Rezension

Kirche unter den Soldaten

von Gregor Witt

Waffensegnende Geistliche gibt es heute nicht mehr. Wohl aber über 300 Seelsorger der Katholischen und Evangelischen Kirche, die als Bundesbeamte auf Zeit den Waffendienst rechtfertigen. Die Ev. Militär­seelsorge ist durch den anstehenden Zusammenschluß der Ev. Kirchen in Ost- und Westdeutschland wieder in die Diskussion gekommen.

Obwohl christliche Friedensgruppen Mitte der achtziger Jahre die Militär­seelsorge (MS) heftig kritisiert hatten, fand eine Reform damals keine Mehr­heit. Kritisiert wurde die MS wegen ih­rer staatlichen Einbindung, der Nichtaufnahme der in der Gesamtkirche erarbeiteten Abschreckungskritik und der mangelnden Kritikfähigkeit gegenüber dem Militär. Ähnliche Kritik kommt heute aus dem Bund der Ev. Kirchen der ehemaligen DDR. Er hat auf seiner Synode im September d.J. in Leipzig beschlossen, den Militärseel­sorgevertrag aus dem Jahre 1957 für das Gebiet seiner Landeskirchen nicht zu Übernehmen.

Der Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) regelt die Grundla­gen der Seelsorge für Soldaten: da· die Geistlichen Bundesbeamte auf Zeit werden, da· für sie eine eigene dienst­rechtliche Hierarchie geschaffen wird mit dem Ev. Kirchenamt für die Bun­deswehr an der Spitze, da· der Staat alle Kosten der MS Übernimmt und anderes mehr. über die Entstehung, Entwick­lung und Probleme der Ev. Militärseel­sorge gibt es wenig brauchbare, kriti­sche Publikationen.

Diese Lücke hat jetzt Jens Müller-Kent mit seiner Dissertation geschlossen, die als Buch unter dem Titel "Militärseelsorge im Spannungsfeld zwischen kirchlichem Auftrag und militärischer Einbindung" erschienen ist. (Band 1 der Hamburger Theologischen Studien im Verlag Steinmann & Stein­mann, 456 Seiten, 56,- DM.) Sein Werk bekommt deshalb aktuelle Brisanz, weil Kritikern aus dem Kirchenbund von westlichen Befürwortern regelmäßig vorgeworfen wird, die Praxis der MS unzureichend zu kennen.  Müller-Kent hat für die Arbeit gründliche Archivstu­dien betrieben und Gespräche mit Be­troffenen und Beteiligten geführt, dar­unter auch ehemalige Militärpfarrer.

Bezugnehmend auf die Barmer Theolo­gische Erklärung von 1934, in deren Tradition sich die EKD gestellt hat, kommt Müller-Kent zu der Schlußfolge­rung: "Die Regelungen des Militärseel­sorgevertrages, insbesondere die Schaf­fung des Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr und der staatliche Beamtenstatus der Militärpfarrer, die zahlreichen formellen und informellen Bindungen der Geistlichen an das Militär sowie die damit einhergehende In­strumentalisierung der Religion für militärische Zwecke sind Indizien der Ge­fangenschaft der Kirche in den 'gottlosen Bindungen dieser Welt'."  Ähnliche, durch Müller-Kent ausführ­lich belegte Bedenken kommen aus dem Kirchenbund-Ost. 

Die jüngste Synode der EKD im No­vember in Travemünde hat beschlossen, daß es vorläufig in den alten und neuen Bundesländern unterschiedliche Rege­lungen der MS geben soll. In drei Jahren soll es dann eine Überprüfung des Mi­litärseelsorgevertrages geben. Ange­strebt wird dann eine einheitliche Re­gelung der MS in der ganzen Bundesre­publik. Unverkennbar ist, daß führende EKD-Vertreter - allen voran der Mili­tärbischof Binder - den Vertrag möglichst unverändert erhalten wollen. Den­noch haben Reformbemühungen Erfolgschancen wie noch nie. Für eine kriti­sche Auseinandersetzung mit der MS hat Müller-Kent eine übersichtlich ge­gliederte, faktenreiche und verständliche Grundlage geliefert. Sein Werk ist des­halb für friedenspolitisch engagierte Christen eine Fundgrube. Wie der Streit um die MS ausgeht, ist wegen der ideologischen Rechtfertigung von Ar­mee und Soldatendienst durch die Kir­che für alle Friedensbewegte von Be­deutung. Deshalb lohnt es sich auch für Nicht-Christen, das Buch aufmerksam zu lesen.

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