Demos
13.10.2001


vom:
15.10.2001


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Demonstrationen 13.10.2001

 Echo / Presse

(Auswahl)

Pressesplitter zu den Demonstrationen in Berlin und Stuttgart, 15.10.

div. Tageszeitungen

Berliner Zeitung Alle Klarheiten beseitigt

Net-zeitung Zehntausende demonstrieren in Berlin und Stuttgart für Frieden

Tagesspiegel Ein Ausflug gegen den Krieg

Darmstädter Echo Großkundgebungen in Deutschland gegen US-Angriffe

taz Demonstrieren ist nicht umsonst

Hamburger Abendblatt Friedensbewegung

KStA Europaweiter Protest gegen den Krieg

FR Zehntausende protestieren im Zeichen der Taube

Heilbronner Stimme "Eine Spirale von Gewalt und Tod"

THA Flug der Taube

jw "Wir geben keine Ruhe"

Südwestpresse US-Militärbasen droht Blockade

Stuttgarter Zeitung Stumpfe Waffen

dito Zulauf für die Friedensbewegung



Quelle: Berliner Zeitung 15.10.01 - Seite 3

Alle Klarheiten beseitigt

Die Friedensbewegung gerät wieder in Bewegung. Doch nach dem 11. September ist fast nichts mehr wie früher - auch wenn es manchmal so aussieht

Susanne Lenz

BERLIN, 14. Oktober. Die Taube hat Löcher. Der blaue Grund, auf dem sie fliegt, ist ausgebleicht. Die Fahne mit dem Friedenssymbol ist in die Jahre gekommen. Ulrike Lehmann hat sie das erste Mal beim Friedensmarsch der Frauen getragen. Das ist achtzehn Jahre her. Von Dortmund nach Brüssel ging es damals, 1983. Die Teilnehmerinnen protestierten gegen den Nato-Doppelbeschluss, der vorsah, amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Ulrike Lehmann war 44 Jahre alt.

Heute ist Ulrike Lehmann 62. Sie ist Mitglied der IPPNW, einer Vereinigung von Ärzten gegen den Atomkrieg. Und sie geht noch immer auf Demonstrationen. Oder wieder. "Den wir hatten ja jahrelang nicht so einen Anlass", sagt sie. Am Sonnabend steht sie auf dem Gendarmenmarkt mitten in Berlin. Sie trägt einen weißen Ärztekittel über ihren Jeans und dem bunten T-Shirt, und sie hält die alte Fahne in der Hand, die eine Freundin damals gebatikt hat. All die Jahre hat sie sie aufbewahrt, zuerst für alle Besucher sichtbar im Wohnzimmer, die letzten Jahre dann in der Rumpelkammer ihres Hauses in Dortmund.

Weiße Tauben, schwarze Fahnen

An diesem Oktobertag bringen die Menschen Transparente auf den Gendarmenmarkt. Darauf steht "Kein Krieg", "Krieg ist keine Lösung" und "Krieg ist keine Antwort auf Terrorismus". Manche der Demonstranten schwenken rote PDS-Fahnen, viele haben blaue Luftballons mit der weißen Taube an ihre Rucksäcke gebunden, die jemand von der PDS verteilt haben soll. Familien sind dabei, Mütter, die Kinderwagen schieben, so genannte Autonome, die eine schwarze Fahne mit einem weißen A schwenken, ein Palästinenser, der die Fahne Palästinas hoch hält, junge Männer, die Flugblätter verteilen mit der Erklärung des Zentralkomitees der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands zu Bushs "New War", ältere Männer mit Schirmmützen, junge Leute mit Rastahaaren, Studenten, Schüler.

Ulrike Lehmann sagt, sie fühle sich wohl hier. Mit Worten wie friedlich und freundlich beschreibt sie die Stimmung. Doch sie spürt auch, dass es unter den Leuten nicht so viel Gemeinsames gibt wie früher. Die Angst um den Frieden hat die Demonstranten auch damals, in den achtziger Jahren der Bundesrepublik, zusammengeführt. Doch darüber hinaus hatten sie auch ähnliche Vorstellungen davon, wie sie leben wollten. Es ging um Themen wie Konsumverzicht. Und um gesunde Ernährung. Und es gibt noch einen großen Unterschied. Damals gab es nur eine Angst vor dem Krieg, heute gibt es einen Krieg. Während auf dem Gendarmenmarkt demonstriert wird, fallen in Afghanistan Bomben.

Und doch ist es an diesem Wochenende in Berlin auch ein bisschen wie früher. Ein bärtiger Mann in einem zotteligen Wollpullover trägt einen Bauchladen mit Ansteckern und Aufklebern vor sich her, die wie Überbleibsel aus einer anderen Zeit wirken. Es sind gelb-rote Plastikschilder mit der Aufschrift "Atomkraft - Nein Danke", die einst auf jedem zweiten VW-Bus klebten, und Anstecker, die das Bild eines sterbenden Soldaten zeigen, neben dem das Wort "Why - Warum?" steht. "Wo kommen die denn wieder her", fragt eine Frau. Der Mann weiß es nicht. Er verkauft sie im Auftrag eines Freundes. Der Aufkleber, der am besten geht, trägt den Text: Ein kluges Wort und schon ist man Kommunist. "Das ist ja schön", sagt eine Frau und bezahlt drei Mark.

Wie früher. So sagt es auch Ulrike Lehmann, wenn sie über diesen Tag spricht. Fast wie früher. Am Morgen um acht ist sie zusammen mit sechs anderen in Dortmund in den Zug gestiegen, um nach Berlin zu fahren und für den Frieden zu demonstrieren. Für den Frieden und gegen den Krieg in Afghanistan. Ulrike Lehmann will zeigen, dass dieser Krieg nicht in ihrem Namen geführt wird. Der Angriff auf Afghanistan sei illegitim, sagt sie. Eine Polizeiaktion gegen die Terroristen würde sie unterstützen, diese Militäraktion gegen ein ganzes Land nicht. Auch wenn der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse gesagt hat, der traditionelle Pazifismus sei keine angemessene Reaktion auf den internationalen Terrorismus - für Ulrike Lehmann hat sich die Welt seit dem 11. September in einer Hinsicht nicht verändert. Und sie kann das, was sie meint, in einem einfachen Satz zusammenfassen: "Gewalt erzeugt Gewalt, erzeugt Gewalt." Dann hält sie ihre Fahne hoch und drängt zur Rednertribüne, die gegenüber dem Schauspielhaus aufgebaut ist.

Der schmale Grat

"Mit seiner vorbehaltlosen Unterstützung des Krieges missbraucht Schröder die Gefühle der Anteilnahme und der Solidarität", sagt der Redner auf der Tribüne. "Die Friedensbewegung lehnt mit aller Entschiedenheit den Terrorismus ab. Aber genauso entschieden lehnt sie auch den Krieg ab." Die Leute klatschen. Des Kanzlers Wort von der vorbehaltlosen Unterstützung der Vereinigten Staaten missfällt vielen. Die Gründe für dieses Unbehagen sind unterschiedlich. Die einen sagen, man dürfe nicht Städte bombardieren und in Kauf nehmen, dass man Unschuldige tötet, wenn man einen einzigen Menschen treffen wolle. Andere haben zwar das Gefühl, es müsse etwas getan werden. Aber ihre Angst, dass Deutschland durch seine Haltung Ziel von Attentaten werden könne, überwiegt. Und andere sagen, dass Gewalt niemals und unter keinen Umständen der Weg sein kann. "Es ist nicht so einfach wie früher", sagt Ulrike Lehmann. Die Gewissheit, was falsch und was richtig ist, ist ins Wanken geraten. "Man bewegt sich auf einem schmalen Grat."

Vielleicht ist es der Mangel an Gewissheiten, der Menschen an diesem schönen Oktobertag in den Cafés am Gendarmenmarkt sitzen und Torte essen lässt, während rings um sie demonstriert wird. Sie habe auch ein schlechtes Gefühl, wenn sie abends Nachrichten sehe, sagt eine Frau. Sie frage sich auch, ob diese Angriffe richtig seien. "Aber man kann die Terroristen doch nicht davonkommen lassen."

Vielleicht ist dieser Mangel an Gewissheiten auch der Grund dafür, dass die Menschen nichts mit den kleinen weißen Zetteln anfangen können, die ein junger Mann verteilt. Parolen sind hier aufgelistet, kurz und griffig, manche reimen sich sogar. "Freiheit für Afghanistan. Gegen US und Taliban" heißt es auf dem Zettel. Und "Gehen wir gemeinsam vor - gegen Bushs New War". Die Leute nehmen die Zettel, sie lesen die Parolen und stecken sie dann ein. Oder sie werfen sie weg. Niemand skandiert diese Sätze. So als ob die Menschen das Gefühl hätten, dass sie sich in einer Lage befinden, die das Gefühl moralischer Überlegenheit nicht zulässt. In einer Lage, die man nicht in Losungen pressen kann.

Und vielleicht lässt diese Unsicherheit die Leute so begeistert klatschen, als auf der Rednertribüne bekannt gegeben wird, wie viele sie sind: 50.000. Und 25.000 in Stuttgart. Applaus. "Es ist notwendig, die Zahl der Demonstranten schnell zu erhöhen", sagt der Redner weiter. "Das scheint nicht unmöglich." Er rät den Demonstranten, viel zu telefonieren. Der Brief eines Mannes wird vorgelesen, dessen Sohn am 11. September im World Trade Center starb. Er wolle nicht, dass im Namen seines Sohnes Rache geübt werde, schreibt der Mann. Die Leute klatschen. Ein Klatschen wie ein Ausdruck der Erleichterung. Einer Erleichterung darüber, dass sogar einer der Betroffenen ihre Zweifel an dem, was jetzt im Namen der Opfer in Afghanistan geschieht, für richtig hält.

Ein Symbol

Als die Leute den Gendarmenmarkt am frühen Abend verlassen, stehen zwei junge Frauen bei einer Gruppe von Trommlern. Sie tragen kleine blaue Anstecker mit der weißen Friedenstaube an ihren Pullovern. Der letzte Redner hat den Demonstranten gerade noch "viel Spaß" gewünscht. Auf der Tribüne singt jetzt eine Mädchenband. "Sag den Soldaten, sie sollen leise sein. Wenn sie so laut sind, schläft kein Kind mehr ein", klingt es über den Platz. Die jungen Frauen, von denen eine aus Ost-Berlin und eine aus West-Berlin kommt, studieren an der Hochschule der Künste. Sie heißen Laura und Julia. Mit dem Begriff Friedensbewegung können sie nicht viel anfangen, aber sie sagen, dass Krieg keine Lösung ist. Die Anschläge in New York seien schlimm, aber man müsse darüber nachdenken, warum sie passiert seien. "Das hat doch alles seine Ursachen", sagt Julia. Sie will die Anschläge als Symbol sehen. Immer wieder fällt das Wort Zeichen, so als ob die jungen Frauen es nicht ertragen könnten, die Anschläge einfach nur sinnlos zu finden. Sie erzählen, wie sie nach dem 11. September tagelang vor dem Fernseher saßen und mit Freunden geredet haben. Und wie sie anfangs vorsichtig und dann immer deutlicher gesagt haben, dass es nicht sein kann, dass täglich irgendwo Menschen sterben und sich niemand darum kümmert, und es dann diese riesige Betroffenheit gibt, wenn Leute im World Trade Center umkommen. "Das ist nicht gerecht", sagt Julia. "Und es tut gut, mit Leuten zusammen zu sein, die das genauso sehen."

Ulrike Lehmann fühlt sich am Ende dieses Tages nicht ermutigt. Sie hat das Gefühl, nur halbherzig zu handeln. "Ich könnte mich auch aufmachen, nächste Woche, und zu Schröder fahren." Sie wird es nicht tun, weil sie auch ihr eigenes Leben hat, ihre Patienten, den Garten. Aber dann wird sie am Morgen wieder Nachrichten hören und könnte wahnsinnig werden, wie sie es ausdrückt. Sie erzählt, dass früher bei ihr eine Friedenstaube am Fenster klebte. Und dass sie überlegt hat, ob sie sich wieder so einen Aufkleber kauft. Jetzt, da die Fahne nicht mehr in der Rumpelkammer steht.



Quelle: Net-zeitung 15.10.01

Zehntausende demonstrieren in Berlin und Stuttgart für Frieden

(13. Okt 13.45, ergänzt 20.26)

Gegen die US-Militäraktionen in Afghanistan haben Zehntausende Menschen in Berlin und Stuttgart friedlich protestiert. Befürchtete Provokationen der NPD blieben aus.

Kampf gegen den Terror Bilder der Demonstrationen in Stuttgart und Berlin - Zehntausende demonstrieren in London gegen Krieg - Attac: Zusammenhang zwischen Elend und Terror

Mehrere zehntausend Menschen sind am Samstag in Berlin und mehreren anderen deutschen Städten für den Frieden auf die Straße gegangen. Die Proteste gegen die amerikanisch-britischen Militäreinsätze in Afghanistan blieben friedlich. Sie standen unter dem Motto: "Kein Krieg! Aufstehen für den Frieden!"

Aufruf der Veranstalter der Demonstrationen

Nach Angaben der Veranstalter lag die Zahl der Teilnehmer in Berlin bei rund 30.000. Die Polizei, die 2.000 Beamte im Einsatz hatte, sprach von 15.000 Demonstranten. Protestaktionen gab es auch in Stuttgart, Bonn und weiteren Städten.

Bei der Berliner Abschlusskundgebung auf dem Gendarmenmarkt forderten mehrere Redner ein Ende der Bombardierung Afghanistans. Hilfsorganisationen müsse es ermöglicht werden, die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, hieß es. Der US-amerikanische Wissenschaftler Joseph Weizenbaum erklärte, es sei "Wahnsinn, Terror mit Krieg zu bekämpfen". Wer behaupte, dass dies möglich sei, "ist entweder dumm oder lügt".

Die Kriegsgegner forderten Bundeskanzler Gerhard Schröder auf, sich für ein Ende der Militäraktionen einzusetzen. Diese hätten keinen Rückhalt in der Bevölkerung, hieß es weiter. Zugleich fordeten Redner, keine deutsche Soldaten in den Krieg zu schicken. Auch wurden die verschärften Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland kritisiert.

Zur Teilnahme hatten mehr als 140 Organisationen und Verbände aus Friedensbewegung und Entwicklungshilfe sowie Gewerkschaften, Universitäten und Globalisierungsgegner aufgerufen.

NPD macht doch nicht mit

Während der Kundgebung versuchten Anhänger der rechtsextremen NPD, ein Transparent mit Anti-Nato-Parolen zu entrollen, wurden jedoch unter großem Beifall daran gehindert. Die Organisatoren der Friedensdemonstration hatten angekündigt, die angekündigte Teilnahme der NPD gemeinsam mit der Polizei verhindern zu wollen.

In Stuttgart versammelten sich nach Angaben der Polizei etwa 10.000 Menschen zu einer zentralen Kundgebung in der Innenstadt. Die Veranstalter schätzten die Zahl auf 50.000 Teilnehmer.

Der evangelische Regionalbischof Martin Klumpp erklärte: "Krieg darf um Gottes willen nicht sein." Er sei kein geeignetes Mittel, um den weltweiten Terror zu überwinden. Ungerechtigkeit und Armut rechtfertigten keinen Terror. Mit einem Krieg würden dem Terror aber nur noch mehr Menschenopfer gebracht.



Quelle: Tagesspiegel 15.10.01 - Nachrichten: Berlin

Friedensdemonstration

Ein Ausflug gegen den Krieg

Bei der Demo in Mitte erinnerte vieles an den Protest gegen die Nachrüstung zu Beginn der achtziger Jahre

Christoph Stollowsky

Rund 20 000 Menschen haben gestern in Berlin friedlich gegen die US-Luftangriffe auf Afghanistan demonstriert. Der von 140 Organisationen unterstützte Umzug begann am Roten Rathaus und endete mit einer Kundgebung am Gendarmenmarkt. Befürchtete Auseinandersetzungen zwischen Rechtsradikalen und linken Protestlern blieben aus. Die NPD hatte in den vergangenen Tagen antiamerikanische Töne angeschlagen und verkündet, sie wolle sich in die Demonstration einreihen. Dagegen verwahrten sich die Veranstalter der Friedensdemo energisch.

Die Begrüßung am Gendarmenmarkt hätte auch gut zu einem Jazz- oder Folkfestival im Herzen der Stadt gepasst. "Liebe Leute, wir freuen uns, dass ihr an diesem wunderschönen Tag so zahlreich gekommen seid". Rappelvoll war der Platz gegen 14.30 Uhr, Tausende drängelten sich in den Straßen drumherum, in Scharen stiegen die Friedenstauben auf blauen Ballons in einen Spätsommerhimmel, den nur der Polizeihubschrauber, aber keine einzige Wolke durchquerte. Ganz vorne, gegenüber dem Schauspielhaus, die Bühne - mit schwarzem Tuch ausgekleidet, mit riesigen Buchstaben beschriftet: "Kein Krieg". Spätestens bei diesem Anblick wurde auch den Touristen im Getümmel klar, dass es auf dem schönsten Platz Berlins um ein ernstes Thema ging.

Streng haben die Organisatoren deshalb ihr Gefolge schon beim Abmarsch aufgereiht. "Jetzt nehmen bitte alle Schüler Aufstellung hinter dem Leittransparent!" Klar, die Schüler sollten an der Spitze marschieren, weil sie zuerst in Berlin protestiert hatten und auch gestern eifrig dabei waren. Wie Cora und Miriam. Rasta-Locken, Jeans und T-Shirt voller Buttons im Stil der einstigen "Atomkraft - Nein Danke"-Bewegung. Warum sie gekommen sind? "Wir sind gegen Krieg und solche Schweinereien."

Der zackige Abmarsch passte allerdings nicht so recht zum Weltbild junger Leute. "Wir sind doch nicht auf der 1.-Mai-Demo mit Honecker". Doch der Unmut ist kurz, eine Latino-Gruppe schmettert das Lied "d`el Commandante Che Guevara", Frauen wippen im Merengue-Schritt, Hunde bellen, Mütter steuern Kinderwagen durch die Menge, Babyclubs auf Protestkurs mit Windeln und Smartie-Tüte, im Geleit der etwas ältere Nachwuchs. Jungen und Mädchen halten Tauben auf Pappschildern hoch. Abenteuer Friedensdemo.

Fürwahr ein "friedliches, familiäres Bild", freuen sich jene, die schon 1981 losgezogen sind, als die Friedensbewegung im Westen gegen den NATO-Doppelbeschluss auf die Straßen ging und zusammen mit den "BOTS" dieser legendären holländischen Gruppe, das Lied vom weichen Wasser sang, das Steine bricht. Haben die Alt-Demonstranten gestern wieder ihre Heimat gefunden?

"Vielleicht ein kleines bisschen", sagt die Psychotherapeutin Angelika Schau aus Wilmersdorf. Doch damals erschien ihr alles noch viel familiärer. "Wir charterten einen Bus zur Großdemo nach Bonn, kamen in WGs unter, und alle Kollegen und Kinderladen-Leute machten mit." Heute geht das Kollegium eher im Grunewald spazieren, weshalb sie vergeblich nach Bekannten ausschaut. Doch auch bei ihr hat sich einiges verändert. Keine Öko-Schuhe von "Roots", keine Flattergewänder. Sie zieht im ockerfarbenen Blazer los, mit rotem Kurzhaarschnitt, und sie will dem Kanzler zeigen, "dass auch Deutsche keine Bomben wollen."

Die 68er Generation und all jene, die später in Westdeutschland gegen den Rüstungswettlauf aufstanden, sind bei dieser Demo klar in der Minderheit. Wer hier über Vierzig ist, wohnt meist im Osten der Stadt und hält häufig ein PDS-Plakat in der Hand. Doch es gibt auch Einzelgänger wie Elli Köhn aus Mitte. Zwei Weltkriege hat sie mitgemacht, als Hitler in Polen einmarschierte, saß ihr Mann als Widerständler in Haft. Heute ist sie 91 und sagt: "Ich will einfach keinen Krieg mehr."

Das beschert ihr wohlwollende Blicke. Auch von Beamten, die mit blauem Basecap - Aufschrift: Polizei - umherbummeln. Ein dienstlicher Spaziergang, Teil der "Deeskalations-Strategie" der Polizei, die ihre Wasserwerfer in Nebenstraßen versteckt, als hätte sie eingesehen, dass sie nicht so recht zu solchen Bildern passen.

Auf dieser Friedensdemo müssen die Beamten niemanden zur Friedsamkeit ermahnen. Nur einmal lässt sich ein Rechtsradikaler am Gendarmenmarkt sehen und entrollt ein Transparent - das ihm flugs entrissen wird. Und auch schwarzgewandete Autonome sind kaum vertreten. Alle Kräfte haben aber die linken Grüppchen mobilisiert; MLPD, www. linksruck. de, Rebell, DKP. Ein Sammelsurium, das Trillerpfeifen aus Bauchläden verkauft und die vertrauten Lieder singt. Von bösen Konzernen und Politikern.

Hilde van P., die Frau mit Schnullermädchen im Buggy, ist eher wegen ihrer Gefühlslage losgezogen. Weil sie sich hilflos vorkommt. "Auf der Demo", sagt sie, "hab` ich wenigstens etwas getan." Sie ist ihren Unmut gegen den Gegenschlag losgeworden. Eines allerdings hat kaum jemand auf die vielen Plakate gebracht. Den Zorn auf die Terroristen.



Quelle: Darmstädter Echo (nach ap) 15.10.01.

Großkundgebungen in Deutschland gegen US-Angriffe

Mehrere zehntausend Menschen demonstrieren friedlich Demonstration auf dem Berliner Gendarmenmarkt (EPA)

In Berlin und Stuttgart sind mehrere zehntausend Menschen zu Großdemonstration gegen die Angriffe der USA und Großbritanniens auf Afghanistan auf die Straße gegangen. Nach Angaben von Polizei und Veranstaltern verliefen beide Demonstrationen sehr friedlich. Zahlreiche Organisationen aus der Friedensbewegung und der Entwicklungshilfe, von Gewerkschaften und Universitäten sowie Globalisierungskritiker hatten zu den Demonstrationen aufgerufen.

Nach Angaben der Veranstalter kamen 35.000 Menschen auf den Berliner Gendarmenmarkt zusammen. Die Polizei sprach von 15.000. Mit jeder Bombe treffen Sie unschuldige Menschen", kritisierte bei der Abschlusskundgebung eine afganische Emigrantin US-Präsident George W. Bush. Während sich die Taliban-Kämpfer längst in die Berge zurückgezogen hätten, seien in den bombardierten Städten die Menschen zurückgeblieben, denen die Mittel zur Flucht fehlten. Mehrere Redner erklärten sich solidarisch mit den Terroropfern in den USA. "Krieg ist aber kein Mittel, um terroristische Anschläge verhindern zu können, betonte eine Sprecherin des Demo-Organisationsbüros.

Der Berliner Gendarmenmarkt voller Demonstranten (EPA)

Die Veranstaltung endete am Nachmittag ohne Zwischenfälle. "Es handelt sich um eine Friedensdemonstration, die ihrem Namen gerecht wird", sagte ein Polizeisprecher.

In der Stuttgarter Innenstadt demonstrierten nach Veranstalterangaben 50.000 Menschen gegen die Angriffe. Der Dekan der evangelischen Landeskirche, Martin Klump, sagte "der kriegerische Terror gegen die USA" sei "schrecklich und gewissenslos. Doch genauso gelte: "Krieg ist kein Mittel, den Terror zu überwinden". Damit würde es nur noch zu mehr Menschenopfer kommen. Eine "wahre Friedenspolitik" zeichne sich dadurch aus, wenn "für Entwicklungshilfe und soziale Krisenprävention" genauso viel Geld ausgegeben werde "wie für Rüstung und Sicherheit". Zuvor hatten sich rund 300 Menschen zu einer Mahnwache am Hauptquartier der US-Streitkräfte für Europa, den Mittelmeerraum und den Nahen Osten (EUCOM) versammelt.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bezeichnete im Berliner "Tagesspiegel am Sonntag" die Kritik der Friedensbewegung als fehlgeleitet. Er betonte, der Westen habe weder diesen Konflikt noch "das Austragen mit diesen Mitteln" gewollt.



Quelle: TAZ 15.10.01.

Demonstrieren ist nicht umsonst

Zwei Mark kostet der Button zur Demo. In Berlin suchte die Friedensbewegung den Brückenschlag zwischen alten Freunden und jungen Kriegsgegnern

aus Berlin STEFAN KUZMANY

Für Melinda (14) und Charlott (15) ist das heute die erste richtige Großdemo. Das sieht man den beiden Berliner Schülerinnen auch an. Sie haben kein Transparent mit eigenen Forderungen dabei. Sie haben keine Friedenstaube ans Revers gesteckt, und auch keinen Button mit "Petting statt Pershing" drauf. Es fehlt das Batik-Hemd und das Palästinenser-Tuch. Kein "Linksruck"-Aufnäher und keine Jute-Tasche der MLPD. Jeans, T-Shirt, Turnschuhe: in ganz normaler Straßenkleidung sind sie zum Brandenburger Tor gekommen, um am heutigen Samstag von hier aus gegen den Krieg zu marschieren. Die beiden Mädchen besuchen die 9. Klasse des Oranke-Gymnasiums in Hohenschönhausen, doch auch hier können sie etwas lernen. "Auch Tiere brauchen Frieden", steht auf dem ersten Handzettel des Tages.

"Man sagt immer Amerika und meint die USA. Damit leistet man schon dem Imperialismus Vorschub", sagt der Mann am Megaphon. "Demonstrieren ist nicht umsonst. Das kostet hier was", sagt Monika Nur (54) von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Einen blauen Eimer in der Hand und Engagement im Blick, fordert sie zwei Mark, soviel kostet der Button zur Demo. Für die beiden Schülerinnen kramt sie Buttons aus ihrem Eimer hervor, denen die Plastikfolie fehlt: "Die sind nicht so schön geworden, die geb` ich Euch für eine Mark."

Hoffen, dass es nützt

Es geht los, Richtung Gendarmenmarkt zur Hauptkundgebung. "Der Wagen muss hier durch! Ihr mit ,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit` bitte nach links, ,Keine Ver-Heerungen` bitte nach rechts!", schnarrt das Megaphon, und die beiden Mädchen hoffen, "dass es was hilft. Dass mal jemand nachdenkt. Krieg ist auf jeden Fall keine Lösung gegen den Terror."

Der Spaziergang durch die Innenstadt beginnt mit einem kleinen Stau unter dem Brandenburger Tor. Ein Familienvater schwärmt von früher: damals, beim großen Sternmarsch, als da diese Gießener Gruppe um die Ecke gekommen ist, denen ging einer voran, der spielte Dudelsack. Das war ein tolles Gefühl, die Musik, die Leute: "Ein richtiges Prickeln. Wann war das gleich? Ach ja, 1984 beim Ostermarsch". Weder Melinda noch Charlott wollen sich groß politisch engagieren, sagen sie, jedenfalls nicht bei einer der Berliner Parteien: "Die sind mal pro und mal contra." Sie sind halt gegen den Krieg. Wie alle ihre Freunde.

Voll, aber nicht überfüllt

Junge Menschen, oft Anhänger der marxistischen Leninisten von der MLPD, versuchen mit Megaphonen und rollbaren Lautsprechern, Parolen in aller Munde zu bringen. Es bleibt beim Versuch. Kaum jemand will "Gehen wir gemeinsam vor - gegen Bushs New War" skandieren. Auch "Kein Kriegseinsatz der Bundeswehr - Schröder, Fischer, hört ihr schwer?" zieht nicht, kaum auch "Frieden für Afghanistan - gegen Bush und Taliban". Selbst der Klassiker "Hoch - die - internationale - Solidarität" verhallt nach wenigen Wiederholungen. "Ist das ne Demo oder was?", mault enttäuscht der Aktivist ins Mikrophon. "Einen Schweigemarsch könnt ihr euch wohl nicht vorstellen?", will eine elegant gekleidete Frau von einer jungen MLPD-Anhängerin wissen. Die Jugendliche skandiert trotzig weiter. "Warum schreit ihr so? Ihr seht doch, dass wir mitgehen", fragt die Alte. Die Junge kontert: "Aber das sind doch Forderungen! Die müssen gehört werden!"

Der Gendarmenmarkt ist voll, aber nicht überfüllt. An den Transparenten läßt sich das breite Spektrum Demonstranten ablesen: viele sind "gegen Krieg" oder "gegen Bomben", Erfahrene "gegen Imperialismus". Höchstes Umweltbewußstsein demonstriert die ÖDP. Ihr Transparent ist mit Laschen benäht und daher für austauschbare Botschaften geeignet; "neue loesungen gesucht", steht heute drauf.

Als erster Redner tritt Sebastian Schlüsselburg von der Bundesschülervertretung auf. Im Publikum sind viele Berliner Schülerinnen und Schüler. Ihnen wird heute besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Immer wieder danken die Redner den Schülern für ihre Pionierleistung vom vergangenen Montag, als sie während der Unterrichtszeit gegen die amerikanischen Militärschläge demonstriert haben. Die Moderatorin Jutta Kausch meldet "über 50.000" Teilnehmer. Großer Jubel, als sie eine Solidaritätsadresse von Joan Baez und Harry Belafonte verliest, "vereint im Geist von Martin Luther King und Ghandi". Eine Demonstrantin im modischen Hosenanzug zupft aufgeregt ihren Begleiter am Ärmel und hüpft dabei auf der Stelle: "Kuck mal!" Da ist einer auf einen Laternenmast geklettert und schwenkt eine rote Fahne mit den schwarz gedruckten Gesichtszügen des großen Vorsitzenden Mao Tse Tung. In noch größerer Höhe, auf der Kuppel des französischen Domes macht sich ebenfalls ein Demonstrant zu schaffen, seine gelbe Montur leuchtet in der Nachmittagssonne.

Am Mikrofon: das "Aktionsbündnis für ein anderes Berlin". Das Bündnis wollte heute eigentlich gegen die soziale Ungerechtigkeit demonstrieren, aber der Krieg kam dazwischen. So nutzt ihr Sprecher eben diese Gelegenheit, um scharf seine Stimme zu erheben wider den Stellenabbau in städtischen Krankenhäusern. Die ersten Schüler wandern ab.

Plötzlich aufgebrachte Rufe, alle Blicke wenden sich zum Französischen Dom. Oben an der Kuppel prangt ein meterlanges Transparent der NPD. Empörung. Die Kundgebung stockt. Und mit einem Mal ist es da, das Gefühl der Identität. Er ist da, der Spruch, den alle rufen wollen. "Nazis raus! Nazis raus!", skandiert der ganze Gendarmenmarkt, und: "Runter holen!" Die Moderatorin fordert die Demonstranten auf, sich wieder der Kundgebung zuzuwenden: "Hier werden die wichtigen Dinge gesagt." Doch sie findet vorerst kein Interesse. Ein kletterbegabter NPD-Feind ist schneller als die Polizei oben auf der Kuppel und reißt unter dem Jubel der Anwesenden das Transparent der Rechten ab. Applaus brandet auf, als er es in die Tiefe wirft. Die verspäteten Beamten ernten nur noch Gelächter. "Deutsche Polizisten schützen die Faschisten", ruft ein junger Mann mit langen, blonden Haaren und einem Palästinensertuch um den Hals mit sich überschlagender Stimme in sein Megaphon. Doch es mag ihm niemand folgen. "Stimmt doch.", beharrt er.

Stehen gegen den Krieg

Die MLPD wirbt an ihrem Infostand für ein Buch mit dem Titel "Sozialismus am Ende?" Wie die Antwort auf diese Frage für die MLPD ausfällt, muss man eigentlich nicht nachlesen. Genauso wenig, wie man sich noch die Redebeiträge des Friedensratschlages Kassel oder der katholischen Friedensorganisation Pax Christi anhören muss. Alle wissen doch, warum sie hier sind: "Aufstehen gegen den Krieg" wollten sie, das war das Motto der von über hundert Gruppen getragenen Veranstaltung. Und jetzt stehen sie schon über drei Stunden gegen den Krieg, da leidet die Konzentration, denn das Wetter ist schön, und es sind viele Bekannte da. "Hallo Marlies!", ruft eine junge Frau überrascht, als sie ihre Freundin entdeckt. "Mensch sieht ja toll aus, habe ich ja noch gar nicht gesehen!" Mahnend, den Ernst der Weltlage im Timbre, zitiert die Brecht-Schülerin Käthe Reichel (75) die alte Weisheit über Karthago nach drei Kriegen. "Wie lange hast Du denn die Haare schon so?", fragt die Freundin. Hinter der Bühne korrigiert der Pressebetreuer Jens-Peter Steffen von der Organisation Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges die Teilnehmerzahlen: "Ungefähr 30.000 bis 35.000." Er freut sich über den heutigen "Brückenschlag" zwischen jenen, denen "nachgesagt wird, ewig gestrig zu sein, in den Achtzigern hängengeblieben" und jenen ganz jungen Kriegsgegnern, die noch zur Schule gehen.

Als fast alle schon gegangen sind, ist da noch Monika Nur von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Erschöpft, aber glücklich sieht sie aus. Fünf- bis sechshundert Buttons konnte sie heute verkaufen, "ausgesprochen viel". Münzen klimpern in ihrem Eimer. Ein Straßenzeitungsverkäufer spricht sie an. Und eine Bosnierin mit Kopftuch und Pappschild. Monika Nur gibt beiden. Jetzt, sagt sie, könnte es wieder neue Strukturen geben in der Friedensbewegung, könnten sich die Menschen in den Betrieben zusammentun und Friedensgruppen bilden, könnte "die schweigende Mehrheit, die gegen den Krieg ist", ihre Stimme erheben. Die ganze Woche hat sie Buttons vorbereitet, jetzt braucht sie etwas zu trinken. Und dann wird sie heimgehen und Nachrichten sehen - sie will wissen, wie viele es waren, die heute gegen den Krieg demonstriert haben. Die "Tagesschau" wird melden: 15.000 in Berlin.

taz Nr. 6574 vom 15.10.2001, Seite 3, 282 Zeilen TAZ-Bericht STEFAN KUZMANY



Quelle: Hamburger Abendblatt, 15.10.01.

Friedensbewegung

Die Friedensbewegung, deren geistige Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen, fand sich in den 50er-Jahren unter dem Eindruck der Bedrohung durch Atomwaffen und der Wiederaufrüstung zusammen. Sie gilt als Sammelbezeichnung für Menschen aus einer Vielfalt von Gruppen, Arbeitskreisen und Organisationen, darunter Theologen, Gewerkschaftler, Studenten, Wissenschaftler und Künstler, die sich am friedlichen Protest und gewaltfreiem Widerstand beteiligen.

Nach dem Vorbild der britischen "Campaign for Nuclear Disarmament" (Kampagne für nukleare Abrüstung) entstand 1960 unter diesem Eindruck die Ostermarschbewegung, die zu einer Massenbewegung anschwoll. Die Zahl der Marschierer stieg von 1000 auf bundesweit 300 000 im Jahr 1968. Teilnehmen können an Ostermärschen, die in den vergangenen Jahren allerdings nie wieder diese Teilnehmerzahlen erreichten, nur Einzelpersonen, keine Organisationen. Koordiniert werden die Aktionen von Ausschüssen.

In den 70er-Jahren versank die Friedensbewegung kurzzeitig in der Bedeutungslosigkeit, wurde jedoch mit der Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Marschflugkörpern in Westeuropa wieder zum Leben erweckt. Im Bonner Hofgarten kamen 1981 deswegen über 200 000 Menschen zusammen. 1983 waren es 300 000. Nicht zuletzt auch durch die Partei der Grünen kam es in den 80er-Jahren teilweise zu einer Erweiterung der Themen auf die Bereiche Ökologie, Dritte Welt und Emanzipation. (mai)



Quelle: Kölner Stadtanzeiger 15.10.01.

Europaweiter Protest gegen den Krieg

(erstellt 14.10.01, 18:40h, aktualisiert 21:03h)

In ganz Europa protestierten weit mehr als 100.000 Menschen gegen den Afghanistan-Krieg.

Berlin / Rom / London - In Deutschland sind am Wochenende allein in Berlin und Stuttgart jeweils 30.000 Menschen zu Demonstration gegen die Angriffe der USA und Großbritanniens auf Afghanistan auf die Straße gegangen. Beide Demonstrationen verliefen nach Angaben von Polizei und Veranstaltern friedlich. "Die Solidarität mit den Opfern darf nicht als Legitimation für militärische Vergeltungsschläge herhalten", sagte der Sprecher der Bundesschülervertretung, Sebastian Schlüsselburg, auf der Hauptkundgebung in Berlin. "Gewalt ist nicht mit Gegengewalt wegzubomben", hob der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft DFG / VK in Stuttgart hervor. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bezeichnete im Berliner "Tagesspiegel am Sonntag" die Kritik der Friedensbewegung als fehlgeleitet. Er betonte, der Westen habe weder diesen Konflikt noch "das Austragen mit diesen Mitteln" gewollt. "Wenden Sie sich an diejenigen, die den Konflikt herauf beschworen haben." Zu den Demonstrationen in Berlin, Stuttgart und mehreren weiteren Städten hatten zahlreiche Organisationen aus der Friedensbewegung sowie Globalisierungskritiker aufgerufen. "Mit jeder Bombe treffen Sie unschuldige Menschen", kritisierte eine afghanische Emigrantin US-Präsident George Bush. Während sich die Taliban-Kämpfer längst in die Berge zurückgezogen hätten, seien in den bombardierten Städten die Menschen zurückgeblieben, denen die Mittel zur Flucht fehlten. Mehrere Redner erklärten sich solidarisch mit den Terroropfern in den USA.

Ein Vietnam-Veteran erinnerte daran, dass die Taliban erst mit Unterstützung der USA stark geworden seien. Jetzt gebärde sich die US-Regierung "wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt". Mehrere Redner übten scharfe Kritik an den deutschen Grünen, die ebenso wie die Spitzen der Gewerkschaften diese Friedensdemonstration nicht unterstützten. "Die Grünen sind eine Kriegspartei", sagte der Vietnam-Veteran.

Auch in vielen anderen Städten in Europa fanden friedliche Proteste statt. Rund 150.000 Menschen nahmen allein nach Angaben des italienischen Fernsehens an einem Friedensmarsch von der mittelitalienischen Stadt Assisi ins 25 Kilometer entfernte Perugia teil. In London protestierten 20.000 Menschen gegen die Angriffe auf Afghanistan.

In Pakistan wurden bei neuen schweren Zusammenstößen zwischen radikalen Moslems und der Polizei mindestens ein Mensch getötet und Dutzende verletzt. Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer, als tausende Demonstranten auf den Luftstützpunkt von Jacobabad zumarschierten. (afp, ap, dpa)



Quelle: FR 15.10.01

Zehntausende protestieren im Zeichen der Taube

Anti-Kriegs-Demonstrationen in Berlin und Stuttgart

Von Birgit Loff (Berlin) und Gabriele Renz (Stuttgart)

Zehntausende haben am Wochenende in Berlin und Stuttgart gegen die US-Angriffe gegen Afghanistan protestiert - weil Krieg kein Mittel gegen Terrorismus sei.

Kürzlich erst hatten Zehntausende Berliner am Brandenburger Tor der Terroropfer von New York und Washington gedacht, am Samstag sammelte sich an diesem Ort die Friedensbewegung. Familien mit Kinderwagen reihten sich ein in den Zug, Menschen jeden Alters mit der weißen Friedenstaube auf blauem Luftballon, Kinder und Erwachsene mit selbstgemalten Tauben. Viele trugen improvisierte Protestschilder wie jene Lehrerin aus Kreuzberg, die gemeinsam mit deutschen auch türkische, palästinensische und Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien unterrichtet. "Auge um Auge macht blind", zitierte sie Mahatma Gandhi.

In weißen Kitteln gingen Mediziner von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) durch die Reihen, um Flugblätter zu verteilen: "Ehrliche internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Armut, sozialer Ungerechtigkeit, ökologischer Zerstörung und regionalen Kriegen ist ein mühsamer, aber erfolgsversprechender Weg aus der Krise." Sternförmig ging es zur Kundgebung auf dem Gendarmenmarkt. Dort standen wohl bis zu 30.000 Menschen so dicht gedrängt, dass manche über das Ziergitter des Schillerdenkmals geklettert waren und einige oben auf dem Sockel an den Mantelfalten des Dichterfürsten Halt suchten.

Wer behaupte, mit Krieg lasse sich Terror stoppen, der "ist entweder blöde oder er lügt", sagte Professor Joseph Weizenbaum von der Rednertribüne. Flankiert war sie von zwei mit schwarzem Stoff bespannten Säulen, die an die Türme des World Trade Center erinnerten. In weißer Schrift stand auf dem linken Turm "Kein", auf dem rechten "Krieg".

Eine Rednerin aus Afghanistan beklagte, Waffen und Lager hätten die Taliban längst in die Berge verlegt. Bombardiere man afghanische Städte, treffe man nur jene, die zu schwach seien zu flüchten. Andere Redner nannten es Erpressung, wenn als Gegner betrachtet werde, wer gegen den Krieg in Afghanistan sei. Sie warnten vor dem Abbau bürgerlicher Grundrechte oder vor der Eskalation von Gewalt.

Einem NPD-Anhänger gelang es während der von einem großen Polizeiaufgebot geschützten Veranstaltung, am Französischen Dom auf der Nordseite des Platzes ein Transparent zu befestigen. Während die Menge "Abhängen! Abhängen!" brüllte und "Nazis raus!", kletterte ein junger Mann auf den Steinsims in schwindelnder Höhe des Doms, zerriss das Transparent und warf Fetzen auf den Platz. Minuten später erschien ein Polizist, um Reste des Transparents einzurollen.

Mehr als 10.000 Menschen - die Veranstalter sprechen von 15.000 - gingen auch in Stuttgart auf die Straße. Mit "We shall overcome" hatte am Morgen der Protest in Form einer Mahnwache vor der Eucom, der Kommandozentrale der US-Army für Europa und Nahost, begonnen. Am Ende wurde die schwäbische Version von "Universal Soldier" von zehntausend Protestierern bejubelt. Eine Mixtur aus Friedensbewegung, Gewerkschaften, Antifa- und Marxismusgruppen, Afghanistan-Exilanten und Kirchen wandte sich da gegen eine "Spirale von Gewalt und Tod". So verteilte die "Föderation der demokratischen Arbeitervereine" Flugblätter "gegen diesen so genannten Krieg gegen Terrorismus, der nichts anderes als ein weiterer grausamer Terrorakt ist". Ein Veteran des Zweiten Weltkriegs zitierte Fidel Castro: "Auf den lang anhaltenden Krieg kündigen wir die lang anhaltende Friedensbewegung von Millionen an." "Mehr als den Terror fürchte ich die Wohlstandsangst der Satten" wurde eilig auf das Leintuch gepinselt. Und immer wieder "Krieg löst keine Probleme". Anhänger der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) standen neben Kirchen-Vertretern, Punks neben Gewerkschaftsfunktionären und 68ern. Nicht die "Mordaktion" (Attac) vom 11. September, sondern die US-Angriffe auf Afghanistan ließen die Allianz der Friedensbewegten erstarken.

Auch viele Grünen-Anhänger und -Mitglieder liefen im Zug mit. "Überflüssig" seien die Grünen als Partei, schalt Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Friedensgesellschaften. Sie verkämen zu einem "Mehrheitsbeschaffer für Kriegspolitik". "ver.di sieht sich in der Tradition der Gewerkschaften als Friedensbewegung", rief deren Landesbezirksleiterin Sybille Stamm den Demonstranten zu: "Krieg ist kein geeignetes Mittel der Politik."



Quelle: Heilbronner Stimme 15.10.01.

"Eine Spirale von Gewalt und Tod"

Friedensbewegung mobilisierte am Samstag in Stuttgart rund 10 000 Menschen gegen den Krieg

Bei Demonstrationen der südwestdeutschen Friedensbewegung in Stuttgart haben Redner am Samstag vor einer Spirale von Gewalt und Tod gewarnt.

Auf dem Marktplatz protestierten nach Polizeiangaben rund 10 000 Menschen gegen die Bombenangriffe auf Afghanistan. Dort würden Menschen gemordet, kritisierte der Bundessprecher der Friedensgesellschaft, Jürgen Grässlin, die USA. "Terror kann man nicht durch Staatsterror gut machen", sagte er.

Landesbezirksleiterin Sybille Stamm von der Gewerkschaft ver.di Baden-Württemberg unterstrich: "Dieser Krieg droht einen Flächenbrand des Hasses zu entfesseln, und dieser Krieg kostet Menschenleben." Der Stuttgarter Prälat Martin Klumpp meinte: "Mit Krieg bringen wir dem Terror nur noch mehr Menschenopfer." Aber wir bräuchten eine Weltfriedenspolitik, die Krieg verhindert.

Wie Stamm forderte auch Grässlin eine "gerechtere Weltordnung" . Er übte harte Kritik an der SPD und den Grünen. Die Grünen seien als Partei überflüssig. Sie verkämen zum Mehrheitsbeschaffer einer Kriegspolitik, betonte der Bundessprecher unter Beifall der Zuhörer.

"Anonym bleiben die Opfer der gewaltigen Flüchtlingswelle in Afghanistan", sagte Stamm. "Die Hilfswerke haben sich zurückgezogen. Tausendfacher Hungertod ist angesichts des nahenden Winters zu befürchteten." Die jetzt schon katastrophale Lage der afghanischen Bevölkerung werde durch die Bombardierung noch bedrohlicher, als sie ohnehin schon gewesen sei. Die Demonstranten führten zahlreiche Plakate mit sich. Zu Zwischenfällen kam es nicht.

Die Aktionen des "Friedensnetzes Baden-Württemberg" hatten am Vormittag im Stadtteil Vaihingen begonnen. Dort beteiligten sich etwa 180 Menschen an einer Mahnwache vor dem Haupttor der Kommandozentrale der USA für Europa und Nahost (Eucom). 120 Meter vor dem Tor hatte die Polizei eine Absperrung errichtet. Später versammelten sich Demonstranten im Hauptbahnhof; sie zogen dann zum Marktplatz.

Die Bundesspitze der Grünen hat sich ungeachtet großer Proteste in der Bevölkerung erneut klar hinter die Militäraktionen zur Terrorismusbekämpfung gestellt. Die Partei sei in Regierungsverantwortung und müsse sich der konkreten Bedrohungslage in der Welt stellen, sagte der Bundesvorsitzende Fritz Kuhn am Samstag in Stuttgart auf einer Regionalkonferenz der Grünen.

Bundestagsfraktionschef Rezzo Schlauch betonte: "Es gibt Situationen, in denen friedliche Mittel nicht ausreichen, Frieden zu schaffen." Die Anschläge vom 11. September seien ein Angriff auf die Moderne gewesen. Kuhn betonte, es wäre "ein Akt von hilflosem Pazifismus", sich nur auf den Präventionsaspekt zurückzuziehen und zu sagen: "Macht ihr mal". Die Militärschläge der USA mit Großbritannien seien ein Akt der Selbstverteidigung und durch die Resolution der Vereinten Nation mit dem Völkerrecht vereinbar.



Quelle: Thüringer Allgemeine 15.10.01.

Flug der Taube

Von TA-Korrespondent Wolfgang SUCKERT, Berlin

Es war herrlicher Sonnenschein und wohl 30.000 Menschen, laut Polizeiangaben waren es 15.000, gingen am Samstagnachmittag hin zur Berliner Demonstration "Kein Krieg! Aufstehen für den Frieden!" Einig waren sich dann Protestaktivisten und Ordnungshüter aber in der Erleichterung darüber, einen friedlichen Nachmittag erlebt zu haben. Über 140 Gruppen hatten zu diesem Protest gegen die Bombardierung Afghanistans durch die USA und Großbritannien aufgerufen. Unter den Unterzeichnern fanden sich auch der Jenenser Jugendklub "Kassablanca", die "Mütter gegen den Krieg" aus Thüringen sowie Weimarer Jusos.

Vor dem Schauspielhaus wurde es schnell eng, und die Teilnehmer selbst staunten, wer sich alles eingefunden hatte. Es waren viele Veteranen der Friedensbewegung, die auch einer riesigen Friedenstauben-Plastik aus den achtziger Jahren wieder einen Ausflug gönnten. Aber das Bild beherrschten vor allem ganz junge Leute. Unübersehbar auch die Mitglieder von "Attac", der Organisation der Globalisierungsgegner.

Zu den Aufrufern gehörte auch die PDS, deren politische Spitze mitmarschierte. Parteichefin Gabriele Zimmer erkannte in der Demonstration eine große Sehnsucht der Menschen nach Frieden. Ziemlich einsam und verloren stand Christian Ströbele von den Bündnisgrünen am Rand der Menge. Tapfer bestritt der Berliner Bundestagsabgeordnete, der einzige Grüne bei der Demonstration zu sein. Ihm wäre es schon lieber gewesen, seine Partei hätte hier im wahrsten Sinne des Wortes Flagge gezeigt. Über den Militäreinsatz erwartet er eine heftige Auseinandersetzung in den eigenen Reihen.

Die Organisatoren hatten sich geeinigt, dass keine Parteienvertreter an das Mikrofon durften. Neben der geschlossenen Ablehnung von Militäreinsätzen, die Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern und auch nicht zur Terroristenbekämpfung taugen, sprachen sich verschiedene der zehn Redner auch gegen deutsche Bundeswehreinsätze im Ausland oder die Rasterfahndung aus. Applaus erhielt die Schauspielerin Käthe Reichel, die der Bundesregierung verantwortungsloses Verhalten vorhielt. Verlesen wurden auch Grüße von Joan Baez und Harry Belafonte.

Unruhe kam nur auf, als NPD-Anhänger ein amerikafeindliches Transparent am Französischen Dom aufhängten. Ein kletterkundiger Demonstrant entfernte den Spruch, ohne dass es zu den befürchteten Zusammenstößen mit Neonazis kam.



Quelle: junge Welt 15.10.01.

"Wir geben keine Ruhe"

Rüdiger Göbel/Gerhard Klas

Friedensbewegung meldet sich zurück. Großproteste in Berlin und Stuttgart. Die Friedensbewegung hat sich zurückgemeldet.

Laut, verjüngt und selbstbewußt. Insgesamt über 70.000 Menschen gingen am Sonnabend in Berlin und Stuttgart auf die Straße. Sie protestierten gegen die anhaltende Bombardierung Afghanistans und forderten ein Ende des von Deutschland mit unterstützten US-Feldzuges. Weltweit fanden am Wochenende in zahlreichen Städten im Rahmen eines "Global Action Days" Demonstrationen gegen den US-Krieg statt. Allein in London protestierten nach Angaben der Veranstalter 100.000 Menschen.

"Der Krieg gegen Afghanistan wird den internationalen Terrorismus nicht beenden. Im Gegenteil", erklärte Peter Strutynski vor 50.000 Demonstranten auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Zu befürchten sei, daß die "Logik der Gewalt" triumphiere und sich die Spirale aus Terror und Krieg, Gewalt und Gegengewalt weiterdrehen werde. Ein breites Bündnis von über 100 Organisationen, Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden sowie Schülergruppen hatte zu dem Großprotest in der deutschen Hauptstadt aufgerufen. In Stuttgart gingen nach Veranstalterangaben 25.000 Menschen auf die Straße. Einen Gefallen werde man den Regierenden nicht tun, hieß es in Berlin: "Wir werden keine Ruhe geben." Die USA setzten derweil die Bombardierung afghanischer Städte und Dörfer fort.

"Wir müssen böse sein"

So etwas hatte es lange nicht mehr gegeben. Über 70.000 Menschen folgten am Wochenende den Rufen der von vielen totgesagten Friedensbewegung. In Berlin und Stuttgart protestierten sie auf zentralen Großkundgebungen gegen die anhaltende Bombardierung Afghanistans. Selbst beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor zwei Jahren waren so viele Menschen nicht auf die Straße zu bringen. Und lange nicht mehr waren so viele junge Menschen bei Antikriegsprotesten. Piercing, Trommeln und lauter Funpunk haben das lila Halstuch und den Schalmeienchor abgelöst, die geballte Faust das Peace-Zeichen.

Während so mancher "alte Hase" der Friedensbewegung an die Bundesregierung appellierte, sich der "Kriegslogik" zu entziehen, erklärte Sebastian Schlüsselburg von der Bundesschülervertretung in Berlin selbstbewußt: "Militärische Vergeltungsschläge haben keinen Rückhalt in der Schülerschaft in Deutschland, Herr Bundeskanzler!" Allen Maßregelungen und Abstrafungen an den Schulen zum Trotz werde man weiter gegen den Krieg protestieren. Tosender Applaus für den Schüler auf dem überfüllten Gendarmenmarkt in Berlins Mitte. 50000 haben sich nach Angaben der Veranstalter versammelt. Und wer vor Ort war oder die Bilder in den Abendnachrichten sah, wußte, wie lächerlich die Polizeiangaben von nur 15000 Demonstranten waren. Und doch wurde sie von vielen Medien gerne übernommen.

"Warum hat bin Laden die USA angegriffen?" fragen zwei junge Männer auf ihrem schwarzen Transparent. Und weiter: "Warum sind in islamischen Regionen so viele Menschen ermordet worden? Wer ist der größere Terrorist: Bin Laden oder USA?" Auf Nachfrage erklären sie, ihr Glaube verbinde sie mit den Menschen in Afghanistan. Weil sie den Angriffen auf das Land am Hindukusch nicht einfach nur ohnmächtig zusehen wollten, gingen sie auf die Straße. "Wir wollen mit unseren Fragen auch provozieren", erklärt einer, der seinen Namen allerdings nicht in der Zeitung genannt wissen will. Die Provokation ist gelungen. Ein vorbeieilender Passant raunzt ihn barsch an: "Hast du auch einen Pilotenschein gemacht?" Die Angst vor staatlicher Repression und Übergriffen der Bevölkerung ist in den islamischen Gemeinden groß dieser Tage, und wohl auch nicht unberechtigt. So hat keine ihre Mitglieder zur Teilnahme an den Protesten der Friedensbewegung aufgerufen. Und die Friedensbewegung ihrerseits scheint den Weg zu den Muslimen Deutschlands noch zu scheuen.

Auf dem Stuttgarter Marktplatz versammelten sich nach Angaben der Veranstalter 25.000 zur Abschlußkundgebung unter dem Motto "Kein Krieg! Aufstehen für den Frieden!". Friedensaktivisten, darunter auffallend viele Jugendliche, linke Organisationen und Parteien, Kirchengruppen, Gewerkschafter sowie zahlreiche Migrantenorganisationen stellten eine Demonstration, deren Größe alle überregionalen Manifestationen in der Landesmetropole während des Jugoslawien-Krieges in den Schatten stellte, so die Einschätzung ortskundiger Teilnehmer.

Fahnen oder Transparente von Bündnis 90/Die Grünen, die bis vor wenigen Jahren ihre Wurzeln vor allem auch in der Friedensbewegung hatten, waren nirgends zu sehen. Während die Menschen gegen den Krieg durch die Straßen zogen, tagten die Kreisdelegierten der Grünen aus Baden-Württemberg, einem traditionell starken Landesverband der Partei, im Stuttgarter Haus der Wirtschaft.

Wut statt Enttäuschung über die Haltung des Juniorpartners in der Regierung zeigte Jürgen Grässlin, Bundessprecher der deutschen Friedensgesellschaft. Die Haltung der Regierung und speziell der Grünen sei angesichts der Streubomben auf Afghanistan, die zahlreiche zivile Opfer forderten, mit nichts zu rechtfertigen. Grässlin rief die Demonstrationsteilnehmer unter jubelndem Beifall auf, dafür bei der nächsten Bundestagswahl die "Quittung auszustellen". "Die Grünen sind als Partei überflüssig geworden", so die vernichtende Kritik von Grässlin.

Sybille Stamm, Landesvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, warnte vor den Folgen des Krieges für den Sozialstaat: "Was der Sicherheitsstaat ausgibt, wird dem Sozialstaat genommen". Sie verwies auch auf Länder im Trikont. Dort seien mit Hilfe der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ganze Regionen ins soziale Elend gestürzt worden. Damit "haben sie den Nährboden für Terrorismus geschaffen". Wie ihr Vorredner forderte sie eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die allein die Wurzeln des Terrorismus bekämpfen könne. Sie bedauerte, daß auch einige ihrer hauptamtlichen Gewerkschaftskollegen ihre kritischen Fragen und Einschätzungen nach dem 11. September in den Vorwurf der "mangelnden Solidarität" mit den Opfern des Anschlags umgemünzt hätten. "Wir lassen uns unsere Betroffenheit über den 11. September nicht nehmen, nur ziehen wir andere Schlußfolgerungen", meinte die Gewerkschafterin. In Berlin kritisierte ihr Gewerkschaftskollege Peter Hofmann die Papiertiger in den Vorstandsetagen ihrer Organisationen. Wenn, ja wenn die Gewerkschaften erst zu Antikriegsprotesten mobilisieren würden, dann wären Hunderttausende auf den Straßen und der Gendarmenmarkt für eine Abschlußkundgebung zu klein.

Die Organisatoren des Großprotests fühlen sich von der enormen Resonanz bestätigt und bestärkt. "Man muß handeln", meinte eine Frau am Rande der Demonstration in Berlin. Ein Zeichen der Hoffnung ist gesetzt. Wie sang die linke Funpunk-Gruppe "böse MädCHEn" trotzig selbstbewußt und für manchen Friedenskämpfer noch ungewohnt: "Wir müssen böse sein." Tausende Fäuste reckten sich da euphorisch in den blauen Oktoberhimmel. Doch vom Protest zum Widerstand ist es noch ein weiter Weg.



Quelle: Südwestpresse (Ulm) 15.10.01

Friedensbewegung

US-Militärbasen droht Blockade

Berlin: Aus Protest gegen die Angriffe auf Afghanistan planen einige Gruppen der Friedensbewegung die Blockade von Einrichtungen der US-Armee sowie der Bundeswehr. Dies teilte der Sprecher des "Netzwerks Friedensinitiative", Manfred Stenner, mit. Es gebe innerhalb der Friedensbewegung Gruppierungen, die für einige Stunden lang Militäranlagen auf deutschem Boden "umzingeln" wollten, "um zu zeigen, wie ernst das Problem ist". In Frage kämen neben den US-Militärbasen auch die Standorte des Bundeswehr-Sonderkommandos KSK in BadenWürttemberg. (dpa)



Quelle: Stuttgarter Zeitung 15.10.01

Stumpfe Waffen

Auf die neuen Konflikte reagiert der alte Pazifismus hilflos

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin - so lautete die vielleicht populärste Parole der Friedensbewegung in den achtziger Jahren. Und jedem war damals klar, dass man diesen gefährlichen Schauplatz, dieses todbringende Unternehmen unter allen Umständen meiden sollte. Heute aber, nach dem 11. September 2001, könnte die Losung eine Bedeutung erhalten, die nicht im Sinne der Erfinder liegt. Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin - zur Friedensdemo, zur Mahnwache, zur Kasernenblockade. Denn die Aufforderung zum Gewaltverzicht ist zurzeit nicht wirklich angesagt, Pazifismus ist nicht in und die Großwetterlage für die Taube mit dem Ölzweig miserabel. Wie soll man den Angriffen von Fanatikern, die offensichtlich vor nichts zurückschrecken, denn anders beikommen als mit Gegenangriffen? Mit zur Versöhnung ausgestreckten Händen? Mit zierlich formulierten Petitionen? Mit Appellen an die Vernunft? Nein, für Pazifisten stehen die Zeichen nicht sehr günstig.

Man muss also kein Hellseher sein, um für die heute angesetzten Kundgebungen gegen den Krieg in Afghanistan nur einen mäßigen Zuspruch vorherzusagen. Es werden wohl einige tausend Menschen sein, die sich in unseren Städten versammeln und "Krieg ist Mord", "Keine Bomben auf Afghanistan" oder "Wir trauern mit den Opfern" auf ihre Fahnen geschrieben haben. Einige tausend - das ist nicht viel, wenn man an die hunderttausende denkt, die in den achtziger Jahren gegen die Nachrüstung auf die Straße gingen, oder an die (immerhin noch) zehntausende, die zu Beginn der neunziger Jahre ihre Parolen gegen den Golfkrieg skandierten. Mittlerweile aber ist die Zahl der für den Frieden Demonstrierenden deutlich geschrumpft - und da auch mit schnell zu gewinnender Laufkundschaft in diesen Tagen nicht mehr zu rechnen ist, wird sich landauf, landab wohl nur ein begrenzter, harter Kern von Kriegsgegnern, an den hoffentlich friedlichen Aktionen beteiligen.

Was diese Menschen eint, ist die Überzeugung, dass der Einsatz militärischer Gewalt kein Mittel zur Konfliktregelung ist - zumindest im vorliegenden Fall. Darauf haben sich die 27 Organisationen geeinigt, die sich im sehr bunt geknüpften Netzwerk Friedenskooperative zusammengeschlossen haben. Politische Organisationen aus dem linken Spektrum sind da ebenso vertreten wie christliche Gruppen; die Bewegung besteht also, grob gesprochen, aus zwei Fraktionen, die sich dann jenseits der aktuellen Forderung nach Gewaltverzicht durch die USA in ihren Motiven doch unterscheiden. Bei den einen speist sich das Engagement aus einer Mischung von Friedensliebe, Dritte-Welt-Solidarität und Globalisierungskritik, bei den anderen aus einem unbedingten, immer gültigen, also puren Pazifismus. Vor allem die Vertreter kirchlich-religiöser Initiativen dürften der letztgenannten Fraktion angehören. Und vor allem sie haben in der laufenden Anti-Terror-Debatte einen schweren Stand: Ihnen gehen mittlerweile die Argumente aus.

Denn die Zeiten haben sich geändert - und mit ihnen die Konfliktlagen, auf die Politik und Militär eine Antwort finden müssen. Früher, also in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigte sich die Welt noch überschaubar. Fast alle militärischen Auseinandersetzungen, ob im Nahen oder im Fernen Osten, in Afrika, Mittel- oder Südamerika, fanden im Schatten des Kalten Krieges statt. Zwei Großmächte (inklusive ihrer Verbündeten) standen sich feindlich gegenüber, atomar hochgerüstet und bisweilen so nervös, dass man in einigen Phasen der Nachkriegsgeschichte um den Frieden ernsthaft bangen musste. Es herrschte ein Gleichgewicht des Schreckens, das bei aller Irrationalität doch einen Vorzug hatte: Es war von Gegnern ausgehandelt worden, die letztlich doch berechenbar blieben. Nicht nur internationale Verträge, Konventionen und Organisationen zähmten die USA und die Sowjetunion, sondern auch der schiere Überlebenswille. Ein weltweiter Atomkrieg, das war damals allen klar, würde keine Sieger und keine Verlierer kennen. Er würde sogar die gesamte Menschheit auslöschen, er wäre schlicht die Apokalypse.

Spätestens an diesem Punkt konnte die Friedensbewegung einhaken. Denn hier griffen ihre Argumente: Mit dem grenzenlosen Wettrüsten, so sagten sie, wüchse nicht unbedingt die Sicherheit des eigenen Landes, sondern vor allem die Kriegsgefahr. Um sich einer möglichen Bedrohung zu erwehren, sollte man deshalb nicht auf militärische Stärke und Gewalt, sondern auf Diplomatie und andere friedliche Formen der Konfliktlösung setzen; und wenn es denn zu einer Okkupation des eigenen Landes kommen sollte, müsste man zur sozialen Verteidigung und zum zivilen Ungehorsam übergehen. Derart könnte man sich dem Feind widersetzen, ohne einen weltumspannenden Atomkrieg zu provozieren, an dem kein Amerikaner, kein Russe, kein Deutscher, kein Chinese, kein Araber auch nur das geringste Interesse haben könnte, sofern er sein Leben liebe und an ihm hänge. So weit, so gut: die pazifistische Argumentation konnte triftige Gründe für sich reklamieren - zumindest jedenfalls in der Zeit des Kalten Kriegs.

Wie aber können uns Pazifisten heute, nach dem 11. September 2001, vom Verzicht auf militärische Gewalt überzeugen? Mit den Argumenten von damals jedenfalls kaum, eben weil sich der aktuelle Konflikt so grundlegend von dem unterscheidet, was wir bisher unter Krieg verstanden haben. In einem Essay für den "Spiegel" weist der SPD-Vordenker Erhard Eppler auf diese neue Qualität der Auseinandersetzung hin. Was in diesen Tagen in Afghanistan geschehe, sei kein Krieg zwischen zwei Staaten. Es sei ein Kampf gegen den Terror, so Eppler, ein Kampf gegen diese "entstaatlichte, privatisierte, kommerzialisierte und oft auch kriminelle Gewalt", die sich - eben anders als staatliche Gewalt - an keine Regeln gebunden fühle. In der Tat: die Träger dieser Gewalt sind in ihrem Fanatismus völlig unberechenbar, also auch untauglich für die sonst bewährten Muster der Gesprächsdiplomatie, und zudem bis zum Äußersten entschlossen: Sie jagen sich selbst in die Luft, wenn sie nur die Gewissheit haben, dass möglichst viele Feinde bei ihrem Kamikaze-Unternehmen mit in den Tod gerissen werden. Siehe New York und Washington: die Selbstmordattentäter, beseelt vom "Drang zur Selbstbeschädigung" (Hans Magnus Enzensberger), hingen nicht sonderlich an ihrem Leben - was soll da der Appell an den Überlebenswillen?

So bitter die Erkenntnis ist: die Forderung, in der Welt (und jetzt in Afghanistan) auch ohne Waffen Frieden zu schaffen, hat an Überzeugungskraft verloren. Sie kommt jetzt, nach den Angriffen auf die USA, auf jeden Fall zu spät. Die Terroristen lassen sich nicht an den Verhandlungstisch bitten, sie unterschreiben auch keine Verträge. Sie verstehen leider nur die Sprache der Gewalt. Darum lassen sich am heutigen Samstag wohl keine Menschenmassen mobilisieren, um gegen die Bomben auf Kabul, Kandahar und Dschalalabad zu protestieren. Es werden, von Ausnahmen abgesehen, kleine Häuflein bleiben, die sich den Krieg vorstellen und zur Friedensdemo gehen. Das freilich sollte kein Grund zum Spott über Gutmenschen sein. Denn als Korrektiv und Regulativ zur herrschenden Meinung ist die Stimme der Pazifisten nach wie vor wichtig, in diesen Zeiten der allgemeinen Zustimmung zu Militärschlägen vielleicht noch wichtiger als früher: Sie erinnert uns daran, dies zumindest, dass der Frieden ein hohes und schützenswertes Gut ist. Es könnte nämlich sein, dass wir diese banale Einsicht unter dem Eindruck eines gerechten Kriegs, der aller Erfahrung nach nicht nur Terroristen trifft, in den kommenden Tagen allmählich vergessen.

Von Roland Müller



Quelle: Stuttgarter Nachrichten 15.10.01.

Zulauf für die Friedensbewegung

Konfessionelle Gruppen wehren sich gegen Kriminalisierung - Prälat Klumpp Redner auf der Demo

Mehr als 30 Initiativen rufen am heutigen Samstag zu einer Demonstration für Frieden auf. Darunter finden sich auch konfessionelle Gruppen aus Stuttgart, die seit den Terrorakten gegen die USA wieder größeres Interesse bei der Bevölkerung feststellen.

VON BARBARA CZIMMER-GAUSS

Während die meisten Menschen nach dem Terroranschlag am 11. September wie gebannt auf die Reaktion der US-amerikanischen Politiker warteten, macht sich seit den Militärschlägen gegen die Taliban auch Angst vor einer Eskalation der Ereignisse breit. In dieser beunruhigenden Lage suchen mehr Menschen als sonst Antworten in der Kirche und deren Friedensgruppen. "Uns erreichen weitaus mehr Anrufe und E-Mails als noch vor diesen Ereignissen", bestätigt Stefan Schneider, Geschäftsführer der Pax-Christi-Bistumsstelle Rottenburg-Stuttgart. Mittlerweile hat sich bei Heidenheim eine neue Gruppe gebildet.

Einen Beschluss der Mitgliederversammlung, der in Württemberg 600 Menschen angehören, gebe es noch nicht, allerdings eine Tendenz: "Wir lehnen mehrheitlich die Angriffe der USA ab." Selbst der Sekretär von Pax Christi in den USA, der mitgliederstärksten Bewegung, habe sich, so Schneider, "gegen Militärschläge ausgesprochen".

Das Etikett des Antiamerikanismus will sich niemand anheften lassen. "Wir fordern vielmehr polizeiliche und rechtsstaatliche Mittel gegen den Terrorismus statt eines Krieges", sagt Paul Russmann, Sprecher der ökumenischen Aktion Ohne Rüstung Leben. Auch an sein Aktionsbüro wenden sich seit dem 11. September wieder mehr Menschen, "die Besonnenheit fordern und erschrocken darüber sind, dass man den USA gegenüber eine gewisse Vasallenhaltung einnimmt". Das Argument, dass man mit diplomatischen, politischen Mitteln im Konflikt mit den Taliban wenig erreichen würde, setzt der Diplom-Theologe entgegen: "Wenn man nicht mehr an die Kompromissfähigkeit anderer glaubt, gibt man sich selbst auf. Wir sollten keine Schlacht, sondern Menschen gewinnen."

Beunruhigend findet Russmann den Umstand, "dass man heute entweder für Militärschläge oder Terrorist ist", mithin als Friedensbewegter dem extremen politischen Lager zugerechnet wird. In dieser angespannten Stimmungslage stärkt der Stuttgarter Prälat Martin Klumpp der Friedensdemonstration den Rücken, und zwar als Redner der Abschlusskundgebung auf dem Marktplatz gegen 13.30 Uhr. Sein Motto lautet: "Krieg darf um Gottes willen nicht sein."



E-Mail: friekoop@bonn.comlink.org

Website: www.friedenskooperative.de
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