„Krieg ohne Grenzen“ in Gaza

Menschenrechtsverbrechen in Gaza

von Johannes Zang
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Eine israelische Spezialeinheit tötet im Gazastreifen 15 humanitäre Mitarbeiter trotz klarer Markierung und verscharrt Leichname und Fahrzeuge.

Am 25. März 2003 lag eine Spezialeinheit der israelischen Armee hinter einer Mauer, gegenüber dem Shepherd´s Hotel in Bethlehem, Westjordanland. Als der Peugeot mit den mutmaßlichen Hamas-Kämpfern um die Ecke bog, eröffnete sie das Feuer. Die 12-jährige Christine Sa´adeh wurde schwer getroffen, ihr Vater hatte versucht, sie mit seinem Körper zu schützen. Von neun Kugeln verwundet, überlebte er schwerverletzt, doch das eigene Kind vermochte er nicht zu retten. Christine, eine christliche Palästinenserin, starb, für manche eine Märtyrerin; laut ihrem Vater das 400. Palästinensische Kind, das in der zweiten Intifada getötet wurde. (1) 

Fast auf den Tag genau 22 Jahre später lag wieder eine IDF-Einheit in einem Hinterhalt, 120 Kilometer weiter südwestlich im Gazastreifen, am 534. Tag des Krieges, den der israelische Genozid-Forscher Omer Bartov sich scheut, Krieg zu nennen. „Es ist eine falsche Bezeichnung, von einem Krieg zu sprechen. Die Hamas hat noch etwas Kontrolle über die Bevölkerung, auch durch die Durchsetzung von Exekutionen, aber sie hat keine wirkliche militärische Präsenz mehr. (…) Die IDF ist eine moderne Armee mit modernen Flugzeugen, Panzern und Kanonenbooten, die von den USA und Deutschland geliefert werden. Dies ist eine Besatzung durch die IDF, die darauf abzielt, Gaza zu übernehmen. Es wird natürlich Widerstand geben, aber es wird ein Guerillawiderstand sein.“ (2)

Die Sayeret Golani-Aufklärungseinheit der 14. Brigade der israelischen Armee IDF saß ab circa zwei Uhr in einem Hinterhalt im Tel al-Sultan-Viertel von Rafah. Der für 8 Uhr früh festgesetzte Evakuierungserlass sollte Hamas-Militante zur Flucht bewegen. Auf der benachbarten Straße war es Sanitätern, Ärzten, Feuerwehrleuten und Zivilist*innen erlaubt, sich auf dieser Straße zu bewegen. Als die IDF erstmals (3:57 Uhr) ein mutmaßliches „Hamas-Fahrzeug“ beschoss, starben zwei humanitäre Mitarbeiter; beim zweiten Beschuss um 5:06 Uhr wurden 12 Kollegen eines Krankenwagen-Feuerwehr-Konvois getötet und beim dritten Vorfall nahmen Soldaten ein UN-Fahrzeug ins Visier und töteten einen Menschen. Yaniv Kubovich, der darüber mehrfach für die links-liberale israelische Zeitung Ha´aretz berichtete, zitiert aus der Mitte April veröffentlichten Armee-eigenen Untersuchung. Da ist von „unmittelbarer, spürbarer Bedrohung“ der besagten Einheit die Rede, von „Missverständnissen“, „schlechter Sicht bei Nacht“ und „Fehleinschätzung.“ (3) Er schreibt aber auch, und dies in der Schlagzeile, dass Soldaten im Bericht gelogen hätten. Immerhin habe die Armee erstmals zugegeben, „dass Soldaten 15 Menschen getötet und einen Konvoi von Krankenwagen beschossen haben“.

Ein vom britischen The Guardian veröffentlichtes, frei zugängliches 75-Sekunden-Video zeigt klar: Die Krankenwagen waren als solche zu erkennen und fuhren mit Blau- und Rotlicht durch die Nacht. Als der Konvoi auf der Suche nach vermissten Helfern ein Rettungsfahrzeug (Opfer des ersten Beschusses) links von der Straße erspäht, hält er an. Ein Mann erklärt: „Es scheint ein Unfall gewesen zu sein.“ „Das ist der Wagen, oh Gott, ich hoffe, es geht ihnen gut“, ist zu hören. „Da liegen sie, schnell.“ Männer steigen aus, drei von ihnen tragen rote Einsatzuniform mit Reflexionsstreifen. Wenige Sekunden später setzt ein Kugelhagel ein. Laut Ha´aretz schießen die Soldaten dreieinhalb Minuten auf die Rettungskräfte, ja, laden noch einmal nach – obwohl nicht zurückgeschossen wird, obwohl die unter Beschuss Geratenen sich zu identifizieren suchen, obwohl sie schreien. Als dann ein beleuchtetes UN-Fahrzeug mit einem UNRWA-Mitarbeiter am Tatort ankommt, wird dieser auch erschossen, im Fahrzeug. 

Dann verscharrt besagte Armee-Einheit Fahrzeuge samt Leichnamen. Erst vier Tage später erlaubt die IDF UN-Mitarbeitern und Rettungskräften den Zugang zum Tatort. Eine Woche nach der hinrichtungsgleichen Erschießung erklärte Jonathan Whittall, Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in Gaza: „Heute, am ersten Tag des Zuckerfestes, haben wir die vergrabenen Leichen von acht PRCS-, sechs Zivilschutz- und einem UN-Mitarbeiter geborgen. Sie wurden in ihren Uniformen getötet. Sie fuhren in deutlich gekennzeichneten Rettungsfahrzeugen. Sie trugen noch ihre Handschuhe. Sie waren unterwegs, um Leben zu retten. Das hätte nie passieren dürfen. Der Krieg in Gaza ist zu einem Krieg ohne Grenzen geworden.“ (4) Shir Hever, Geschäftsführer des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP), ein gebürtiger Israeli, informierte einen Monat später per E-Mail: „Bis jetzt ist niemand von ihnen verhaftet worden“; der Verfasser des wöchentlichen BIP-Blogs sieht auch „nur eine sehr kleine Chance, dass sie bestraft werden.“ (5) Christian Meier kommentierte in der FAZ so: „Das quälende Video, das nach der Erschießung von 15 Ersthelfern (…) gefunden wurde und die grauenhaften Details der verscharrten Leichen sollten Mahnung genug sein, dass die Realität dieses Krieges sehr oft nicht den offiziellen Verlautbarungen entspricht.“ (6) 

Anmerkungen
1. Interview mit dem Vater George Sa´adeh, geführt vom Autor, Bethlehem, 21.4.2025
2. „Es ist falsch, von einem Krieg zu sprechen“, Interview mit Omer Bartov, geführt von Elias Feroz, in: Jacobin, 14.4.2025, siehe https://jacobin.de/artikel/omer-bartov-gaza-israel-genozid-holocaust
3. Yaniv Kubovich: IDF: Soldiers shot aid workers, some lied in report. Haaretz (engl. Ausgabe), 21.4.2025, S. 1f. , siehe auch vom selben Autor: Soldiers fired on Gaza aid workers for over 3 minutes, Haaretz, 24.4.2025
4. Zitiert im Rundbrief der Paläst. Vertretung Wien vom 8.4.25: A23/2025: Israelische Armee exekutiert 15-köpfiges palästinensisches Rettungsteam, siehe www.palestinemission.at
5. E-Mail an BIP-Mitglieder, 23.4.2025
6. Christian Meier/FAZ: Eine tödliche Veranstaltung. Von wegen gerechter Krieg: Das Vorgehen der Armee in Gaza dient nur noch den politischen und ideologischen Bedürfnissen Netanjahus und seiner Koalition. 25.4.2025

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Krisen und Kriege
Johannes Zang (Jg. 1964) hat insgesamt fast 10 Jahre in Israel und den Besetzten Gebieten gelebt. Er arbeitet als Pilgerführer im Heiligen Land, freier Referent und Journalist und lebt bei Aschaffenburg. Aktuelles Buch: Begegnungen mit Christen im Heiligen Land, Echter, Würzburg.