Kommentar zum BGH-Urteil

Die Rechnung darf nicht aufgehen

von Werner Rätz

Genau genommen kam es nicht überraschend, daß der Bundesgerichtshof meint, es sei Gewalt, wenn Menschen sich vor Kasernentore setzen, um damit Zeichen zu setzen. In den letzten 10 Jahren sind aus Schutz(!)helmen Waffen und aus dem übers-Gesicht-ziehen eines Halstuches eine Straftat geworden. Wie sollte da eine "Nötigung" nicht verwerflich sein?

Auch wenn mensch von der formalen Seite absieht und den materiellen Gehalt der Tat betrachtet, kann sich kein Erstaunen einstellen: Wenn es richtig ist, daß die Bundesrepublik ein demokratischer Rechtsstaat ist, wenn es stimmt, daß die Bundesregierung im NATO-Bündnis lediglich "Verteidigungspolitik" betreibt, wenn es zutrifft, daß die Bundeswehr nur der Erhaltung des Friedens dient, wenn das so ist, dann kann moralisch und juristisch nur im Unrecht sein, wer etwas gegen diese Institutionen unternimmt.

überraschen muß da schon eher das Vertrauen, das Juristen und Politiker in die Menschen dieses. Landes setzen. Sie gehen offenbar davon aus, daß es keinen Aufschrei der Empörung auslösen wird, wenn sie mit Kanonen auf Spatzen schießen. Zwar stimmen in Umfragen immer noch Mehrheiten der Friedensbewegung zu. Zwar ist bei deren Aktiven Ziviler Ungehorsam als Aktionsform längst anerkannt (vielleicht, weil dieser mittlerweile allzu zivil und zahnlos geworden ist), aber die Rechnung wird aufgehen: es wird keine. Welle der Unterstützung, kein massenhaftes Anschwellen von ungehorsamen Aktionen geben.

Es gibt bisher nicht einmal eine breite Solidarität der Betroffenen mit anderen Opfern der staatlichen Kriminalisierungsstrategie, Das ist die eigentliche Überraschung: sogar noch angesichts allseitiger juristischer Repressalien funktioniert die Politik des "Teile und Herrsche":
Im April wurde das Urteil gegen den Bonner Buchhändler Harald K. rechtskräftig, nachdem er 8 Monate Gefängnis auf 3 Jahre Bewährung erhielt. Er soll die Zeitschrift "radikal" verkauft haben, was ihm im Prozeß aber nicht schlüßig nachgewiesen werden konnte. Das Verfahren fand direkt vor dem Oberlandesgericht statt, so daß eine Berufung ausgeschlossen war. Die Revision wurde vom BGH verworfen. Selbst wenn Harald K. die Zeitschrift verkauft hätte und selbst wenn sie strafbaren Inhalts gewesen wäre, wäre dieses Urteil eine Katastrophe für jedes kritische Denken in diesem Land. Sollte er eine Schrift verkaufen, die einen Blockadeaufruf enthält, könnte seine Bewährung aufgehoben werden!

Im Dezember vergangenen Jahres werden gleichzeitig über 30 Wohnungen und Arbeitsstellen von Menschen durchsucht, die sich u.a. gegen die Gentechnologie engagieren. Seither sind Ulla Penselin und Ingrid Strobl in UHaft. Ingrid soll einen Wecker gekauft haben, der bei einem Anschlag der RZ. Verwendung gefunden haben soll. Eine Tatbeteiligung wird ihr nicht vorgeworfen, es gibt. keine konkreten Anschuldigungen, wie der Wecker von ihr zu den Täterinnen gelangt sein soll. Gegen Ulla gibt es gar keine konkreten Tatvorwürfe. Trotzdem bleiben beide weiter im Gefängnis.

Diese drei Fälle können nicht über einen Kamm geschoren werden. Nicht nur 'das staatliche Handeln verfolgt unterschiedliche Ziele. Auch die Betroffenen haben verschiedene politische Selbstverständnisse, Vorstellungen von Widerstand und sicher auch Gesellschaftsentwürfe in ihren Köpfen.

Es kann nicht darum gehen, darüber an dieser Stelle zu urteilen. Aber es muß darum gehen, eine Situation zu schaffen, oder zu verteidigen, in der solche Verschiedenheiten möglich sind und sich politisch artikulieren können. Der staatliche Vorwurf der Nähe zum "Terrorismus" darf keine Verhältnisse schaffen, die von Abgrenzung und Distanzierung geprägt sind. Oder die Blockiererlnnen dürfen sich nicht wundern, wenn auch sie vom Rest alleingelassen würden.

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Werner Rätz ist aktiv bei der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und für diese im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, ebenfalls im Blockupy-Kokreis. Webseite: www.werner-raetz.de