Komitee für Grundrechte
und Demokratie



Kritik des Strafrechts und Gefangenenhilfe


 voriger

Kritik des Strafrechts und Gefangenenhilfe

 Dokumente / frühere Stellungnahmen

Manifest

Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die Zurückdrängung der zeitigen Freiheitsstrafen

Auf dem Wege zu gewaltfreien Konfliktlösungen

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat seit 1989 die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht. Im Mai 1993 führte es eine erste öffentliche Anhörung "Lebenslange Freiheitsstrafe: Ihr geltendes Konzept, ihre Praxis, ihre Begründung" durch. In der Folge erweiterte es den Schwerpunkt um das Problem der zeitigen Freiheitsstrafe und veranstaltete vom 4.-6. März 1994 die zweite öffentliche Anhörung "Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe". Das folgende Manifest des Komitees wurde am Ende der zweiten Anhörung vorgestellt.

"Man tötet nicht mehr unmittelbar den Körper, sondern man tötet - langsam aber sicher - den Geist, die Seele, den Willen, die Liebe, die Freude und die Moral. Und die unsichtbaren Waffen dafür sind Unterdrückung, Streß, Demütigung, Deprivation, Hospitalisation, Desozialisierung, Entmutigung und Hoffnungslosigkeit. Und diese Waffen sind wirksam nicht dann und wann, sondern dauernd und unablässig, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde - und dies Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr bis hin zum Tode, nunmehr auch dem körperlichen Tod, ohne jede Hoffnung auf Besserung. Der Gefangene lebt, doch es ist nur noch ein Leben zur Strafe.

Der Gefangene lebt, doch nur noch, um sein Leben lang als Strafobjekt, als Objekt der Übelzufügung zu dienen." (Günther Adler)

Vorrede

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist 1949 ein menschenrechtlicher Durchbruch gelungen. Der Artikel 102 GG lautet lapidar: Die Todesstrafe ist abgeschafft.

An die Stelle der Todesstrafe ist die lebenslange Freiheitsstrafe getreten. Dieselbe muß zwingend verhängt werden, wenn der Tatbestand des  211 StGB (Strafgesetzbuch) gemäß erkennendem Gericht gegeben ist. Dort heißt es im ersten Absatz: Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

Das ist ein Widerspruch. Der menschenrechtliche Gewinn, den die Abschaffung der Todesstrafe bedeutete, wird durch einen unscheinbaren" Ersatz in erheblichem Umfang zunichte gemacht.

Die lebenslange Freiheitsstrafe erlaubt der bundesrepublikanischen Gesellschaft, ihrem Staat und ihren rechtsfindenden Instanzen, an der absoluten Strafe festzuhalten. Das ist inhuman. Ein Mensch mit dem Anspruch auf die Unverletzlichkeit seiner Würde und seiner Integrität, ein Bürger oder eine Bürgerin wie Du und ich, wird ein Leben lang bestraft. Ihm wird die Freiheit, das höchste Gut des Menschen, die Lebensluft, die ihn erst menschlich werden läßt, abspenstig gemacht. Das ist eine Strafe, die zu verhängen keiner menschlichen Instanz ansteht. Kein Vergehen berechtigt dazu, einen Menschen bei lebendigem Leibe zu begraben.

Gesellschaft, Gerichte, Staat, wir alle suchen verschiedene Ausflüchte, um mit dieser menschenrechtswidrigen, mit dieser menschenfeindlichen Strafe fahrlässig und unachtsam zu leben. So über das Strafen überhaupt nachgedacht wird, beruhigt sich das schlafende Gewissen mit Ausreden:



Die lebenslange Freiheitsstrafe dauere doch meist "nur" 15 Jahre.



Die lebenslange Freiheitsstrafe sei erforderlich, um Täter von neuen Untaten abzuschrecken.



Im Namen der Opfer und ihrer Angehörigen seien lebenslange Freiheitsstrafen vonnöten.



Die lebenslange Freiheitsstrafe diene doch "nur" einem etwas in die Länge gezogenen Prozeß der gesellschaftlichen Wiedereingliederung.


Mit diesen und anderen Beschwichtigungsformeln belügen wir uns und andere. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist menschenrechtswidrig. Ohne Wenn und Aber. Sie nützt nichts und niemandem. Sie schadet nur. Sie schadet vor allem einer demokratischen Gesellschaft jenseits von Gewalt und Strafe. Sie befördert also genau die Untaten, zu deren Vermeidung sie angeblich beitragen soll. Sie schadet uns allen - von den zu lebenslänglich Verurteilten ganz zu schweigen.

Wer in der Bundesrepublik Deutschland vom demokratischen Rechtsstaat redet, muß auch von der lebenslangen Freiheitsstrafe sprechen. Sonst sollte er oder sie schweigen. Er oder sie muß sich dagegen wenden. Der demokratische Rechtsstaat der Bundesrepublik fault von seinem Kern her, solange Strafen wie die lebenslange Freiheitsstrafe an erster Stelle als Ausdruck seines Rechts verstanden, praktiziert und legitimiert werden. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist gesetzliches Unrecht schlimmsten Maßes.

1. Konzept und Praxis der lebenslangen Freiheitsstrafe

Die von verschiedenen Seiten immer wieder vorgetragenen schwerwiegenden menschenrechtlichen Bedenken und Einwände haben dazu geführt, daß sich das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren mehrfach mit der lebenslangen Freiheitsstrafe befaßte. In seiner Entscheidung von 1977 hat das Bundesverfassungsgericht behauptet, die lebenslange Freiheitsstrafe sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Allerdings traf das Verfassungsgericht diese Feststellung, indem es voraussetzte, daß der "moderne" Strafvollzug irreparablen Persönlichkeitsschäden bei den Gefangenen entgegenwirke. Den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, so das Gericht, müsse eine grundsätzliche Chance verbleiben, wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Diese Bedingungensollten durch den im Strafvollzugsgesetz festgeschriebenen Resozialisierungsauftrag und den 1982 eingeführten  57a Strafgesetzbuch (StGB) erfüllt werden.  57a bestimmt, daß bei Vorliegen einer günstigen Prognose und der Einwilligung des Gefangenen eine bedingte Entlassung von Lebenslänglichen nach frühestens 15 Jahren Haft erfolgt. Es sei denn, daß "die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet".

In der Praxis findet eine "automatische" Entlassung nach 15 Jahren verbüßter Haft nicht statt:

Aufgrund prognostizierter Gefährlichkeit oder einer als besonders schwer eingestuften Schuld kann die lebenslange Freiheitsstrafe nach wie vor jahrzehntelang bis zum Tod der Gefangenen vollstreckt werden. Etwa jeder sechste "Lebenslängliche" wird "tot entlassen". Die durchschnittliche Verbüßungsdauer beträgt mehr als 20 Jahre. Es gibt Fälle, in denen mehr als 30, sogar mehr als 40 Jahre verbüßt werden. Fortschritte gegenüber den früheren Verbüßungszeiten im Begnadigungsverfahren gibt es nicht.

Die Einführung des  57a StGB hat die Zahl der Verurteilungen erhöht. Auch wird restriktiver entlassen. Ein Vergleich der Verurteilungsquoten vor und nach Inkrafttreten des  57a StGB belegt diese Verschlimmerungen. So lag im Zeitraum zwischen 1982 und 1989 die durchschnittliche Verurteilungsquote um 24% höher als zwischen 1977 und 1981, obwohl die Zahl der polizeilich erfaßten Tatverdächtigen, denen ein vollendetes Tötungsdelikt vorgeworfen wurde, um 8% sank. Am 31. März 1991 saßen 1177 zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte in bundesdeutschen Gefängnissen ein (alte Bundesländer). Offenbar ist mit der Einführung der gesetzlichen Aussetzung des Rests der Strafe auch die Hemmschwelle der Strafgerichte gesunken, zu lebenslanger Strafe zu verurteilen. Seitdem das Verfassungsgericht 1983 die Verbüßung bis zum Tode wegen besonderer Schwere der Schuld in Einzelfällen für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärte, um "die lebenslange Strafe nicht zu entwerten", bürgerte sich bei den Vollstreckungsgerichten eine wesentlich restriktivere Entlassungspraxis ein. So gab es vor dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts 61, nach ihr nur noch 37 Aussetzungen des Rests der Strafe im Jahresdurchschnitt.

1992 hat das Verfassungsgericht entschieden, daß die Strafvollstreckungsgerichte die der Schuldschwere angemessene Verbüßungsdauer festzulegen hätten. Dennoch sind nach wie vor Verbüßungen bis zum Tode möglich. So setzte im Dezember 1993 ein bundesdeutsches Strafvollstreckungsgericht für einen 1960 verurteilten "Lebenslänglichen", der wegen einer schweren Nierenerkrankung eine Lebenserwartung von höchstens fünf Jahren hatte, die schuldangemessene Verbüßungsdauer auf 50 Jahre fest. Das ist bis jetzt die höchste Verbüßungsdauer.

Gemeinsam ist fast allen zu lebenslanger Haft Verurteilten, daß sie auf der Grundlage des  211 StGB verurteilt wurden. Dieser Paragraph stellt ein Relikt der nationalsozialistischen Gesetzgebung dar, die damals noch die Todesstrafe androhte, um den Täter "auszumerzen". Der  211 StGB lautet:

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.

Der  211 StGB fällt aus der Systematik des Strafrechts heraus: Zum einen wird den Gerichten kein Spielraum bei der Strafzumessung gelassen. Wird eines der Merkmale, die den "Mörder"definieren, als gegeben angesehen, ist eine Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe obligatorisch. Zum anderen werden keine objektiven Tatbestandsmerkmale definiert, wie dies strafrechtlich sonst üblich ist. Vielmehr wird die Täterpersönlichkeit mit Merkmalen etikettiert. Die vom Gericht erkannte "mörderische" Gesinnung ist ausschlaggebend dafür, ob eine Tat als Mord mit lebenslanger Strafe oder als Totschlag mit einer Strafe von 5 bis 15 Jahren geahndet wird. Die in  211 StGB vorgegebene Logik führt zur Konstruktion einer "Mörderpersönlichkeit". Mit ihr werden die Beschuldigten im Strafverfahren identifiziert und als Personen moralisch ausgelöscht. Die angeklagte, der Tat überführte Person wird als "Unmensch" stigmatisiert. Dieses Stigma wird in den Medien verbreitet. Die Täter werden von nun an nicht mehr als Menschen behandelt, die einen oder gar mehrere Menschen getötet haben. Sie tragen das Kains-Mal des Mörders, das als ihr Wesen gerichtlich festgelegt worden ist. Ihr ganzer Daseinsinhalt scheint nur noch auf Töten ausgerichtet. Während der Haft haben sie ständig zu beweisen, daß sie nicht die "Monster" sind, zu denen sie durch die Verurteilung abgestempelt wurden.

Gemeinsam leiden alle zu lebenslanger Haft Verurteilten unter der Ungewißheit, wann und ob sie jemals entlassen werden. Ihre Lebensplanung wird für mindestens 15 Jahre dem Ermessen von Vollzugsbeamten und Strafvollstreckungsrichtern unterworfen. Ein fester, rechts- und verhaltenssicherer Vollzugsplan, der darauf angelegt wäre, die Inhaftierten später in der Gesellschaft zurechtkommen zu lassen, kann schon aufgrund der Dauer der Strafe nicht zustande kommen. Lang andauernde Haft macht es nötig, Überlebensstrategien zu erlernen, die den Bedingungen der totalen Institution Gefängnis angemessen sind. Die Hoffnung auf ein "Leben in sozialer Verantwortung" verdämmert in ungreifbarer Ferne. Daraus erklärt sich auch der Schock, den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte nach den ersten Wochen und Monaten in Haft erleiden. Sie erkennen, daß sie keine Perspektive mehr haben.

2. Die Argumente des Bundesverfassungsgerichts

Das Verfassungsgericht argumentiert widersprüchlich. In seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe von 1977 interpretierte es die Gutachten, die den Haftschäden bei Langzeitgefangenen galten, zum Nachteil der Gefangenen. Dennoch stellte das Gericht fest, daß die lebenslange Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe die Menschenwürde verletzen und die Persönlichkeit deformieren könne.

In den für die Entscheidung von 1977 eingeholten Gutachten konnte eine abschreckende Wirkung der lebenslangen Freiheitsstrafe auf potentielle Täter nicht festgestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht mußte einräumen, daß "sich verbrechensmindernde Wirkungen aus einer bestimmten Strafandrohung in der Praxis überhaupt nicht meßbar nachweisen lassen".

Das Verfassungsgericht hält seit 1977 dennoch die Verbüßung der lebenslangen Strafe bis zum Tode wegen "fortdauernder Gefährlichkeit" für verfassungsrechtlich vertretbar. Es ignoriert dabei, daß die einschlägige Rückfallquote (bei den wegen Mordes oder Totschlags Verurteilten unter 1,5%) zu den niedrigsten bekannten Rückfallquoten gehört. Eine lebenslange Einsperrung aus Sicherheitsgründen ist nicht zu rechtfertigen.

Das höchste Gericht kam trotz dieses eindeutigen Befundes zu dem Ergebnis, daß die lebenslange Freiheitsstrafe mit dem verfassungsrechtlichen Gebot des sinn- und maßvollen Strafens vereinbar sei. Es unterstellte, daß die Androhung und Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe "für den Rang von Bedeutung ist, den das allgemeine Rechtsbewußtsein dem menschlichen Leben beimißt". Selbst wenn man indes eine solche umstrittene und nicht belegbare Wirkung des Strafrechts annähme, wäre es ausreichend, vorsätzliche Tötungsdelikte mit der gesetzlichen Höchststrafe zu ahnden. Das Verfassungsgericht gibt keinen Grund dafür an, warum dies die lebenslange Freiheitsstrafe sein muß. Es widerspricht sich vielmehr selbst. An anderer Stelle führt es aus, daß um des Bestandes der Rechtsordnung willen der Täter nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten "Wert- und Achtungsanspruchs" gemacht werden dürfe.

In seiner Entscheidung von 1992 setzte sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem auseinander, daß nicht die Schwurgerichte die Schwere der Schuld festlegen durften. Erst viele Jahre nach der Verurteilung nahmen die für die Verbüßung zuständigen Strafvollstreckungsgerichte eine Schuldgewichtung vor. Sie legten entsprechende Verbüßungsdauern fest. Das Bundesverfassungsgericht kam zu der Entscheidung, daß das zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilende Gericht die Schuld gewichten und damit eine Vorgabe für die voraussichtliche Vollstreckungsdauer machen müsse - ohne diese allerdings in Jahren zu bemessen. Wie lange ein zu lebenslanger Haft Verurteilter seine Schuld abbüßen muß, wird weiterhin erst nach vielen Jahren vom zuständigen Vollstreckungsgericht festgelegt.

Mit der Entscheidung von 1992 hat das Bundesverfassungsgericht zwar definitiv festgestellt, daß auch bei als Mord gewerteten Tötungsdelikten die Schuld "gemessen" und in eine zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann.Es hat aber den Schwurgerichten verweigert, in eigener Zuständigkeit und wie bei allen anderen Tatbeständen üblich, eine zeitige Strafe auszusprechen. Bei der Verurteilung wegen Mordes bleibt die lebenslange Freiheitsstrafe obligatorisch.

Trotz verfassungsrechtlicher Bedenken ermöglicht das Bundesverfassungsgericht weiter die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Tode, wenn dies aufgrund der besonderen Schwere der Schuld oder aufgrund einer ungünstigen Gefährlichkeitsprognose geboten erscheint. Andererseits schwächte das Verfassungsgericht seine Auffassung ab, die lebenslange Strafe sei mit der Menschenwürde vereinbar. Es bemerkte schon 1977, was der "Würde des Menschen entspricht", könne nur auf dem jetzigen Stand der Erkenntnis beruhen und keinen "Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben". Der Stand der Erkenntnis ist heute freilich ein anderer, als ihn das Verfassungsgericht noch zugrunde legt.

Die lebenslange Freiheitsstrafe ist begründetermaßen nur noch ein Fossil aus der Frühzeit des bürgerlichen Staates. So erstaunt es auch nicht, daß der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Mahrenholz, sich im Januar 1994 dafür ausgesprochen hat, die lebenslange Freiheitsstrafe zugunsten einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren abzuschaffen. Er begründete diesen Vorschlag damit, daß eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe ehrlicher, humaner und angesichts des aufwendigen Entlassungsverfahrens bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten auch sehr viel kostengünstiger sei.

3. Die lebenslange Freiheitsstrafe verstößt gegen Grund- und Menschenrechte

Das Grundgesetz garantiert die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist unantastbar. Soweit Einschränkungen der übrigen Grundrechte vorgenommen werden, dürfen diese nur aufgrund von Gesetzen erfolgen. Der Wesensgehalt der Grundrechte darf auf keinen Fall angetastet werden. Ausdrücklich verboten sind die körperliche und seelische Mißhandlung von Gefangenen sowie die mehrfache Bestrafung für dieselbe Tat.

Mit der Würde des Menschenist es deshalb nicht vereinbar, Menschen nach dem "Mörder"paragraphen 211 StGB zu verurteilen. Er entbehrt aller Kriterien, die von einer strafrechtlichen Norm zu fordern sind: Klarheit, Eindeutigkeit, Angemessenheit, grundrechtliche Konformität. Er stellt keine objektiven Kriterien bereit, die den Unrechtsgehalt der Tat erfassen ließen.

Er gibt stattdessen menschenverachtende, weit auslegbare Interpretationen von Gesinnungen und Motiven vor, die Mord und Totschlag nur willkürlich voneinander abgrenzen lassen. Wer aufgrund des  211 StGB wegen Mordes verurteilt wird, wird zur abnormen Mörderpersönlichkeit abgestempelt.

Der Mensch ist physisch und psychisch darauf angewiesen, in einer vielfältigen Wirklichkeit zu leben. Nur im ständigen Austausch mit anderen Personen, nur wenn er frei ist, so oder anders zu handeln, kann er sich erfahren, bestätigen, in Frage stellen und entwickeln. Die zeitige, aber erst recht die lebenslange Gefängnisstrafe greift in Grundrechte tief ein, ja schneidet sie ab. Das Gefängnis ist eine künstliche soziale Welt. Diese "Welt" besteht aus Zellen und Sicherheitsvorkehrungen. Das Gefängnis reduziert den alltäglichen Umgang auf die Zwangsgemeinschaft der Gefangenen und das mit der Strafvollstreckung und Überwachung beauftragte Personal. Die totale Institution Haftanstalt ist asozial. Sie ist darauf angelegt, "normale" psychische Bedürfnisse und "normales" Verhalten zu zerstören. In dieser Institution können keine Erfahrungen mit den Anforderungen eines eigenverantwortlichen Lebens nach der Entlassung gemacht werden.

Die Gefangenen können zu den im Strafvollzug beschäftigten Bediensteten, Sozialarbeitern oder Psychologen kaum Vertrauen gewinnen. Denn sie unterstehen ihrer Kontrolle. Sie sind ihren Entscheidungen ausgeliefert. Sie müssen damit rechnen, daß alles, was sie ihnen anvertrauen, gegen sie verwendet werden kann, z.B. in Stellungnahmen und Gutachten, die die Entscheidung über den Termin ihrer Entlassung beeinflussen.

Das Zusammensein mit Angehörigen wird auf wenige Stunden Besuch im Monat reduziert. Es unterliegt verschiedenen Formen von Überwachung. Die Gefangenen leiden wie ihre Lebenspartner/innen unter dem Entzug von Intimität und Zärtlichkeit. Die Angehörigen von Gefangenen fallen meistens materieller Not und sozialer Diskriminierung anheim oder sind von ihnen bedroht. Sie sind mitbestraft. Sie leiden unter der Abwesenheit und dem Eingesperrtsein der ihnen nahestehenden Gefangenen. Unter diesen Belastungen zerbrechen viele Ehen und Freundschaften. Damit wird für viele Langzeitgefangene die letzte Verbindung zur Außenwelt zerstört.

Das Strafvollzugsgesetz regelt mit einer Fülle von weit auslegbaren Kann-Bestimmungen, wie mit den existentiellen Bedürfnissen der Gefangenen verfahren wird. Aufgrund des steilen Machtgefälles zwischen den Gefangenen und den Bediensteten wird unvermeidlich willkürlich entschieden. Die mögliche (Nicht-)Gewährung von längeren Besuchen, von Ausgang und Urlaub aus der Haftanstalt wird dazu mißbraucht, die Gefangenen zusätzlich zu disziplinieren.

Die Ungewißheit des Entlassungszeitpunktes (nach der Hälfte,Zweidritteln oder voller Verbüßung der Strafe, bei den Lebenslänglichen nach 15 Jahren, später oder nie) und ihre außergewöhnliche Abhängigkeit vom Wohlwollen der Vollzugsbehörde setzt die Gefangenen einem zusätzlichen Anpassungsdruck aus.

"Behandlung" im Strafvollzug erschöpft sich darin, die Gefangenen der Anstaltsordnung und der Zwangsarbeit zu unterwerfen. Die geringe Bezahlung der Zwangsarbeit (etwa DM 120,-- im Monat) entwertet die Arbeit und die Person des Gefangenenzusätzlich. Reformen können zwar die Situation der Gefangenen im einzelnen verbessern, aber die durch die Haft verursachten Schädigungen nicht verhindern. Den grundsätzlich desozialisierenden Charakter des Gefängnisses kann keine Reform aufheben. Alles geschönte Reden von Behandlung" oder Resozialisierung" erscheint zynisch in Anbetracht dessen, daß zwangsbehandelt, desozialisiert und Schaden zugefügt wird.

Lang dauernde Gefängnisstrafen widersprechen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Der Mensch, ummauert, wird zum Gefängnismenschen. Das Gefängnis beschädigt, ja vernichtet psychische, soziale und wirtschaftliche Existenz.

Der vom Bundesverfassungsgericht so hoch angesetzte Wert des menschlichen Lebens erschöpft sich für Langzeitgefangene oft genug darin, ihre physische Existenz zu erhalten. Selbst diese wird erheblich geschädigt.

Die Entlassung der zu lebenslanger Haft Verurteilten hängt zusätzlich von Gutachten über ihre mögliche Gefährlichkeit ab. Die Unzuverlässigkeit solcher Gefährlichkeitsprognosen ist wissenschaftlich erwiesen. Kein noch so kompetenter Experte kann, und verfügte er über die besten Methoden, sein eigenes Verhalten und das anderer Menschen, ohne die künftigen Umstände zu kennen, gesichert" prognostizieren. Die Gutachter, die dies tun oder zu tun angehalten werden, täuschen sich und andere. "Gefährlichkeit" kann einer Person nicht als Eigenschaft ihrer "Natur" zugeschrieben werden. Konkrete Situationen tragen ganz wesentlich dazu bei, ob in der Sozialisation angelegte Möglichkeiten aktualisiert oder verhindert werden.

Der einzelne allein trägt dafür nicht die Verantwortung. Daherwäre es notwendig, daß ehemalige Täter lernen, solche Situationen rechtzeitig zu erkennen und ihnen aus dem Weg zu gehen, oder fähig werden, auf Konfliktsituationen zu reagieren, ohne "auszurasten". Auf dem Altar der Gefährlichkeitsprognose werden also eindeutig Menschenrechte und Menschenwürde, Freiheits- und Persönlichkeitsrechte geopfert. Wissenschaft wird mißbraucht und gerät zur Pseudowissenschaft. Wenn außerdem die Kriterien der Sachverständigen zur Beurteilung der Gefährlichkeit dieselben sind wie die, die das erkennende Gericht seiner Schuld- und Strafzumessung zugrunde gelegt hat, dann verstoßen die Gefährlichkeitsgutachten gegen das im Grundgesetz verankerte Verbot der Mehrfachbestrafung.

Die Beschränkungen und Beschädigungen, die der Strafvollzug den Insassen und ihren Angehörigen zumutet, begründen nicht allein das menschenrechtliche Verdikt über die lebenslange Freiheitsstrafe. Es ist zu prüfen, ob das verfassungsrechtliche Gebot des sinn- und maßvollen Strafens überhaupt mit der Freiheitsstrafe vereinbar ist. Ist die Androhung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen erforderlich, um die Opfer von Straftaten zu rehabilitieren? Ist sie erforderlich zum Schutz der Gesellschaft vor Gewaltverbrechen?

4. Freiheitsstrafe, erst recht die lebenslange Strafe, nützt den Opfern nicht

Für die Opfer, ihre Angehörigen und Hinterbliebenen kommt das Strafrecht immer zu spät. Die Gewalttat ist geschehen und nicht wieder rückgängig zu machen. Langjährige Erfahrungen aus der Arbeit in der Opferhilfe und Befragungen von Opfern und/oder ihren Angehörigen haben ergeben, daß diese vor allen Dingen das Bedürfnis nach körperlicher, seelischer und materieller Rehabilitation haben. Sie wollen in ihrem Leid angenommen und dabei unterstützt werden, über dasselbe hinwegzukommen. Die Vereinsamung im Leiden stellt keine geringe Gefahr dar. Den Opfern und/oder ihren Angehörigen liegt nicht in erster Linie daran, den Täter zu bestrafen, sondern daran, daß er zur Verantwortung gezogen wird. Und es ist ihnen wichtig, daß sich eine solche Tat nicht wiederholt.

Diesen Bedürfnissen wird das Strafverfahren nicht gerecht. Der Strafprozeß ist keinOrt für den Ausdruck von Leid, Schmerz und Verlust. Die primären Bedürfnisse der Opfer, das Leid zu bewältigen und die durch die Tat erfahrene Ohnmacht wieder zu überwinden, werden für die staatlichen Strafzwecke ausgebeutet. Um den menschenrechtlichen Interessen der Opfer und/oder deren Angehörigen gerecht zu werden, muß unabhängig vom Strafverfahren angesetzt werden. Bislang wird im Strafverfahren die traumatische Tat wiederholt. Opfer und ihre Angehörigen werden zum zweiten Male Opfer. Der Strafprozeß sieht für die Opfer und ihre Angehörigen nur die Rollen als Zeugen und Nebenkläger vor. Die polizeiliche Vernehmung verstärkt das Leid. Dem Opfer als Zeugen schlägt aufgrund der Unschuldsvermutung für den Täter zusätzlich Mißtrauen entgegen. Der Beschuldigte hat sich zudem nicht gegenüber dem Opfer und seinen Angehörigen zu verantworten, sondern gegenüber der Staatsgewalt. In dieser Situation macht er in der Regel von seinem Recht Gebrauch, sichzu verteidigen, sich auf jede erdenkliche Art und Weise zu entschuldigen, indem er z.B. die Tat leugnet, dem Opfer die Schuld gibt oder sich auf seine Unzurechnungsfähigkeit beruft. Solche Verteidigungsstrategien verhindern, daß ein Beschuldigter die Verantwortung für seine Tat übernimmt und Möglichkeiten gefunden werden, wie er den Geschädigten Genugtuung leisten könnte. Als einzige Genugtuung bietet das Strafverfahren den Schuldspruch. Wird zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt, ist diese Genugtuung teuer erkauft: Der Verurteilte sitzt selbst dann noch lange Zeit hinter Gittern, wenn für das Opfer und seine Angehörigen das Bedürfnis nach einer strafrechtlich gewährleisteten Sühne längst erschöpft ist.

5. Lebenslange Freiheitsstrafe hat keine präventive Wirkung

Einen Schutz der Bürger/innen vor Straftaten erhofft man sich dadurch, daß die Freiheitsstrafen abschreckend wirken. Verurteilte Täter sollen von weiteren Gesetzesbrüchen abgehalten werden. Potentielle Täter sollen von vornherein abgeschreckt werden. Die Androhung und tatsächliche Vollstreckung von Freiheitsstrafen sollen das Vertrauen in die Rechtsordnung stärken. Die Geltung ihrer Normen soll bekräftigt werden. Strafen sollen also die Rechtstreue" der Bevölkerung positiv beeinflussen.

Ein Mensch, der einer Straftat für schuldig befunden und verurteilt worden ist, kann selbstverständlich durch Inhaftierung daran gehindert werden, außerhalb der Strafanstalt neue Taten zu begehen. Der Preis eines solchen Sicherheitsverschlusses eines Menschen ist jedoch unerträglich hoch. Es wird unterstellt, wer einmal straffällig geworden sei, werde erneut straffällig werden. Nimmt man diese Annahme ernst, dann dürfte einer, der einmal straffällig geworden ist, nie wieder auf freien Fuß gesetzt werden, es sei denn, man nähme an, die Strafanstalt tilge das "Böse im Menschen" und hinterlasse nur noch einen "guten" Menschen. Diese Annahme ist jedoch ebenso haltlos wie die Annahme eines "geborenen" Verbrechers.

An der Äußerung des Anstaltsleiters eines hochgesicherten Gefängnisses läßt sich das Problem der Voraussage konkretisieren. Er meinte, nur ca. 5% "seiner" Gefangenen seien gefährlich.

Man wisse nur nicht, um wen es sich bei diesen 5% handele. 95% der Gefangenen dieser Anstalt bräuchten also eine solche Inhaftierung wegen angeblicher "Gefährlichkeit" nicht.

Auch Prävention, um Rückfälle zu verhindern, kann das Gefängnis nicht leisten. Vielmehr produziert es das Gegenteil von dem, was es vorgibt. Denn es beschneidet gewaltsam die Menschenwürde, die Freiheits- und die Persönlichkeitsrechte. Es macht abhängig, hilflos und führt zur Selbstverachtung. Manche Gefangene haben sich noch einen Rest an Selbstachtung bewahrt und versuchen, auf legalem Wege die erlittenen Demütigungen wettzumachen. Rechtsbeschwerden bleiben aber wegen der vielen "Gummibestimmungen" des Strafvollzugsgesetzes meist ohne Erfolg. Nicht selten lernt der Gefangene gerade hier, daß Machtmißbrauch obsiegt, wenn die Gefängnisbehörden Gerichtsentscheidungen zugunsten des Gefangenen mißachten.

Summa summarum: Durch die Gefängnisstrafe werden eher neue Risiken geschaffen. Der durch lange Inhaftierung Geschädigte wird möglicherweise nach seiner Entlassung die ihm zugefügte Gewalt in die Gesellschaft zurücktragen.

Eine abschreckende Wirkung auf andere potentielle Täter durch lange Freiheitsstrafen, vor allem durch die lebenslange Strafe, ist nicht nachweisbar. Untersuchungen ergaben, daß sowohl eine zu erwartende Freiheitsstrafe als auch deren Höhe in den meisten Fällen nicht abschrecken.

Bei langen und sehr langen Freiheitsstrafen wird überhaupt nicht mehr nach der Strafschwere differenziert. Dagegen werden Entdeckungsrisiko, Strafgewißheit und vor allem informelle Sanktionen aus dem Verwandten- und Freundeskreis als Faktoren genannt, die abschrecken.

Aberselbst diesen Faktoren billigt die einschlägige Forschung nur eine sehr schwache Wirksamkeit zu.

Gerade Tötungsdelikte entstehen in der Regel aus Konfliktsituationen heraus, in denen eine rationale Abwägung möglicher strafrechtlicher Folgen keine Rolle spielt. Der vielfach behauptete positive Effekt der Freiheitsstrafe auf die Rechtstreue der Bevölkerung läßt sich empirisch nicht bestätigen. Neuere Analysen der Wirkungen des Strafrechtssystems kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis: Was immer man mit den Delinquenten tut, hat keinen Einfluß auf Art und Umfang der Kriminalität in der Gesamtgesellschaft.

6. Die tieferen, im Bürger und vor allem im Staat sitzenden Gründe der Freiheitsstrafe

Angesichts der schweren Eingriffe in die Grundrechte, die durch den Vollzug von Freiheitsstrafen vorgenommen werden, ist zu fragen, warum die verantwortlichen Gesetzgeber und Gesetzanwender sich auf Vorurteile und Alltagsvorstellungen über die Wirkung von Strafen berufen, widersprechende Erfahrungen und Forschungsergebnisse aber ignorieren. Welche tieferen Gründe gibt es, am System der Freiheitsstrafen wie an einem Dogma festzuhalten?

Polizei und Strafgerichtsbarkeit sind Einrichtungen des staatlichen Gewaltmonopols, die die Bürger/innen vor Gefahren durch gesetzeswidrige Verhaltensweisen schützen sollen. Tatsächlich wird aber nur ein geringer Bruchteil aller kriminalisierbaren Handlungen erfaßt. Davon wird nur ein wiederum sehrgeringer Bruchteil strafrechtlich geahndet. Das heißt, die Bürger/innen, die tatsächlich mit gesetzeswidrigen Verhaltensweisen konfrontiert werden, versprechen sich in den seltensten Fällen etwas davon, die Instanzen des staatlichen Gewaltmonopols einzuschalten. Gleichzeitig setzen die Bürger/innen ihre ganze Hoffnung auf Strafgesetzgebung und Strafverfolgung, wenn es um ihren Schutz vor Gewaltkriminalität geht. Die Ideologie vom Nutzen staatlichen Strafens wird von den politischen Autoritäten propagiert und durch die Kriminalitätsdarstellung in den Medien immer wieder bestätigt. Kriminalität wird in der Berichterstattung nur als individuelles Problem vermittelt; Möglichkeiten, sie in ihrem sozialen Zusammenhang zu begreifen, werden nicht geboten. Durch die überproportional häufige und oft reißerische Darstellung von Gewaltdelikten wird Kriminalitätsangst erzeugt und gesteigert. Im gleichen Zuge wird als "Heilmittel" propagiert, Kontrollmaßnahmen gegen "Abweichende" anzuwenden.

Mit der Verurteilung der gefaßten Täter wird die Funktionstüchtigkeit des staatlichen Gewaltmonopols exemplarisch demonstriert und legitimiert. Der damit verbundene Ausbau staatlicher Kontrollmacht bedroht die Freiheitsrechte der Bürger/innen, ohne sie vor Gewalt schützen zu können.

Strafurteil und Strafvollzug lassen sich unter diesem Blickwinkel vor allem als rituelle Opferhandlungen verstehen. Die Verurteilten werden dazu benutzt, das staatliche Gewaltmonopol aufzuwerten. Dabei signalisiert die extreme Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe, daß der Staat letztlich ein absolutes Verfügungsrecht über seine Bürger/innen hat. Die Abstempelung als Mörder" erlaubt es, auf diesen alle erdenklich negativen Eigenschaften zu projizieren und ihn zu dämonisieren. Die Allgemeinheit profitiert dabei von der Illusion eigener Vortrefflichkeit.

Die breite Akzeptanz strafrechtlicher Gewalt verweist auf ein hohes Ausmaß von Angst und Bedrohungsgefühlen in der Bevölkerung, aber auch auf tieferliegende Bedürfnisse der Bürger/innen, die durch die Strafjustiz und ihre Darstellung in den Medien befriedigt werden. Für die Strafe heischenden Bürger/innen gilt die vorbewußte Devise: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!" Dieses geheime Motto erklärt den genannten Vorgang der Projektion, die Suche nach dem Sündenbock. Der staatliche Strafanspruch und das Strafurteil aber sind hervorragend geeignet, zum einen von anderen gesellschaftlichen Problemen und deren selbstverschuldeter Nichtlösung abzulenken. Zum anderen lassen sie sich trefflich dazu gebrauchen, die Massen" zu mobilisieren, ohne die ihr angehörenden Bürger/innen ernst zunehmen.

7. Auf dem Weg zu gewaltfreien Konfliktlösungen - Eine Zusammenfassung aus menschenrechtlich-demokratischer Sicht

Zum ersten:

Kein stichhaltiges Argument spricht dafür, die lebenslange Freiheitsstrafe beizubehalten. Alle Gründesprechen gegen sie. Vor allem zeigt die Erfahrung, wie sich die lebenslange Freiheitsstrafe auswirkt: Sie zerstört die Lebenschancen der Täter. Sie bleibt ohne Nutzen für die Opfer und ihre Angehörigen. Sie schützt die Gesellschaft nicht. Sie schreckt andere Täter nicht ab. Sie fußt auf der falschen Annahme, schlimme Taten entsprächen dem Wesen der Täter und seien nicht auf gesellschaftliche Fehler zurückzuführen. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen, die methodisch sauberverfahren, belegen, daß die lebenslange Freiheitsstrafe nur Kosten aller Art erzeugt und keinen Nutzen erbringt. Die Versuche, den Umgang mit Personen, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, wissenschaftlich zu fundieren, sind alle gescheitert und zum Scheitern verurteilt. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler kann das zukünftige Verhalten einer Person beurteilen. Auch nicht der eigenen. Belegt ist allein, daß ein extrem geringer Prozentsatz von Menschen, die andere umgebracht haben, rückfällig wird - und dies meist aus Gründen, die von der lebenslangen Freiheitsstrafe mitbewirkt werden. Dieser Prozentsatz ist geringer als der Anteil derjenigen, die mitten aus der "normalen" Gesellschaft heraus andere gewalttätig bedrohen.

Es bleibt festzuhalten: Nichts spricht für, alles spricht gegen die lebenslange Freiheitsstrafe.

Zum zweiten: Der Mörder"-Paragraph 211 StGB, aufgrund dessen in aller Regel zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wird, widerspricht in Herkunft, Form und Inhalt allen Anforderungen eines demokratischen Rechtsstaats. Er ist verfassungswidrig. Die anders lautenden Karlsruher Urteile sind insofern verfassungssystematisch unzureichend, ja falsch.

Der Paragraph 211 StGB besitzt eine nationalsozialistische Entstehungsurkunde als Führerbefehl (der seinerzeit als Recht" erkannt worden ist). Die Form des tiefbraunen Paragraphen entspricht seinem Entstehungsinteresse. Diese Form istform-, sprich kriterienlos. Sie verlegt den "Tatbestand" in die vom Gericht auszulotende "Gesinnung" des Täters. Deshalb ermöglicht sie eine "unbegrenzte Auslegung". Zugleich wird entgegen dem Eckpfeilerartikel des Grundgesetzes, "Die Würde des Menschen ist unantastbar" (Art. 1 GG), die Würde schon des aufgrund von  211 StGB angeklagten Menschen wesenhaft und dauerhaft verletzt, ja aufgehoben. Der Inhalt des  211 StGB ist nicht nur verfassungswidrig. Er widerspricht jedem selbst vordemokratischen Begriff des Rechtsstaats. Dieser Inhalt ist keine klare Feststellung darüber, daß dann, wenn bestimmte, präzise beschriebene Taten begangen werden, entsprechende Straffolgen zu gewärtigen sind. Der Inhalt des  211 StGB ist vielmehr eine Gallertmasse, die aller mißbräuchlichen Interpretation Tür und Tor öffnet.

Zum dritten: Es geht um die Minimierung von Gewalt zwischen Menschen - diese Aufgabe rechtfertigt staatliche Gewalt in menschenrechtlich-demokratischer Hinsicht allein. Nur dann ist das staatliche Monopol physischer Gewaltsamkeit legitim. Nehmen staatliche Institutionen gewaltenteilig als Legislative, Exekutive und Judikative diese Aufgabe ernst, dann kommt es entscheidend darauf an, daß staatliche Gewalt so dosiert und so behutsam wie irgend möglich eingesetzt wird. Nur dann verstärkt staatliche Gewalt nicht in einer Gesellschaft vorhandene Aggressionen. Nur dann trägt sie dazu bei, Aggressionen abzubauen und den friedlichen Austrag von Konflikten zu befördern.

Unter dieser Perspektive kann zwar der demokratische Staat auf Strafansprüche nicht gänzlich verzichten. Strafen sind jedoch nur als äußerstes Mittel angezeigt. Insbesondere Freiheitsstrafen sind quantitativ und qualitativ auf ein immer erneut begründungspflichtiges Minimum zu beschränken. Für dieses staatliche Verhalten sprechen nicht nur menschenrechtlich-normative Gründe. Dafür spricht vor allem die eindeutige, wissenschaftlich belegbare Erfahrung über die Mittel und Wege, die Gewalt zwischen Menschen einer Gesellschaft befördern oder verringern.

Das heißt aber: Nicht derjenige demokratische Staat ist der stärkste, der die härtesten Strafen ausspricht und vollzieht. Im Gegenteil. Er ist am schwächsten. Am stärksten ist der Staat, der Umstände zu schaffen vermag, die gewaltförmige Konflikte abbauen lassen. Dort aber, wo Strafe nicht zu vermeiden ist, ist sie auf ein Minimum zu beschränken.

Zumvierten: Grund-, menschenrechtlich und demokratisch sind folgende Konsequenzen nicht abzuweisen:



Der  211 StGB ist ersatzlos zu streichen.



Die lebenslange Freiheitsstrafe ist ersatzlos aufzuheben. Entsprechend ist Art. 102 GG zu ergänzen.



Das Gefüge der Freiheitsstrafen ist insgesamt neu zu bedenken. Die resozialisierende" Wirkung von Freiheitsstrafen ist prinzipiell fragwürdig. Freiheitsstrafen, die länger als 10 Jahre vollstreckt werden, bieten dem Betroffenen kaum noch eine Perspektive, sie beschädigen seine Persönlichkeit, seine sozialen Fähigkeiten und Beziehungen sowie seine ökonomischen Ressourcen in unerträglicher Weise. Deshalb sind Freiheitsstrafen, deren Dauer 10 Jahre überschreitet, unhaltbar.



Die Formen der Strafe sind qualitativ zu verändern. Auch dort, wo die Freiheitsstrafen begründet belassen werden, muß das Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Mittelpunkt des Vollzuges stehen. Zugleich kommt es darauf an, Formen der sofortigen und unbürokratischen Opferhilfe und des Täter-Opfer-Ausgleichs zu befördern.


Damit solche dringenden Änderungen möglich werden, ist es vonnöten und demokratisch geboten, eine breite öffentliche Diskussion über den Sinn und die Grenzen des Strafens in Gang zu setzen. Die Ängste der Bürger/innen sind ernstzunehmen. Gerade darum aber ist es erforderlich, sie nicht mit falschen Strafkeulen wider andere Menschen ersatzzubefriedigen.

In jedem Fall bleibt festzuhalten: Die lebenslange Freiheitsstrafe ist mit den Grund- und Menschenrechten nicht vereinbar.



E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
 voriger





       
Bereich:

Komitee
Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
            
Netzwerk  Themen   FriedensForum Ex-Jugo Termine   Aktuelles