Am Beispiel des Konflikts zwischen Georgien und Abchasien sei gezeigt, wie Großgruppen in eine Opferidentitätsfalle geraten können. Es gibt aber auch Ansätze zur Mobilisierung solcher Blockaden.

Die südkaukasischen Sezessionskonflikte um Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach haben sich bisher als verhandlungs- und mediationsresistent erwiesen. Trotz zahlreicher Vermittlungsbemühungen unterschiedlicher Akteure sind die Ressourcen seit zwanzig Jahren in Kontrolle und Kampf gebunden, statt für nachhaltige Entwicklungen und fruchtbare regionale Kooperationen zur Verfügung zu stehen. Begünstigende Faktoren für eine Eskalation von Großgruppenkonflikten entlang ethnischer Grenzlinien scheinen unter anderem eine schwache gesamtstaatliche Integrationskraft, oft bei Staatenbildung auf tribalistischer Grundlage, zu sein, ferner eine Destabilisierung durch eine politische Übergangssituation, sowie eine ethnopolitisierende Propaganda durch Großgruppenführer (Kaufman 2001). Mit der Ethnopolitisierung bekommt der Konflikt für die Parteien einen existentiellen, ihre Identität betreffenden Charakter.



Die georgisch-abchasische Blockade

Georgien und Abchasien können den Übergang von ihren unvereinbaren Positionen in der Statusfrage (Georgien: Abchasien ist und bleibt ein Teil Georgiens; Abchasien: Abchasien gehört nicht und wird nie wieder zu Georgien gehören) zur eine größere Vielfalt von Optionen eröffnenden Ebene der Bedürfnisse nicht vollziehen, weil sich dies in der ihre Politiken dominierenden Wahrnehmung als Selbstaufgabe darstellt. Das ist ein Grund für die festgefahrene Situation. Dass Vermittler in der 1st track-Diplomatie [Diplomatie auf Regierungsebene, d.Red.] regelmäßig alles andere als neutral sind, vielmehr die Verhandlungen mit eigenen, teils gegenläufigen Interessen belasten - im Kaukasus hegemoniale und Energieinteressen Russlands und des Westens -, kommt hinzu. Wie erklärt sich, dass die Parteien derart auf die Statusfrage fixiert sind?

Mit Gründung der Sowjetunion erhielt Abchasien gleichen Status wie Georgien als Sozialistische Sowjetrepublik. Der weitere Verlauf stellt sich aus abchasischer Sicht als eine Geschichte zunehmender georgischer Dominierung dar. 1931 wurde Abchasien zur autonomen Republik innerhalb der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien degradiert. Abchasiens Bedürfnis nach ethnischer Eigenständigkeit wurde unter Stalin grausam unterbunden. Damit wiederholten sich traumatische Erfahrungen aus dem Zarenreich, als nach brutal unterdrückten Aufständen Tausende Abchasen ins Exil fliehen mussten. Die postsowjetische Propaganda der Georgier ("Georgien den Georgiern") weckte abchasische Retraumatisierungsängste. Das Aufgeben der Position "Unabhängigkeit von Georgien" fällt in der die abchasische Politik dominierenden Wahrnehmung zusammen mit dem Ende einer eigenständigen abchasischen Identität (Kaufman 2001). Durch seine sezessionistischen Bestrebungen triggert Abchasien den georgischen Ethnonationalismus.

Die aktuell wirksamen Ängste der Georgier richten sich gegen Russland und wurzeln im Geschichtsbild der georgischen Ethnie: Viele Male in seiner Geschichte hat Georgien seine Unabhängigkeit an in der Region konkurrierende Großmächte verloren; Georgien nimmt sich insoweit als Spielball wahr. In der Opferperspektive sind die ethnischen Minderheiten von außen implantierte Minen, die Georgien fragmentieren sollen, sobald es sich als unabhängiger Staat zu behaupten sucht (Kaufman 2001). Die postsowjetische Entwicklung scheint das zu bestätigen: Kaum hat Georgien seine Eigenstaatlichkeit wiedergewonnen und möchte seine Freiheit für eine Annäherung an den Westen nutzen, unterstützt Russland den Separatismus georgischer Gebiete. Durch sein Abwehrhandeln, also seinen Ethnonationalismus und seine einseitige Orientierung nach Westen, trägt auch Georgien zur Realisierung seiner Opfererwartungen bei.

Das Beispiel zeigt, wie sich Großgruppen kollusiv in eine reale existentielle Bedrohungslage hinein manövrieren können, wenn im Geschichtsbild der jeweiligen Ethnie wurzelnde Empfindlichkeiten getriggert werden. In ethnopolitisierten Zeiten kommt es zu einer Überlagerung mit im Narrativ der Gruppe als Traumakapitel verbuchten Erfahrungen (Volkan 2004). Durch diese Verknüpfung erscheinen bestimmte Positionen als existentiell unverzichtbar und ihre Aufgabe als Selbstaufgabe. Wenn sich in einem Konflikt zwei Parteien mit erstens unvereinbaren und zweitens derart existentiell belegten Positionen treffen, ist der mediationstypische Übergang zur ergebnisoffeneren Ebene der Bedürfnisse und des kooperativen Suchens nach kreativen Lösungen blockiert: Die Beteiligten stecken in der Opferidentitätsfalle (Lübbe 2011).



Psychopolitische Lösungsansätze

Die Opferidentitätsfalle wird hier nicht als die Ursache für den Konflikt oder für seine Hartnäckigkeit angesehen. Solche verfestigten Konfliktsysteme sind durch zahlreiche, sich gegenseitig stabilisierende Faktoren und Subsysteme gekennzeichnet. Will man den komplexen Interdependenzen gerecht werden, muss vielfältig angesetzt und geduldig der Boden für stabile Veränderungen bereitet werden. Versuche einer tiefer gehenden Beziehungsarbeit in konflikthaften Großgruppenbeziehungen finden in der Regel in Form von Dialogprojekten statt (Ropers 2004).

Als Beispiel für die Bewältigung der Folgen kollektiv traumatischer Vergangenheit auf der grassroot-Ebene seien Dan Bar On`s (2008) story telling-Projekte genannt. Bar On brachte Nachkommen von Holocaust-Opfern und -Tätern zusammen, und um die Verbindung zu heutigen politischen Folgen herzustellen, nahm er später Palästinenser mit dazu. Auf der Meso-Ebene wandte Vamik Volkan (2004) sein Drei-Stufen-Konzept der psychoanalytischen Arbeit mit Großgruppen unter anderem auf Konflikte zwischen Esten und Russen in Estland an. Mit interdisziplinären Teams bemühte er sich um eine Identifizierung der im Konflikt unbewusst wirksamen kollektiven Traumata und daraus resultierenden zentralen Ängste der Parteien.

Eine politische Transferwirkung erzielter Einstellungsänderungen ließe sich am ehesten auf der Makroebene erzielen, also in Projekten mit politischen Entscheidungsträgern. Diese sind allerdings für jegliche Art von Arbeit, die nicht strategisch, sondern dialogisch orientiert ist, typischerweise unerreichbar. "Dialogisch" bezeichnet eine suchende Haltung, die offen ist für eine Veränderung von Zielen im Lauf der Auseinandersetzung. Ein Ansatz, der dies zu berücksichtigen versucht, ist die informelle Diplomatie (Kelman 2009; Fisher 2005). Dabei wird versucht, festgefahrene Sichtweisen und Haltungen über informelle Workshops unter Beteiligung von Personen in Bewegung zu bringen, die der Makro-Ebene nahe stehen. Diese Personen werden dann darin unterstützt, gewonnene Einsichten an geeigneter Stelle in die Makropolitik einfließen zu lassen. Gegenüber offiziellen diplomatischen Begegnungen ist in informellen Workshops eine Beziehungsarbeit, die den grundlegenden Ängsten und Bedürfnissen der Konfliktparteien gerecht zu werden versucht, eher möglich. Ansätze dazu gibt es, und gab es auch im Kaukasus, im abchasischen Fall etwa der Stadtschlaining-Prozess (Wolleh 2006). Für dergleichen muss sich aber im Kaukasus nach der Eskalation vom August 2008 erst wieder ein Gelegenheitsfenster öffnen.

Solange die Makroebene für dialogische Ansätze nicht erreichbar ist, bietet sich weiter die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen MultiplikatorInnen an: Medienleute, Menschen aus Bildungswesen, Kunst und Wissenschaft, religiöse Autoritäten, Angehörige von Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen etc. In Gebieten mit chronifizierten Großgruppenkonflikten, die durch schwache oder autoritäre Staatlichkeit, Ethnisierung, Gewaltökonomien und multiple soziale Probleme gekennzeichnet sind, liegt viel Transformationspotential in zivilgesellschaftlichen Kräften, die in der Gesellschaft meinungs- und einstellungsbildend wirken können (Kaufmann 2007). Marco de Carvalho und Jörgen Klußmann (2010) haben in Afghanistan großgruppenkonfliktbezogene Klärungsanliegen dieser Zielgruppe systemisch bearbeitet. Wesentlich ist dabei, dass Problemlösungen mit den Betroffenen aus dem System selbst heraus entwickelt werden, nur dann sind sie hinreichend kultursensibel und werden als eigen empfunden. Innersystemisch angeregte Veränderungsprozesse sind chancenreicher als Versuche, ein Konfliktsystem nach Maßgabe von auf externen Analysen beruhenden, mitgebrachten Konzepten instruktiv verändern zu wollen (Lübbe 2007).



Literatur

Bar On (2008), The "Others" Within Us: Constructing Jewish-Israeli Identity

de Carvalho/Klußmann/Rahman (2010), Konfliktbearbeitung in Afghanistan. Die Systemische Konflikttransformation im praktischen Einsatz bei einem Großgruppenkonflikt

Fisher (ed.) (2005), Paving the Way. Contributions of Interactive Conflict Resolution to Peacemaking

Kaufman (2001), Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War

Kaufmann (2007), Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Bearbeitung von Konflikten im Südkaukasus. In: Klein, Ansgar/Roth, Silke (Hg.), NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik, 299-312

Kelman (2009), Interactive Conflict Resolution by the Scholar-Practitioner, Zeitschrift für Konfliktmanagement, 74-78

Lübbe (2007), Ethnopolitische Konflikte: Das Potenzial der Systemaufstellungsmethode. Zeitschrift für Konfliktmanagement, 12-16

dies. (2011), Der georgisch-abchasische Konflikt in der Opferidentitätenfalle, Wissenschaft & Frieden (i.E.)

Ropers (2004), From Resolution to Transformation: The Role of Dialogue Projects. In: Austin et al. (eds.), Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook, 225-269

Volkan, Vamik (2004), Das Baum-Modell. In: Geißler, Peter (Hg.), Mediation - Theorie und Praxis. Neue Beiträge zur Konfliktregelung, 69-96

Wolleh, Oliver (2006), A Difficult Encounter - The Informal Georgian-Abchazian Dialogue Process. Berghof Report No. 12



Anna Lübbe ist Juristin, Mediatorin und systemische Beraterin. Als Professorin an der Hochschule Fulda lehrt und forscht sie mit den Schwerpunkten Öffentliches Recht und Konfliktforschung. Sie supervidiert MediatorInnen und führt den systemischen Beratungsansatz auch in die politische Friedensarbeit ein. Sie hat als Beraterin am Straßburg-Prozess teilgenommen, einem von der INGO-Konferenz des Europarates getragenen Dialog zwischen zivilgesellschaftlichen Institutionen der von der Kaukasuskrise betroffenen Regionen.



E-Mail: anna (Punkt) luebbe (at) sk (Punkt) hs-fulda (Punkt) de
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