Atomkraftwerke

Der Atomausstieg ist eine Schnecke

von Jochen Stay

Vier Jahre nach Fukushima ist der Streit um die Atomkraft nur noch selten Thema in der Öffentlichkeit. Doch noch immer ist Deutschland zweitgrößter Atomstrom-Produzent in der EU. Derweil versuchen sich die AKW-Betreiber um die Folgekosten der Atomkraft zu drücken, und die Probleme mit dem Atommüll nehmen weiter zu. Noch genug zu tun also für die Anti-Atom-Bewegung.

Deutschland steigt aus der Atomenergie aus.“ So oder ähnlich ist es immer wieder in den Medien zu lesen oder zu hören. In Beiträgen zur Energiepolitik heißt es manchmal sogar: „Jetzt nach dem Atomausstieg stehen wir vor folgenden Herausforderungen ...“. Immer mehr Menschen meinen angesichts dieser Berichterstattung, es gäbe hierzulande gar keine laufenden Atomkraftwerke mehr.

Die Realität ist eine andere: Deutschland ist nach Frankreich noch immer zweitgrößter Produzent von Atomstrom in der EU und wird es noch auf Jahre bleiben. 2011 gab es in Folge der Fukushima-Katastrophe nur einen halben Atomausstieg. Die acht kleinsten AKW wurden abgeschaltet. Die neun größeren laufen weiter. Zusätzlich gibt es in Gronau/Westfalen eine Urananreicherungsanlage, die jedes zehnte AKW weltweit mit Brennstoff versorgt.

Der Atomausstieg ist eine Schnecke: Zwischen Juni 2011 und Mai 2015 wurde kein einziges AKW abgeschaltet, bis jetzt im bayerischen Grafenrheinfeld endlich ein Reaktor vom Netz geht. Und in den nächsten vier Jahren bis Juni 2019 soll nur ein einziger weiterer Meiler abgeschaltet werden. In gewissem Sinne ist es ein Meisterwerk der politischen PR, den jahrelangen Weiterbetrieb von alten Reaktoren einfach „Atomausstieg“ zu nennen und damit einen Teil der kritischen Öffentlichkeit zu beruhigen.

Erst 2022 sollen dann innerhalb von zwölf Monaten sechs große Atomkraftwerke ihre Produktion einstellen. Bis dahin droht Tag für Tag der Super-GAU. Und es entsteht ständig weiter hochradioaktiver Atommüll.

Würde mir ein guter Freund erklären, er habe beschlossen, 2022 mit dem Rauchen aufzuhören, dann würde ich ihn nicht beglückwünschen, sondern hoffen, dass er die Jahre bis dahin überlebt. Und ob er sich dann noch an seinen Beschluss erinnert?

Den Ausstiegsbeschluss nach Fukushima haben die Stromkonzerne nie akzeptiert. Stattdessen klagen sie auf allen Ebenen dagegen. Und sie haben bei der Großen Koalition durchgesetzt, dass Ende 2016 die Brennelementsteuer abgeschafft wird, die derzeit einen Großteil der Gewinne von Atomkraftwerken aufzehrt. Ab 2017 beginnt also das goldene gewinnträchtige Ende für die alten Reaktoren. Und da kann es gut sein, dass der ein oder andere noch ein paar Jährchen mehr mitnehmen will. Politisch wird das dann wahrscheinlich so verkauft: „Es bleibt beim Atomausstieg. Er dauert nur ein bisschen länger.“

Besonders bitter an der augenblicklichen Situation ist die Tatsache, dass inzwischen bei fünf der acht weiter laufenden AKW grüne Landes-Umweltminister für die Atomaufsicht zuständig sind: Franz Untersteller in Stuttgart, Stefan Wenzel in Hannover und Robert Habeck in Kiel. Doch anstatt die bekannten Schwachstellen der Reaktoren zu nutzen, um die Betreiber mit Nachrüstungsauflagen unter Druck zu setzen, halten die Minister und ihre obersten Atomaufseher mehr oder weniger still. Das haben sich die WählerInnen der Grünen bestimmt anders vorgestellt.

Zu Recht wird, auch von den Grünen, der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) dafür kritisiert, dass er wo es nur geht die Energiewende sabotiert. Aber genauso sollten die grünen Atomminister gefragt werden, was sie denn selbst konkret für eine Beschleunigung des Ausstiegs tun.

„Bad Bank“ für Atomkraftwerke
Doch nicht nur der lange Weiterbetrieb störanfälliger Reaktoren als solcher macht AtomkraftgegnerInnen Sorgen. Heiß diskutiert wird derzeit die Frage, wer denn eigentlich für die Folgekosten der Atomkraft aufkommt, sprich: Wer zahlt für den Abriss der verstrahlten Meiler und die Lagerung des Atommülls?

Laut Gesetz müssen das diejenigen, die all die Jahre fürstlich am Geschäft mit dem Atomstrom verdient haben, die Betreiber der AKW und ihre Mutterkonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall. Sie haben bislang etwa 38 Milliarden Euro Rückstellungen für diese Zwecke gebildet. Allerdings wird inzwischen mit deutlich höheren Kosten gerechnet. Und die Rückstellungen liegen nicht als Geld im Tresor, sondern wurden beispielsweise in Kohlekraftwerke investiert, die sich immer weniger rechnen. Geht ein Stromkonzern in die Insolenz, dann ist das Geld verbrannt. Und da es RWE, Eon und Co inzwischen längst nicht mehr so gut geht, ist so ein Szenario nicht mehr ausgeschlossen.

Einen eigenen Weg geht Eon. Zuerst klang es wie eine gute Nachricht: Der Konzern trennt sich von seinen Atom- und Kohlekraftwerken und setzt auf Erneuerbare Energien. Eon hat erkannt, so schien es, dass in fossil-nuklearen Kraftwerken nicht die Zukunft liegt. Doch die Aufteilung des Unternehmens in zwei unabhängige Gesellschaften beschleunigt nicht den Ausstieg. Stattdessen ermöglicht sie Eon, sich vor den Folgekosten der Atomkraft zu drücken.

Der Konzern würde in Zukunft nicht mehr für die Kosten zur Verantwortung gezogen werden können, die beim Abriss von Atomkraftwerken und der Lagerung des Atommülls anfallen. Die dafür gebildeten – aber eben nicht ausreichenden – Rückstellungen gehen zusammen mit den AKW an das neue Dreckstrom-Unternehmen „Uniper“ über, quasi eine Art „Bad Company“. Wenn Uniper in ein paar Jahren pleitegeht, dann ist alles Geld weg und der Staat muss einspringen, während der von den Altlasten befreite Eon-Konzern munter weiter Gewinne einfahren kann.

Der Eon-Deal hat noch einen Nebenaspekt: Die Ausgliederung der Atom- und Kohlestrom-Produktion unter dem neuem Namen „Uniper“ führt nicht dazu, dass Eon-KundInnen weniger schmutzige Energie ins Haus geliefert bekommen. Denn die wird der dann angeblich grüne Konzern weiter bei dem neuen Schwester-Unternehmen einkaufen. Es ist nur nicht mehr so offensichtlich – und damit weniger schlecht fürs Image. Man nennt es Greenwashing oder schlicht Etikettenschwindel.

In der Debatte um die Rückstellungen geistern verschiedene Modelle durch die öffentliche Debatte. Die Stromkonzerne selbst hatten vorgeschlagen, die Gelder in eine Atomstiftung einzubringen, die dann vom Staat verwaltet wird. Allerdings ist ihre Bedingung, dass etwaige Preissteigerungen in Zukunft von den SteuerzahlerInnen finanziert werden und nicht mehr von den AKW-Betreibern. So würde diese Stiftung zu einer Art „Atom-Bad-Bank“.

Die Anti-Atom-Bewegung fordert hingegen einen öffentlich-rechtlichen Fonds, in den die Konzerne einzahlen müssen – und zwar nicht nur einmal, sondern immer dann, wenn die Kosten höher ausfallen, als ursprünglich geplant.

Die Atommüll-Probleme wachsen
Das Thema Atommüll spielt nicht nur unter finanziellen Aspekten in der atompolitischen Debatte eine große Rolle. Der Bewegung ist es zwar vorläufig gelungen, weitere Castor-Transporte nach Gorleben zu stoppen. Doch ab 2017 sollen die 26 noch ausstehenden Behälter aus La Hague und Sellafield zu anderen Zwischenlager-Hallen in Deutschland gebracht werden. Das Problem: Seit mehr als zwei Jahren können sich Bund und Länder nicht darauf einigen, wo diese Transporte hingehen sollen.

Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die gesamte Atommüll-Diskussion. Zwar wurde 2011 von Bund und Ländern ein Neustart bei der Suche nach einem langfristigen Lager für hochradioaktiven Strahlenmüll verkündet. Aber wenn die Länder noch nicht einmal bereit sind, einige Castor-Behälter anzunehmen, wie soll dann glaubwürdig sein, dass sie allen Atommüll der Republik bei sich für immer lagern würden.

2013 wurde von Bundestag und Bundesrat kurz vor der Wahl in aller Eile das Endlagersuchgesetz beschlossen, das das Gerede vom Neustart noch unglaubwürdiger erscheinen lässt. Zwar ist immer wieder von einer angeblich weißen Landkarte als Ausgangsbasis für die neue Suche die Rede. Aber ein einziger Standort ist im Gesetz bereits benannt, nämlich der alte: der marode Salzstock Gorleben ist damit gegenüber allen anderen möglichen Standorten weiter Favorit.

Die seit Frühjahr 2014 tagende Atommüll-Kommission hat nur noch wenig Einfluss auf das neue Suchverfahren, denn schon fast alles ist im Gesetz festgelegt. Änderungsvorschläge müsste die Kommission mit Zweidrittelmehrheit beschließen, und dann müsste der Bundestag bereit sein, das Gesetz entsprechend zu ändern. Da aber in der Kommission die BefürworterInnen von Gorleben in der Mehrheit sind, ist absehbar, was dabei herauskommen wird. Der Großteil der mit dem Thema Atommüll befassten Anti-Atom-Initiativen und Umweltverbände hat deshalb die Mitarbeit in der Kommission abgelehnt.

Die realen Probleme mit der Lagerung des Atommülls nehmen derweil ständig zu. Das Konzept der Zwischenlagerung von hochradioaktivem Atommüll in Castor-Behältern hat einen schweren Schlag durch das Brunsbüttel-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bekommen. Demnach ist die dortige Lagerhalle nicht gesichert gegen Flugzeugabstürze, und so hat das Gericht die Betriebsgenehmigung kassiert. Jetzt lagern die Castoren ohne Genehmigung, denn es gibt auch nirgends sonst einen Platz für sie. Und dabei ist die Halle in Brunsbüttel noch die stabilste aller 17 bundesdeutschen Zwischenlager für hochradioaktiven Atommüll.

In vielen Atomkraftwerken und Atomfabriken tauchen in den letzten Jahren zudem Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem Müll auf, die rostbefallen oder bereits undicht sind. Inzwischen sind es mehr als 2.000. Wenn die Atomwirtschaft verspricht, sie sei in der Lage, ihren Müll Jahrtausende sicher zu lagern, aber in Realität schon nach einigen Jahrzehnten auf einem Berg durchrostender Fässer sitzt, dann ist das alles andere als vertrauenserweckend.

Unsere Nachkommen werden die Produktion unendlich lang strahlender Abfälle, die niemals ohne Risiko gelagert werden können, als Verbrechen unserer Generation bezeichnen.

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