Rechtsextremismusvorwürfe in der Ukraine und Russland

Alles Faschisten, außer ...

von Björn Kunter

In der Berichterstattung über die Ukraine tauchen allenthalben Faschisten auf. Manche betrachten die (inzwischen aufgelöste) Interimsregierung als „faschistische Junta“, andere sehen die Annexion der Krim und die selbsternannten Volksrepubliken in Donetzk und Lugansk als Teil eines faschistisch-imperialistischen Projekts zur Schaffung eines neuen Großrusslands. Offensichtlich hängt die Frage, wer als Faschist bezeichnet wird, vor allem vom eigenen Standpunkt ab. Angesichts des tobenden Propagandakrieges scheint es fast unmöglich, noch die Wahrheit zu erkennen.

Was sind überhaupt Faschisten? Schon diese einfache Frage lässt sich im ehemals sowjetischen Raum nicht einfach beantworten, weil der Begriff des Faschismus untrennbar mit dem wichtigsten staatstragenden Ereignis der Sowjetunion verbunden ist: Dem Großen Vaterländischen Krieg, also dem Sieg über „Hitler-Deutschland“ bzw. den „Faschismus“, nicht etwa über den „Nationalsozialismus“, denn das darin steckende Wort „Sozialismus“ war der Stalin‘schen Propaganda in diesem Zusammenhang offensichtlich unangenehm. Der große Vaterländische Krieg wurde bekannterweise gewonnen und alle folgenden sowjetischen und später russländischen Herrscher nutzten den Glanz dieses Sieges zur Legitimierung der eigenen Macht und erklärten sich faktisch zum Antifaschisten Nummer eins, während die Systemopposition als „faschistisch“ deklassiert und gewissermaßen entmenschlicht wurde. Dieser Missbrauch des Antifaschismus wurde im postsowjetischen Raum bis heute nicht aufgearbeitet. Auch der heutige Gebrauch des Wortes Faschismus in der Ukraine steht eher in dieser Tradition des „antifaschistischen Schutzwalls“.

Aber es gibt doch Rechtsextreme in der Ukraine und Russland?
Ja, doch gerade als Deutsche sollten wir hier sehr vorsichtig sein. Gerade wir Linken sind versucht, extremen Nationalismus und Nationalsozialismus gleichzusetzen. Doch was im deutschen Kontext schlüssig ist, kann nicht so einfach auf andere Länder übertragen werden.

In der Ukraine etwa war die Vereinigung „Freiheit“ (Swoboda) vor allem eine populistische Partei, die sich vorrangig als radikalster Gegner des herrschenden Systems unter Janukowitsch profilierte und als solche gewählt wurde, zudem war und ist sie russlandfeindlich eingestellt. Nicht überraschend wurde sie daher vor allem in denjenigen Regionen gewählt, die erst durch den Hitler-Stalin Pakt an die Sowjetunion angeschlossen wurden. In den anderen Gebieten der Ukraine war sie mit dieser Position jedoch nicht mehrheitsfähig, weshalb Janukowitsch die „faschistische“ „Freiheit“ auch als Wunschgegner protegierte. Als populistische Partei hatte sie aber neben dem üblichen Anteil an Hitzköpfen durchaus auch klare Rechtsextreme in ihren Reihen. Einerseits Menschen aus der ukrainischen Neonaziszene, vor allem in der Gruppierung „C14“, die teilweise als paramilitärischer Arm der „Freiheit“ auftrat. Andererseits auch Bewunderer des Hitler‘schen Nationalsozialismus, wie der Historiker und Parlamentsabgeordnete Mychaltschyschyn. Beide Gruppierungen hatten aber keinen erkennbaren Einfluss auf die „Freiheits“-Minister in der Übergangsregierung. Mit der Auflösung der Regierung und den bevorstehenden Parlamentswahlen im Herbst wird sich das Problem Svoboda höchstwahrscheinlich auch gelöst haben. Gefährlicher und für die Ukraine auf Dauer problematischer sind zwei andere Phänomene:

Zum einen gibt es in der ukrainischen Wählerschaft weiterhin ein sehr großes populistisches Potenzial von mindestens 15%. Wenn jetzt Wahlen wären, käme das vor allem der Radikalen Partei von Oleg Ljaschko entgegen, die offensichtlich ein Bündnis mit der „Sozial-Nationalen Versammlung“ (SNV) eingegangen ist und dieser neonazistischen Splittergruppe Listenplätze bei den Kiewer Stadtratswahlen angeboten hat. Die SNV, die ihren Nationalismus unter anderem als „rassisch, sozial, anti-demokratisch und anti-kapitalistisch ...“ (1) bezeichnet, war vor allem durch Straßengewalt gegen Einwanderer und Handlanger für kriminelle Politikermilieus aufgefallen, bevor sie im November den „Rechten Sektor“ mitgründete. Bei den Wahlen im Herbst könnten also trotz zu erwartender Verluste der „Freiheit“ und der parteipolitischen Bedeutungslosigkeit des „Rechten Sektors“ mehr Neonazis ins Parlament gewählt werden als zuvor. Ljaschko selbst hat keine klare Ideologie, seine einfachen Losungen kommen jedoch durchaus an, und mit militärischen Aktionen in Wildwest Manier (2) signalisiert er Entschlossenheit und Kampfeswillen, was ihm im patriotischen Taumel des Bürgerkriegs Zustimmung und Stimmen bringt. Zum anderen konnte die Ukraine im Krieg gegen russische, oder von Russland unterstützte, Einheiten nur wenig auf die von russischen Geheimdiensten durchsetzte Ukrainische Armee zählen und hat daher zahlreiche Freiwilligenverbände gründen lassen, die nur formal dem Innenministerium zugeordnet sind, aber unabhängig handeln. Schon alleine die Existenz solcher privatwirtschaftlich finanzierter Kampfeinheiten ist äußerst fragwürdig und birgt die Gefahr einer Verselbstständigung der Milizen, wie wir sie aus anderen Kriegsgebieten kennen. Zugleich dienen die Freiwilligenbataillone als Sammelbecken für rechtsextreme und gewaltbereite Gruppen. So wird das von Ljaschko wahrscheinlich auch finanziell unterstützte Bataillon „Azow“ nach Angaben ehemaliger Kämpfer inzwischen als Arm der „Sozial-Nationalen Versammlung“ geführt.

Einschränkend muss jedoch auch gesagt werden, dass die wenigen hundert Kämpfenden in rechtsextrem dominierten Verbänden, selbst in den Freiwilligenbataillonen, eine Minderheit darstellen und bezogen auf die Gesamtheit aller ukrainischen Einheiten eine Randerscheinung bleiben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die ultranationalistischen Kämpfer in einer demokratischen Ukraine kaum mehr Einfluss haben, als die bis 2013 bekannteste nationalistische Splittergruppe UNA-UNSO, deren Mitglieder in den neunziger Jahren Kampferfahrungen in den Auflösungskriegen der Sowjetunion von Transdnistrien bis Berg Karabach gesammelt hatten. In Kombination mit Populisten wie Ljaschko oder bei anhaltender Destabilisierung der Ukraine, oder falls die demokratische Erneuerung der Ukraine fehlschlägt und die kriminell-unternehmerischen Strukturen ihre Auseinandersetzung weiterhin mit angeheuerten Schlägern austragen, kann die jetzt erfolgte Verteilung von Waffen und Kampferfahrungen die Ukraine um Jahrzehnte zurückwerfen.

 

Und wieso wird Putin mit Faschisten in eine Reihe gestellt?

Zum einen empfinden viele Menschen in der Ukraine die Politik Putins als imperialistisch, sie sehen, dass er wieder die Größe der Sowjetunion erreichen will und fragen sich mit einiger Berechtigung, was das für ihre eigene Unabhängigkeit bedeutet. Zugleich hat die Regierung Putin in den letzten Jahren immer wieder mit Ultranationalisten geliebäugelt, doch zwischen Putins Eurasischer Union als alternatives Integrationsprojekt zur Europäischen Union und den Vorstellungen Alexander Dugins oder Shirinowskijs, deren eurasische Visionen die Gründung eines ganz neuen russischen Staats beschwören, liegen Welten. Auch Putin ist „nur Nationalist“. Jedoch verbindet sich der radikale Neonazismus in Russland gut mit den bestehenden chauvinistischen Tendenzen einer Großmacht. So hat sich im Russland der letzten Jahrzehnte eine Neonaziszene entwickelt, die immer wieder auch Überfälle, Pogrome und tödliche Angriffe auf „Kaukasier“, Schwule und Linke organisiert, ohne dass der Kreml dem erkennbare Grenzen gesetzt hätte. Besonders deutlich wurde dies Anfang Mai, als friedliche Antikriegs-Proteste durchgehend aufgelöst wurden, während neonazistische Gruppen ungehindert durch Moskau marschieren konnten.

Zudem fördert der Krieg auch in Russland und im Donetzker und Lugansker Gebiet gerade die ultranationalistischen radikalen und paramilitärischen Kräfte. So entsprangen der Euromaidan wie seine Gegenbewegung, der Anti-Maidan, durchaus ähnlichen sozialen und politischen Ängsten, doch die Protestbewegung im Südosten der Ukraine wurde von den bewaffneten Separatisten faktisch übernommen. Einer Studie vom Anfang April nach befürworteten gerade 15% der Bevölkerung in den südöstlichen Landesteilen eine Loslösung von der Ukraine, und selbst in Donezk und Lugansk, wo die Unterstützung mit 28% und 30% am höchsten ausfiel, sprachen sich absolute Mehrheiten für den Verbleib in der Ukraine aus. 72% bzw. 58% lehnten die Besetzung von Gebäuden mit Waffengewalt ab. Auch der selbsternannte Führer der Donetzker Volksrepublik, Pawel Gubarew, ein ehemaliges Mitglied der inzwischen in Russland als neonazistisch verbotenen paramilitärischen Gruppierung „Russisch Nationale Einheit“, war kein anerkannter politischer Führer, sondern politisch ein unbeschriebenes Blatt. Einige Monate später spielt die lokale Bevölkerung quasi nur noch eine Statistenrolle. Alle drei Führer der Donezker Volksrepublik (Strelkow, Borodai und Antjufejew) kommen aus dem Umfeld der ultranationalistischen Zeitung „Der Morgen“ und können neben Karrieren im Umfeld der russländischen Geheimdienste auf eine politisch-militärische Sozialisation im Transdnistrischen Bürgerkrieg zurückblicken.

Also alles nur halb so schlimm?
Keinesfalls, denn Krieg und Sterben gehen ungehindert weiter. Der ganze Streit um die „Faschisten“ zeigt nur, dass der Begriff hier weniger zur Wahrheitsfindung als zu ihrer propagandistischen Vernebelung beiträgt. Weder der „Faschismusbegriff“ des zweiten Weltkriegs noch der des Kalten Krieges sind in der Ukraine relevant. Wer in dieser Situation seine Gegner als faschistisch bezeichnet, trägt nicht zum Frieden bei, sondern hetzt die Parteien gegeneinander auf.

Nie wieder Krieg!

Anmerkungen
1 Zitiert nach Anton Schechostow http://anton-shekhovtsov.blogspot.de/2014/06/blog-post.html?m=0 (Übersetzung BK)

2 Amnesty international wirft Ljaschko die Entführung und Misshandlung des ehemaligen Verteidigungsministers der Donetzker Volksrepublik, Igor Chakmisjanow, vor. („Abductions and Torture in Eastern Ukraine“, amnesty international, July 2014, S. 14) Einen guten Einblick in die illegale Menschenjagd bietet auch der Videobericht des VICE Magazins https://news.vice.com/video/russian-roulette-dispatch-56

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Krisen und Kriege

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Björn Kunter ist seit zwanzig Jahren in der zivilgesellschaftlichen Friedensarbeit und Demokratieförderung in Belarus, Russland und der Ukraine tätig. In 2014 koordinierte er ein durch die oben genannten Sondermittel finanziertes Projekt der KURVE Wustrow.