Allgemeine Dienstpflicht

„Deutschlanddienst“

von Ute Finckh-Krämer
Schwerpunkt
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Seit Jahrzehnten wird immer wieder darüber diskutiert, ob die Wehrpflicht durch eine allgemeine Dienstpflicht für junge Erwachsene ersetzt werden soll. Lange waren es vor allem ältere Bundespolitiker der Unionsparteien, die - besonders gerne im „Sommerloch“ - die Wehrpflicht für junge Männer durch eine allgemeine Dienstpflicht, die auch für junge Frauen gilt, ersetzen wollten. Mit der Zeit hat sich das Spektrum derjenigen, die für eine allgemeine Dienstpflicht – neuerdings teilweise als „Deutschlanddienst“ verharmlost – plädieren, ausgeweitet: Die Wortmeldungen kommen auch von Frauen (z.B. der Verteidigungsministerin und Noch-CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer), explizit linken Kolumnist*innen (z.B. Mathias Greffrath), unter Dreißigjährigen (z.B. dem CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor) oder Sozialdemokrat*innen (z.B. Sigmar Gabriel).

Es gab und gibt verschiedene Gründe, aus denen heraus eine allgemeine Dienstpflicht gefordert wurde und wird. Mit der Öffnung der Bundeswehr für Frauen als Freiwillige und dem Aufbrechen klassischer Rollenbilder wurde seit etwa 20 Jahren die Frage aufgeworfen, warum die Wehrpflicht (und damit der Zivildienst) nur Männer betrifft. Die Beispiele Israel (Wehrpflicht auch für Frauen seit 1949), Norwegen (Wehrpflicht für Frauen seit 2016) und Schweden (Wiedereinführung der Wehrpflicht für beide Geschlechter 2018), haben diese Diskussion zusätzlich befeuert. In Norwegen und Schweden ist allerdings nur die Musterung Pflicht, wer anschließend nicht einberufen werden will, wird es aktuell normaler Weise auch nicht.

Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland 2011 führte zu einer Debatte darüber, ob nicht der Zivildienst über eine allgemeine Dienstpflicht aufrechterhalten werden müsse. Diese Debatte wurde durch die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes und die Umwandlung des Bundesamtes für den Zivildienst in das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben allerdings schnell beendet, da es seit Einführung des Bundesfreiwilligendienstes durchgehend mehr Bewerber*innen als Plätze gab.

Vielfach widerlegt, aber offensichtlich nicht aus der Welt zu bekommen ist die Behauptung, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht als Teil einer allgemeinen Dienstpflicht die offensichtlichen Nachwuchsprobleme der Bundeswehr lösen könnte. Dass schon vor Aussetzung der Wehrpflicht die Rekrutierung von Zeit- und Berufssoldat*innen weitgehend nicht unter den Grundwehrdienstleistenden erfolgte, ist anscheinend nur wenigen Journalist*innen und Politiker*innen bekannt.

Ein weiterer Argumentationsstrang ergab sich durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre in fast allen Bundesländern, teilweise kombiniert mit einer Vorverlegung des Einschulungsalters. Beides trägt dazu bei, dass die Zahl der Abiturient*innen wächst, die nach dem Abitur noch keine richtige Vorstellung davon haben, ob und ggf. was sie studieren oder welche Berufsausbildung sie machen wollen. Damit fühlen sich immer wieder ehemalige Wehr- oder Zivildienstleistende, die nach ihrer eigenen Erinnerung erst in der Zeit des Wehr- oder Zivildienstes herausgefunden haben, welchen Beruf sie wählen wollen, dazu berufen, einen Pflichtdienst für die heutige Jugend zu fordern. Nach dem alten Prinzip: Was mir damals genutzt hat, muss doch für alle gut sein.

Ein Dauerbrenner ist die Argumentation, man müsse eine egoistische Jugend dazu zwingen, etwas „für die Gemeinschaft“ zu tun. Alle Statistiken zu Jugendengagement in Freiwilligendiensten, in Sportvereinen, Jugend- und Nachbarschaftszentren, Umweltgruppen oder bei der freiwilligen Feuerwehr widerlegen dieses Argument allerdings.

In letzter Zeit kam daher ein neues Argument auf: Junge Erwachsene müssten durch ein Dienstpflichtjahr aus ihrer sozialen „Blase“ herausgeholt werden, und diejenigen, denen die Eltern kein Freiwilligenjahr (mit)finanzieren könnten, sollten auch die Chance erhalten, zwischen Schule und Beruf interessante neue Erfahrungen zu machen. Dass die „Blase“ auch etwas mit einem Schulsystem zu tun hat, das in den meisten Bundesländern bereits Zehnjährige in verschiedene Schultypen auseinandersortiert, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die schlechte Bezahlung der Freiwilligen.

Der gemeinsame Nenner all dieser Argumentationslinien ist etwas versteckt, aber doch identifizierbar: Junge Erwachsene sollen durch einen Pflichtdienst über die Schulpflicht hinaus staatlichen Regeln und Vorgaben unterworfen werden, die wesentlich strenger sind als die Regeln, die für andere Erwachsene gelten, insbesondere in die Freiheit der Ausbildungs- und Berufswahl eingreifen und zumindest teilweise auch in die Freiheit, seinen Wohnsitz selber zu bestimmen. Zusätzlich muss ein Pflichtdienst mit entsprechenden Zwangsmaßnahmen verbunden sein. Damit würden die mit dem Wehr- und Zivildienst verbundenen Zwangsmaßnahmen wieder aufleben – diesmal aber für praktisch alle jungen Erwachsenen eines Jahrgangs und nicht nur für die wehrdiensttauglich gemusterten Männer. Solange die Bundeswehr nicht wieder durch zahlreiche Wehrpflichtige drastisch auf Kalte-Kriegs-Stärke aufgestockt wird, ist das noch keine direkte Militarisierung der Jugend, aber doch eine indirekte, weil sie zu einer Gewöhnung an staatlichen Zwang führt. Und diese Gewöhnung ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung für eine echte Militarisierung.

Die Kosten eines Pflichtdienstes für alle jungen Erwachsenen dürften locker einen zweistelligen Milliardenbetrag erreichen – pro Jahr. Es müsste ja wieder eine Erfassungs- und Musterungsbürokratie aufgebaut und finanziert werden, mitsamt Disziplinarverfahren für Verletzungen der Dienstpflicht, und es müssten Einsatzplätze für alle geschaffen werden – auch für die, die keine Motivation für ein ehrenamtliches Engagement aufweisen. Die Einarbeitung von Pflichtdienstleistenden kostet Zeit und bindet Ressourcen der Hauptamtlichen, so dass sich ein Pflichtdienst auch nicht durch die Arbeitsleistung der Pflichtdienstleistenden selber gegenfinanzieren kann.

Wenig bedacht wird in der öffentlichen Diskussion, dass nicht nur Artikel 12 GG geändert werden müsste, sondern auch mehrere internationale Abkommen oder Verträge gekündigt oder offen verletzt werden müssten. Dazu gehören das ILO-Übereinkommen 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit von 1957 und die Charta der Grundrechte der EU, deren Artikel 5 (2) unmissverständlich formuliert: „Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.“

Wer wirklich das gesellschaftliche Engagement von jungen Erwachsenen, auch über soziale „Blasen“ hinaus, fördern möchte, kann das mit einer Aufwertung und Ausweitung der Freiwilligendienste völkerrechts- und grundgesetzkonform und mit überschaubaren Zusatzkosten bewirken. Entscheidende Maßnahmen wären das Schaffen von mehr Plätzen, eine Aufstockung der Bezahlung und gezielte Ermutigungsprogramme für junge Menschen, die nicht aus der bürgerlichen Mittelschicht stammen.

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