Eine Welle der Kriegsdienstverweigerung angesichts einer rechtsextremen Regierung

KDV in Israel

von Oren Ziv

Die neue Regierung hat eine neue Generation von Jugendlichen dazu veranlasst, ihre künftige Rolle in einem der zentralen Grundpfeiler der israelischen Gesellschaft in Frage zu stellen.
Es dauerte nicht lange, bis die neue rechtsextreme Regierung ihre rassistischen, antidemokratischen Pläne ankündigte, insbesondere in Bezug auf die Palästinenser*innen und die liberal-säkulare israelisch-jüdische Öffentlichkeit. Was viele als „Albtraumregierung" bezeichnen, hat hochrangige Politiker*innen aus dem gegnerischen Lager dazu veranlasst, zu massenhaftem Zivilen Ungehorsam in Form von Protesten und der Verweigerung der Zusammenarbeit mit den religiösen Fundamentalist*innen aufzurufen, die dabei sind, das Land zu regieren.
An der Basis in Israel scheint eine seit langem marginale, aber öffentlichkeitswirksame, Form des Zivilen Ungehorsams größere Verbreitung zu finden: Die Verweigerung der Ableistung eines Militärdienstes in der israelischen Armee oder zumindest in den besetzten Gebieten. Die Tatsache, dass der Führer von Otzma Yehudit und voraussichtliche Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, und der Führer des religiösen Zionismus, Bezalel Smotrich, der weitreichende Befugnisse im Westjordanland erhalten soll, führende politische Persönlichkeiten im israelischen Sicherheits- und Militärapparat sein werden, überschreitet für viele israelische Jüd*innen eine rote Linie. Einige, so scheint es, fangen an, ihren instinktiven Widerstand gegen die Verweigerung des Militärdienstes zu überdenken.

„Seit der Wahl haben wir mehr Nachfragen“
Organisationen, die die Kriegsdienstverweigerung unterstützen, berichten bereits von einem Anstieg der Zahl der Israelis, die sich nach den Wahlen im letzten Monat an sie wenden, darunter auch Israelis der zionistischen Linken, die eine Verweigerung bisher nicht in Betracht gezogen haben. Mesarvot („Verweigerer"), eine der bekanntesten Organisationen zur Unterstützung von Kriegsdienstverweiger*innen, hat festgestellt, dass sich die Zahl der Israelis, die sich an die Organisation wenden - sowohl Jugendliche, die einberufen werden sollen, als auch deren Eltern - verdoppelt hat. Yesh Gvul, eine andere israelische Gruppe, die sich für die Verweigerung des Militärdienstes einsetzt, verzeichnete einen ähnlichen Anstieg.
„Seit der Wahl haben wir mehr Nachfragen", sagt Yasmin Eran Vardi, Koordinatorin bei Mesarvot. „Eine weitere Veränderung ist, dass sich normalerweise junge Menschen vor ihrem Einberufungstermin an uns wenden, aber jetzt melden sich auch viele Eltern bei uns. Sie sagen uns, dass ihre Kinder nicht wissen, was sie tun sollen, während die Eltern selbst sagen: ’Ich bin nicht bereit, dass sie unter dieser Regierung in die Armee gehen’..."
Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass die Armee eine Welle von Verweigerungen befürchtet, wie kürzlich die ungewöhnlich harte Bestrafung von vier Kriegsdienstverweiger*innen gezeigt hat. Seit September saßen sie vier Mal im Gefängnis, und letzte Woche wurden sie zu weiteren 45 Tagen verurteilt.
Noa Levy, eine Anwältin bei Mesarvot, die die vier vertritt, sagte [Anfang Dezember], dass das Militär die härteren Strafen für Kriegsdienstverweigerung zur Abschreckung verhängt. „Eine Person aus dem Sicherheitsapparat hat mir gegenüber angedeutet, dass eine Verweigerungswelle nach dem erwarteten Eintritt von Itamar Ben Gvir in die Regierung befürchtet wird", sagte sie. „Es gibt bereits vier Verweiger*innen im System, letzten Monat waren es zwei weitere, und für nächsten Monat erwarten wir, dass erneut zwei verweigern. Wir haben seit langem nicht mehr so viele Menschen gleichzeitig [im Gefängnis] sitzen sehen."
Ishai Menuchin, einer der Gründer von Yesh Gvul, einer Bewegung, die seit dem Libanonkrieg 1982 Kriegsdienstverweiger*innen unterstützt, ist ebenfalls der Meinung, dass Israel "an der Schwelle zu einer Verweigerungswelle steht“ und stellt einen Anstieg der Anfragen an seine Organisation fest: „Smotrich und Ben Gvir zeigen ihr wahres Gesicht, was bei den Menschen Ängste auslöst. Plötzlich wird klar, was von ihnen verlangt wird - eine annektierende, besetzende und repressive Kraft zu sein, und dass dies nicht nur vorübergehend gilt. In den letzten Wochen wurde das wahre Gesicht der Besatzung enthüllt, und das hilft den Menschen, die keine Radikalen sind, zu verstehen, dass dies so bleiben wird."
Menuchin wies darauf hin, dass die Verweigerung immer in Wellen erfolgte. „Es gab eine Welle während des ersten Libanonkriegs, als 160 von 1.500 Kriegsdienstverweiger*innen im Gefängnis saßen. Es gab eine Welle während der ersten Intifada, als 180 von schätzungsweise 2.000 Kriegsdienstverweiger*innen im Gefängnis saßen, mit denen sich die Armee nicht befassen wollte. In der zweiten Intifada wurden mit Ometz L’sarev (Mut zur Verweigerung) viele Dutzende von insgesamt Tausenden inhaftiert, die sich der Armee entledigen wollten."
Bei New Profile, einer Organisation, die seit 25 Jahren jungen Israelis hilft, die nicht dienen können oder wollen, haben die Mitarbeiter*innen beobachtet, dass Eltern und Jugendliche, die vor der Einberufung zur Armee stehen, die neue Regierung als Grund für ihre Entscheidung anführen. „Einige der Leute, die sich an uns wenden, sagen, sie hätten Angst, unter Smotrich und Ben Gvir in der Armee zu dienen. Sie haben Angst, dass die Regierung noch faschistischer wird, und einige [Eltern] haben sich sogar gefragt, ob sie das Land verlassen sollten, bevor ihre Kinder das Rekrutierungsalter erreichen", sagte Or, eine Koordinatorin der Gruppe, die ihren vollen Namen nicht nennen wollte.
Or fügte jedoch hinzu, dass sich sogar für die zionistischen Linken neue Fragen stellen, auch in den Jugendorganisationen, die bislang starken Druck ausübten, zur Armee zu gehen.

Aufruf eines Schuldirektors
[Am zweiten Dezemberwochenende schloss sich Ram Cohen, ein Gymnasialdirektor in Tel Aviv, der derzeit ein Sabbatjahr macht, den Aufrufen an junge Israelis an, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. In einem Facebook-Post8 schrieb er, dass es „gerechtfertigt ist, zu erklären, dass man der Besatzung nicht dienen wird, weil sie Produkt der messianischen, extremistischen, zerstörerischen, antidemokratischen Rechten ist. Es geht nicht darum, den Staat zu verteidigen, und man sollte uns nicht solche Märchen erzählen. Es geht um die Verteidigung eines messianischen Traums, an dem wir nicht beteiligt sind und mit dem wir nicht kollaborieren sollten. Ich rufe Eltern, deren Kinder kurz vor der Einberufung stehen, dazu auf, alles zu tun, damit [ihre Kinder] nicht in den Territorien dienen", so Cohen in seinem Beitrag weiter. „Ich rufe die Jugendlichen dazu auf, dort nicht zu dienen. Nehmt Euer Leben selbst in die Hand. Weigert euch, das gewalttätige politische Spiel mitzuspielen, das die Rechte uns und der gesamten Öffentlichkeit aufzwingt, denn es dient ihnen und sichert nicht nur ihre brutale Herrschaft über die Palästinenser*innen, sondern auch ihre nie endende Herrschaft über uns. Sie wollen uns zerstören und unser Leben verbittern. Sie werden eine Koalition mit Kriminellen, Angepassten und Faschisten bilden. Es ist an der Zeit, diese Herrschaft zu brechen. Wir werden nicht mitmachen, und wir fürchten uns nicht."
Zu seiner Entscheidung, öffentlich zur Verweigerung der Einberufung aufzurufen, sagte Cohen: „Als Mensch, als Pädagoge, als jemand, der seit Jahren Schüler*innen ausbildet und über die Pflicht zur Einberufung in die Armee spricht, denke ich, dass es richtig war, zu kommen und zu sagen: ’Es tut mir leid, ich glaube nicht, dass die derzeitige Realität den Dienst in den besetzten Gebieten rechtfertigt, Punkt.“
„Meine Aufgabe als Pädagoge ist es, den idiotischen Konsens zu durchbrechen, mit dem wir Palästinenser*innen als einen ewigen Feind betrachten und der es uns ermöglicht, das Geschehen zu verdrängen. In letzter Zeit hat der Terror des Staates Israel gegen die Palästinenser*innen zugenommen - Morde und gewalttätige Angriffe durch die Armee ohne jegliche Rechenschaftspflicht. Und mit der jetzigen Regierung werden wir noch mehr von ihnen töten."
Cohen hofft, dass sich andere Pädagog*innen seinem Aufruf anschließen werden. „Ich würde mir wünschen, dass sich andere Schulleiter*innen anschließen, mehr Erzieher*innen und Lehrer*innen, die [zumindest] kommen und sagen, dass wir dieses mörderische Verhalten in den besetzten Gebieten beenden müssen, auch wenn sie nicht zur Verweigerung [des Dienstes] in den Gebieten aufrufen werden."

Unterstützung der neuen Verweiger*innen
Die Kriegsdienstverweigerungsorganisationen bereiten sich nun auf die Arbeit mit den jungen Israelis vor, die sich an sie wenden. Eran Vardi von Mesarvot sagte, dass die Organisation neue Verweiger*innen unterstützen wird. Menuchim von Yesh Gvul sagte: „Die Armee will nicht, dass die Verweigerung zu einem politischen Thema wird. Wenn also eine Welle losbricht, werden sie versuchen, sie zu unterdrücken und die Strafen zu verschärfen, wie es bei den vier letzten Kriegsdienstverweiger*innen geschehen ist. Aber das wird nicht helfen."

Der Artikel wurde von Oren Ziv veröffentlicht im Magazin +972. Übersetzung: rf und fn, Connection e.V.. Der hier gekürzte Artikel in voller Länge einschließlich der Fußnoten: www.Connection-eV.org/article-3701. Das Original gibt es hier: Oren Ziv: Israel is on the cusp of a wave of army refusal under far right rule . 11. Dezember 2022. https://www.972mag.com/conscientious-objectors-far-right-israel/

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Friedensbewegung international