Buchbesprechung

“Du brauchst dich wegen meiner Hinrichtung nicht zu schämen …”

von Christine Schweitzer
Buchrezension
Buchrezension

Wer sich mit Ziviler Konfliktbearbeitung beschäftigt, weiß, dass es eine der – ebenso wichtigen wie schwierigen - Aufgaben nach einem Krieg oder dem Sturz einer Diktatur ist, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten. „Dealing with the past“ – Umgang mit der Vergangenheit - ist der Begriff dafür, und wir haben das Thema auch in vergangenen Ausgaben des Friedensforums ausführlicher behandelt. (1) Dass dies nicht nur eine Herausforderung für ferne Gesellschaften ist, sondern auch in mehrfacher Hinsicht (2) ein deutsches Thema, sollte bekannt sein. Der Pazifist und Historiker Ralf Buchterkirchen hat sich in einer neuen Publikation mit einem besonders heiklen Kapitel deutscher Geschichte beschäftigt: den Todesurteilen der NS-Militärjustiz wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und „Kriegsverrat“.

Wie heikel die Frage ist, zeigt sich daran, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bis dieses Unrecht von einer deutschen Bundesregierung als solches anerkannt wurde. Erst 2009 rehabilitierte der Bundestag auch wegen „Kriegsverrats“ Verurteilte, nachdem wenige Jahre zuvor schon Verurteilungen wegen Desertion und Wehrkraftzersetzung für nichtig erklärt worden waren. In den ersten zehn oder zwanzig Jahren nach 1945 war es überlebenden Opfern oder Hinterbliebenen von Ermordeten, die eine Anerkennung suchten, in der BRD fast unmöglich, ihre Ansprüche durchzusetzen. Desertion, Wehrkraftzersetzung und Verrat galten auch in der Nachkriegszeit als verurteilenswert, außer man konnte eindeutig nachweisen, dass der Betroffene aus einer politischen Ablehnung des Nationalsozialismus heraus gehandelt hatte. „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“, meinte z.B. der ehemalige Militärrichter und spätere baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger zu den Todesurteilen, die er und seine Richterkollegen (3) verhängt hatten. Und wie Filbinger schafften es viele der Richter wieder in deutsche Nachkriegs-Amtsstuben. Auch in der DDR tat man sich nicht leicht mit der Anerkennung; lediglich politisch Verfolgte wurden durchweg anerkannt.

Ralf Buchterkirchen hat sich mit gerichtlicher Verfolgung und Todesurteilen, die entweder in Hannover vollstreckt wurden oder deren Opfer aus Hannover kamen, beschäftigt. Buchterkirchen baut dabei auf seinem 2011 erschienenen Buch "... und wenn sie mich an die Wand stellen": Desertion, Wehrkraftzersetzung und "Kriegsverrat" von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945 auf. Die neu erschienene 100-seitige reich bebilderte Broschüre im A4-Format beginnt mit einer Einführung unter der Überschrift „Desertion und Manneszucht“. Hier hebt der Autor hervor, wie sehr die damalige

Vorstellung von dem, was einen „wahren Mann“ ausmacht, das Bild von Soldaten prägte, und welche Verachtung die meisten Bürger*innen Männern entgegenbrachten, die nicht in den Krieg ziehen wollten oder sich dem militärischen Drill widersetzten.

Nach dieser Einleitung folgt ein Kapitel über die Rolle Hannovers als wichtiger Militär- und Rüstungsstandort. Viele der Einrichtungen bestehen bis heute fort.

Kernstück der Publikation sind fünf höchst unterschiedliche Biografien, die aus Akten und aus bei Nachkommen der Getöteten befindlichen Briefen sowie Interviews mit diesen Nachkommen zusammengestellt wurden. Buchterkirchen ist bei seiner Auswahl der Biografien wichtig zu zeigen, dass die Verurteilten aus ganz unterschiedlichen Motiven gehandelt haben. Politische Ablehnung des Nationalsozialismus oder eine pazifistische Gesinnung gab es, aber spielten vielleicht sogar nur in einer Minderzahl der Fälle eine Rolle. Viele von ihnen waren mehr durch Unvorsichtigkeit (etwa eine gegenüber Kameraden gemachte Aussage, dass der Krieg verloren sei) oder auch völlig unpolitisches unangepasstes Verhalten in die Mühlen der Justiz geraten. Bei vielen ist die Sachlage auch nicht mehr völlig zu klären.

Im Anschluss an die Biografien beschreibt Buchterkirchen die eingangs schon angesprochene Nichtaufarbeitung nach dem Krieg und die späte Rehabilitation der Opfer der Todesurteile. „Umgang mit Gedenken in Hannover“ und eine Liste von 71 Namen der in Hannover auf dem Gelände einer heutigen Feldjägerschule erschossenen oder aus Hannover stammenden anderenorts Hingerichteten folgt, bevor in einem letzten Abschnitt Unterrichtsmaterial für die Schule vorgeschlagen wird.

Das Heft ist keineswegs nur für Leser*innen interessant, die aus dem Raum Hannover stammen. Die meisten Informationen sind verallgemeinerbar, und die unter die Haut gehenden Schicksale der fünf Hingerichteten stehen für die anderen geschätzt 20.000 Männer, die wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung oder „Kriegsverrat“ getötet wurden. (3) Die persönlichen Schicksale dieser Männer bringen der*dem Leser*in die Grausamkeit der Militärjustiz eindringlich nahe und wecken gleichzeitig den Wunsch, über all die Opfer mehr zu wissen oder bei sich vor Ort ähnliche Forschungen anzustellen. Lediglich das angehängte Material für den Schulunterricht müsste für den Unterricht an anderen Orten adaptiert werden.

Anmerkungen
1 Zum Beispiel in Heft 1/2018 zu „Erinnerungskultur“.
2 Mit „mehrfacher Hinsicht“ meine ich den Ersten Weltkrieg, die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, die DDR, aber auch vieles, was besonders in den ersten Jahrzehnten der BRD falsch gelaufen ist. Mit den Menschenrechtsverletzungen Deutschlands heute – Stichworte sind Umgang mit Geflüchteten, die Tolerierung von Atomwaffen und gezielten Tötungen durch US-Drohnen, das blinde Auge gegenüber rechtsextremer Gewalt u.a.m. – werden sich auch zukünftige Generationen noch mit beschäftigen müssen.
3 Es scheint sich ausschließlich um männliche Richter gehandelt zu haben, weshalb dieser Begriff, genau wie das Wort  „Soldat“, nicht gegendert wurde.
4 Es sind etwa 30.000 Todesurteile bekannt, von denen zwei Drittel vollstreckt wurden.

Ralf Buchterkirchen (2020): “Du brauchst dich wegen meiner Hinrichtung nicht zu schämen …”: Ungehorsame Soldaten in Hannover 1933-1945, Neustadt a. Rübenberge: Verlag des Arbeitskreises Regionalgeschichte, 100 S., ISBN 978-3930726349, 13,90 € (https://ak-regionalgeschichte.de/ralf-buchterkirchen-und-wenn-sie-mich-a...)   

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Hintergrund
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.